Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Albrecht Ostermann

Fragment

(1900/01)

Am 17. September, abends um neun Uhr, stand Herr Albrecht Ostermann etwas steif vom Tische auf (man hatte eben Abendbrot gegessen), und erklärte seiner Frau: »Ich möchte gern noch etwas spazieren gehn . . .«

Frau Klementine wartete eben darauf, daß ihr Gemahl beginnen würde, ihr aus der Abendzeitung vorzulesen, was täglich um diese Stunde geschah. Aber Herr Ostermann wiederholte: »Ja, wirklich ein wenig möchte ich noch ausgehn . . .«

Das war in den sechzehn oder siebzehn Jahren ihrer Ehe noch nie geschehen. Trotzdem sagte Frau Klementine nur: »Aber Albrecht . . .« denn sie widersprach niemals seinen Absichten.

Und als er den Überzieher wieder anzog, fuhr sie fort: »Du bist ja kaum aus dem Caféhaus nachhause gekommen . . .«

»Ja, trotzdem, liebe Klementine, im Caféhaus hab ich eben gesessen. Und, siehst du, ich möchte noch ein wenig Bewegung machen, sonst kann ich wieder nicht einschlafen.« Dagegen war nichts einzuwenden, als höchstens: »Das hast du aber noch niemals getan, Albrecht . . .«

»Ganz recht, liebe Klementine, ich habe es noch niemals getan. Aber ist damit gesagt, daß ich es nie tun soll? Es ist mir so die Idee gekommen, die Lust, ganz spontan. Warum soll ich ihr nicht nachgeben? Weshalb nicht einmal eine kleine Ausnahme? Ich gehe ein wenig in die Allee. Dort ist es jetzt leer und wohl auch schon etwas kühler. Adieu, liebe Klementine.« Er hielt ihr seine linke Wange hin, die sie fast gewohnheitsgemäß mit ihren feuchten, vollen Lippen berührte.

In der Tür wandte er sich noch einmal zurück. »Und warte nicht auf mich mit dem Schlafengehen, damit du nicht aus der Ordnung kommst. Ich bin ein Störefried, ein Ausreißer, und du sollst nicht durch meine Unart incommodiert sein –« scherzte er und lächelte, was seinem schmalen, frühgealterten Gesicht schwerfiel. Dann trat er nochmals an den Tisch heran, empfing, ganz wie früher, den befeuchteten Kuß auf die linke Wange und verneigte sich unbeholfen, vor seiner behäbigen Frau. Daß er diese Abschiedszeremonie wiederholte, will nichts besagen. Er hatte sich in seiner Ehe eine Umständlichkeit angewöhnt, die er für ehelichen Anstand hielt und mit peinlicher Pünktlichkeit ausübte. Vor einem Gang von einer halben Stunde verabschiedete er sich oft fünf bis sechs Mal; denn erst jenem Lebewohl, hinter dem er wirklich verschwand, schrieb er volle Gültigkeit zu.

Auf der Treppe fühlte er plötzlich, daß er noch eine größere Summe Geldes – etwa 900 Mark – bei sich trage, die heute fällig geworden waren. Und schon wollte er dieses Geld zurückbringen, als ihm einfiel, daß er, erst wieder im Zimmer und bei seiner Frau, überhaupt nichtmehr ausgehen würde, aus Unentschlossenheit, aus Bequemlichkeit oder aus sonst welchen naheliegenden Gründen. Und ausgegangen sollte doch nun mal werden. Es war schließlich nicht weiter gefährlich eine halbe Stunde mit diesem Gelde in der Allee spazieren zu gehen. So trat Herr Ostermann aus dem Hause.

Vom Fenster aus sah seine Frau ihm nach, wie er leicht, mit dem Stock spielend, die dämmernde Häuserreihe entlang ging und in eine Seitengasse einbog, die zur ›Allee‹ führte. Sie war ein wenig beunruhigt. Albrecht, der doch nie etwas ohne sie unternahm, hatte sich so unerwartet zu diesem Gang entschlossen, der nicht genügend motiviert schien. Trotzdem hatte die Dame kein Mißtrauen. Sie wußte, daß ihr Mann der beste und ehrlichste Mensch ihr gegenüber war und seit Jahren nur eine Leidenschaft hatte: ihre Ehe blank zu erhalten wie einen Metallspiegel, darin zwar keine Konturen der Dinge sich abzeichneten, aber in dessen fleckenloser Fläche immer blendend das Abbild der Sonne blieb. Nur im Anfang dieser Verbindung hatte es Unklarheiten gegeben, als man sich mit der Hoffnung trug, Kinder zu bekommen, und es in der Wohnung beständig das eine überzählige Zimmer gab: still und von einer Leerheit, nichtzusagen. Nach einigen Wartejahren hatte Frau Klementine sich dort ein geräumiges Badezimmer eingerichtet, in welchem das Ehepaar seither abwechselnd die Wohltaten des Bades genoß, ohne sich der früheren Bestimmung des Raumes zu erinnern.

Man hatte sich damals einem erfahrenen Arzte anvertraut, und Frau Klementine hatte ihm gedemütigt von ihrer Kinderlosigkeit erzählt und auf seinen Rat zuerst einige Bäder besucht, die keinen Erfolg herbeiführten. Aber unversehens wandte der Arzt seine Aufmerksamkeit Herrn Ostermann zu, und erklärte der erstaunten Frau endlich, daß er es sei, welcher keine Kinder bekommen könne. Er machte Herrn Ostermann die gleiche Mitteilung, und ahnte kaum, wie sehr er diesen damit erschreckte. Aber für Herrn Albrechts schamvolle Betrübnis erwuchs ein Trost. Jetzt erhob sich Frau Klementine zu üppiger Reife und, indem sie nun mit gutem Gewissen alle Säfte ihres ungesegneten Leibes für sich selbst verbrauchte, entwickelte sich bei ihr Fülle und Form und ein Überfluß, welchen ihr Gemahl in fast sentimentaler Rührung, wie etwas völlig Unverdientes, genoß.

Da sie sich in dieser Lage nichts versagen mußte und in der ungewöhnlichen Badestube ihrem, in seinem Stolze ungekränkten Körper alle möglichen Wohltaten zuwandte, ließ sie ihren Mann seinen Mangel niemals fühlen; sie wußte, im Gegenteil, indem sie ihren Reizen zu sprechen erlaubte, seine eingeschüchterten Sinne stets wach zu erhalten, so daß die gefährdete Ehe ihre Farbe nicht nur nicht verlor, sondern sogar von Verliebtheit zu Verliebtheit reicher und ruhiger zu werden schien. Für Herrn Ostermann hatte diese Klugheit seiner Frau eine moralische Bedeutung. Er verurteilte sein Jugendleben mit seinen, wie er meinte, unerhörten Ausschweifungen, und hielt manchmal, wie um sich zu ermutigen, die weiße, fleckenlose Form seiner Ehe vor diesen vorehelichen, trüben Hintergrund, in welchem die vier oder fünf Verirrungen seiner ersten Mannheit sich, verworren wie Traumbilder, verschlangen. Und er fühlte sich bereits so geläutert, daß er, sooft Hans und Arthur, zwei jugendliche Neffen seiner Frau, zu Besuch waren, mit selbstzufriedenem Gesicht wiederholte: »Liebe Kinder, ihr seid in einem sehr gefährlichen Alter. Versuchungen treten allenthalben an eure ahnungslose Reife heran, ich meine die sogenannte Liebe. Denn das, was wirklich so heißt, kann man erst in der Ehe kennen lernen. Die Gefühle aber und die Beziehungen, welche fälschlich diesen hohen Namen tragen, möchte man, mit dem Dichter, treffend jenen Wiesen vergleichen, die voll prächtiger Blumen stehen, aber nicht auf fester und gesunder Erde, sondern auf schwarzem, schwankendem Wasser liegen, auf bodenlosem Sumpf, der jeden lautlos verschluckt, wenn er gierig nach einer Blume greift.« Herr Albrecht Ostermann glaubte diesen schönen Schluß einmal, vor langer Zeit, in einem unbekannten Buche gelesen zu haben; darum sprach er ihn niemals aus, ohne zu bemerken: ». . . mit dem Dichter . . .«. Denn er war weit entfernt die Worte irgend eines auserwählten Geistes, als ob es eigene wären, zu gebrauchen.

Sobald Herr Ostermann an der Ecke verschwunden war, stellte Frau Klementine im Vorzimmer ein Licht und Zündhölzer zurecht und bereitete für ihren Gemahl die Hausschuhe und verschiedene Kleinigkeiten vor, die seiner täglichen Gewöhnung entsprachen. Dann zog sie sich, nachdem alle Lampen in den anderen Zimmern sorgfältig gelöscht worden waren, in das gemeinsame Schlafzimmer zurück; denn sie war eine Freundin von frühem Schlafengehen, da sie darin einen Grund ihres körperlichen Behagens sah. Eine Stunde lang wartete sie im Bette und horchte auf entfernte Geräusche. Dann schlief sie ein, von der Wärme der Nacht bewältigt. Sie wußte, Albrecht würde sie auf irgend eine angenehme Weise aufwecken, wenn er, längstens in einer halben Stunde, zurückkommt.

Herr Albrecht Ostermann kehrte aber nicht zurück, weder in einer halben Stunde, noch in dieser Nacht, noch sonst irgendwann.

Die Gerichte forschten umsonst nach dem Verschollenen und sein Verschwinden blieb unaufgeklärt.

Indessen trug sich Alles sehr einfach, nur etwas unerwartet zu:

*

Am 17. September, abends ein Viertel nach neun Uhr, wurde ein Herr mittleren Alters, der allein in der ›Allee‹ sich erging, von einem Frauenzimmer angesprochen. Erst spazierte er unbekümmert weiter, das Frauenzimmer immer neben ihm. Plötzlich blieb er stehn und machte auf irgend eine Nachricht hin: »Wieso?« Seine Begleiterin war schlank, bedeutend kleiner als er, und er mußte den Kopf etwas neigen, um ihr Gesicht, das in krausen blonden Haaren stak, genau zu sehen. Denn darum handelte es sich vor allem. Und gerade unter der Laterne nickte das Frauenzimmer, in seine Augen: »Ja, ja, – – – ich bin die Kathi!«

»Welche Kathi?«

»Die, was bei Ihrer Frau Tante im Dienst war, damals als Sie hin auf Urlaub kamen, – zur Tante . . .«

»Urlaub? –« Der Herr lebte längst vollkommen unabhängig, und so hatte dieses Wort etwas Befremdliches für ihn. »Wann sollte denn das gewesen sein?«

»Oh – das werden jetzt so an die zweiundzwanzig Jahre sein. Der Herr war ja damals ganz jung, in Liebenau, bei der Frau Tante Albot.«

Der Herr blieb stehen. »In Liebenau. . . .« Und es fällt ihm verschiedenes ein; die Tante Albot, eine taube, mürrische alte Frau mit einer schiefen Spitzenhaube, von der er später eine rosarote Hängeampel, einen Lehnstuhl, auf dem man wegen seiner Gebrechlichkeit nicht sitzen durfte, und den Rafael Morghenschen Stich des ›Abendmahls‹ geerbt hatte. Und bei Abendmahl fällt ihm Nachtmahl ein und bei Nachtmahl eine Küche, die gerade neben seiner Stube lag, sehr fern von den Zimmern der Tante, – und er sagt auf einmal, seufzend:

»Jaja, Kathi!«

»No also endlich!« – lacht es neben ihm. »Jetzt wissen Sie's doch noch?«

Nach einer Pause sagt der Herr: »Ja, sehen Sie, das war so . . . in der Jugend. . . . Es geht Ihnen doch gut, Fräulein Kathi?«

»Ach ja, Fräulein!« macht sie spöttisch. »Deshalb komm ich ja grad, weils mir nicht gut geht . . .«

»Nicht gut?«

»Nein. Beinah achtzehn Jahr hab ich mich allein mit dem Kind durchgeschlagen, aber jetzt wo's groß ist, brauchts halt garsoviel . . .«

»Ein Kind? Also verheiratet?«

Die Kathi antwortet nur beiläufig: »Ja, ich fahr heute wieder zurück, wir sind in Birkfelde. Zwei Stunden von hier mit der Bahn.«

»Und hier in der Stadt haben Sie – Geschäfte gehabt?«

»Geschäfte!« lacht die Blonde ihn an. »Das ist wirklich gut. Geschäfte! Ein Geschäft mit dem Herrn hätt ich eben nur . . .«

Der Herr mittleren Alters läßt sich durchaus nicht überrumpeln. Er lächelt: »Liebe Kathi, wenn Sie wirklich zu mir gekommen sind, will ich Ihnen ganz gern mit einer Kleinigkeit nach meinen Kräften aushelfen . . .«

»Ja, es ist eben so ein Elend . . .«

»Jaja. Und es geht Ihnen schon lange so . . . so schlecht . . . sagten Sie? –«

»Eigentlich seit Ihre Tante, Frau Albot, mich fortgejagt hat . . .« –

»Fortgejagt, . . . wann war denn das, Fräulein Kathi, . . .«

»Gleich nachdem Sie damals wieder aus Liebenau abfuhren, sechs Wochen drauf. . . . wegen dem Kind. . . . Sie können sich schon denken von wem.«

Der Herr denkt ernsthaft nach. »Nein, sehen Sie, – ich weiß mich nicht zu erinnern, wer damals könnte in diesem Liebenau . . . Es kam kein Mann ins Haus. . . . Die gute Tante. . . . erlaubte doch nicht einmal, daß der Kohlenmann oder der Milchausträger . . .«

»Wenn der Herr aber nur nachdenken möchte.«

Der Herr versucht es wirklich.

»Na, wirds der Herr wohl selber g'wesen sein.«

Eine Weile sieht der so Angesprochene verständnislos vor sich hin. Dann aber lacht er ganz ungezwungen und arglos:

»Ja, ja, Kathi, vielleicht.«

»Aber ganz ernsthaft, weiß der Herr vielleicht nicht. . . .«

»Was denn . . .«

»Daß er bei mir in der Küche war? . . .«

»Jaja, . . . ich sagte schon, in der Jugend, da kommt es ja wohl vor.«

»Daß man einem armen – Mädel ein Kind macht. Hn?«

Der Herr hört auf zu lachen und sagt ruhig: »Nein, nein, Kathi . . .«

»Also war der Herr vielleicht nicht? . . .« fährt die Blonde zornig auf.

»Doch, doch, leider Gottes, ja. Aber trotzdem. Es kann gar keine Folgen gehabt haben, nicht im geringsten. Das ist sozusagen ausgeschlossen. Ich will Ihnen sagen, Fräulein, der Doktor hat mir erklärt, daß es ganz unmöglich ist, daß ich jemals ein Kind . . .«

»Wann hat Ihnen der Doktor . . .«


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