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Sie hatte gar Niemanden auf der Welt, die kleine Antje. Es war ein Waisenkind. Die Dorfgemeinde mußte für ihre Erziehung sorgen. Erziehung?
Nun, dafür, daß sie die Schule besuchte. Sonst kümmerte sich Niemand um sie. Der Bauer im roten Hof gab ihr's Essen. Aus Erbarmen. Kam sie nicht zur Zeit – auch gut, dann hatten die Knechte um einen Bissen mehr. War ihnen so ein Dorn im Aug' diese kleine Betteldirn. Selbst wegen dieses einen Bissens.
Auch mit der Schule ging's nicht. Sie hätt' schon Manches gewußt, wenn der Lehrer fragte; aber wenn sie's hatte sagen wollen, so lachten die Andern, dann begann sie zu weinen und die Andern lachten noch mehr. Zuletzt ging sie gar nimmer hin. Niemand vermißte die Kleine.
Nun lief sie wohl den ganzen Tag träge umher? Nicht doch. Schon früh saß sie draußen am Rain des Mohnfeldes und strickte.
Ja, das hatte sie das Mütterchen noch gelehrt. Das arme gute Mütterchen! Langsam ging's freilich vorwärts mit den langen spitzen Nadeln und den kleinen, ungeschickten Fingerchen. Aber es ging doch. Und allein war sie auch nicht.
Rund um sie herum am Rande des Grabens saß ein ganzer Hofstaat. Lauter Püppchen – aus Mohnblumen gemacht. Größere und kleinere. Lichtrote und dunkle. Die schönste von ihnen war die Königin. Die thronte auf einem kleinen körnigen Stein, der in der Sonne glänzte und glitzerte wie lauter Gold.
Und da gab's in diesem vornehmen Kreise mancherlei Kurzweil. Antje saß ganz ernsthaft da und erzählte der Königin Geschichten. O, sie wußte auch welche. Vom Sneewittchen, von Zwergen und Riesen, Geistern und Kobolden. Die Königin hörte, und ihre roten Hofdamen nickten hin und her mit den Köpfen.
Wenn sie genug erzählt hatte, dann mußten die Püppchen alle mit einander tanzen. Immer zwei und zwei. Nur die Königin blieb sitzen und sah dem Reigen zu. Dann setzten sie sich wieder alle hin, der ganze Hofstaat. Die Königin aber war sehr streng. Wenn eine von den Hoffräuleins umfiel, dann gab's keine Gnade, dann mußte sie sterben. Dann nahm Klein-Antje die Verurteilte zu sich und durchbohrte ihr den schönen roten Leib mit der Stricknadel – ganz – ganz . . .
Heute strickte Klein-Antje fleißiger denn je. Als sie von der Arbeit aufblickte, gewahrte sie, daß die Hofdamen alt und sogar die Königin schon ganz welk waren. Freilich, sie saßen nun den ganzen Tag da, und die Sonne hatte gar so sehr gebrannt. Jetzt lehnte sie schon als glutrote Kugel auf den blauen Bergen.
Schwere flimmernde Abendstille lastete über dem Mohnfeld. Die Luft war ruhig, so ruhig, daß man Antjes Herz hätte schlagen hören müssen – wenn es nicht ein gar so kleines Herz gewesen wäre, das gar leise schlug.
Antje wollte noch nicht heim. Hier war es ja viel schöner, als dort bei der fremden Bäuerin unter'm niedern Dach, wo es immer Schläge gab. Und sie fürchtete sich so vor Schlägen. Mutter hatte sie nie geschlagen, nie.
Tränen traten der Kleinen in die Augen. Sie fühlte sich auf einmal so verlassen auf der großen, weiten Welt. Über ihre blassen, zarten Wangen rollte es so heiß. Sie hatte nur – ihre Püppchen!
Ja, sie wollte sich neue holen – schöne frische. Sie wollte sie wieder vor sich setzen und Märchen erzählen. Sie weinte nicht mehr. Als sie die toten Hofdamen zusammenraffte, da huschte es sogar wie ein Lächeln um den Kindermund.
Den Strickstrumpf nahm sie auch mit in der linken Hand. In der rechten hielt sie den welken Mohn. So lief sie weit ins Feld hinein, dorthin, wo die schönsten, größten blühten.
»Das wird eine Königin!« jauchzte sie und bückte sich, um eine prächtige Blume zu brechen.
Da vernahm sie hinter sich rauhe Scheltworte. Der Bursche, der das Feld hütete, kam auf sie zu, einen tüchtigen Knüttel schwingend. Antje schrie auf, raffte sich empor und lief was sie konnte feldein. Hinter sich hörte sie die Tritte des Wächters immer näher.
Sie lief und lief. Ihre Wangen waren sehr rot. Sie keuchte vor Anstrengung und Furcht. In der Linken preßte sie noch immer krampfhaft den Strumpf, in der Rechten trug sie die Mohnblumen.
Jetzt war der Bursche ganz nahe.
Sie nahm alle Kräfte zusammen. Sie drückte die Arme gegen die Brust . . . Da strauchelte sie über eine Erdscholle. – Sie fiel. – Ein Schrei.
Dann blieb sie ganz still liegen.
Mit einem Fluch beugte sich der Wächter über sie; rauh faßte er die Kleine am Arm und hob den Stock. – Aber plötzlich ließ er ihn sinken.
Da über die Blüten und über die Hand des Kindes träufelte etwas Rotes . . . er wandte den kleinen Körper um. Das Mädchen rührte sich nicht. Unter dem verwaschenen ärmlichen Schürzchen quoll Blut über die Brust.
Die Stricknadel war ins Herz gedrungen. Die blauen Kinderaugen waren offen. Um die Lippen lag noch der Zug von Furcht und Schrecken.
Klein-Antje war tot.
Die bunten Mohnblumen ringsum aber neigten sich über ihre arme Freundin und flüsterten leise im Abendhauch . . .