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Kind.

Begräbnis oder Hochzeit.

Weit drunten im Pfarrgarten, rechts vom Haus war der Haselnußgang mit seinem dunkeln, etwas feuchten Boden unter dem dichten, weichen, gleichsam samtenen Schattendach, der aus einem viereckigen Plateau endete. Der Haselnußgang führte ganz sanft den Hügel hinauf, aber von der andern Seite aus ragte dieser steil und ansehnlich über dem Steinmäuerchen auf, das ihn von der Wiese trennte.

Dahinter aber lag die weite Welt.

Das heißt, zuerst kam die Wiese gerade unter dem Hügel, – die Wiese, die wie ein wahres Blumenmärchen war. Aber weiterhin wogte und wallte es auf und ab in blauem Duft bis ins Unendliche, bis dahin, wo die Erde mit dem Himmel zusammenfloß.

Und da draußen war die weite Welt, die Welt, in die man hineinreiste, wenn man groß wurde, die Welt, woher alles kommen sollte – alles, alles.

Nirgends gab es einen Schatten, der mit dem des Haselnußgangs zu vergleichen gewesen wäre. Nicht einmal in der Kirche; da war der Schatten so sonderbar kalt, daß es einen fror. Der Schatten im Haselnußgang war warm in all seiner Kühle, weich und lind wie ein liebevolles Flüstern. Und wie ein Flüstern hatte er auch etwas Geheimnisvolles, man befand sich da immer in einer gewissen Spannung. Und wie still war er, und doch nicht leer! »Salomo sagt: Der Allmächtige wohnet im Schatten,« so begann Vater einmal eine Predigt, und da wußte man gleich, daß der Schatten im Haselnußgang damit gemeint sein mußte.

Auch über den Hügel fiel dieser Schatten, und da wurde er noch tiefer – bläulich dunkel unter den mütterlichen Kronen der beiden Kastanienbäume.

Aber draußen schien die helle Sonne auf die weite Welt.

Unerschöpflich reich kam man sich vor, wenn man auf dem Hügel stand und über das goldene Lichtmeer hinweg in die weite Welt hineinschaute. Die Lerchen sangen so fröhlich da draußen, man fühlte wohl, daß auch sie von all dem goldenen fröhlichen Sonnenschein ganz verdreht waren.

O es war herrlich auf der Wiese! Wenn man da in all den Blumen herumwatete, die einen anzulachen und mit den Vögeln um die Wette zu singen schienen. Herrlich, wenn einem die Sonnenwärme durch alle Glieder rieselte; aber der Haselnußgang mit seiner weichen Dämmerung war fast noch besser.

Und wie der Ton der Kirchenglocken, von dem Laubdach gedämpft, so sanft hereindrang!

Die Kirche mit den Glocken hoch droben im Turm und mit dem Kirchhof rings herum – der ganze Ernst – lag links vom Pfarrhaus und dem Garten, während die ganze Freude, der Haselnußgang und die Blumenwiese, rechts lagen. Und auf dieser Seite war auch das Storchennest auf dem Dach des Pfarrhauses, was auch nicht am wenigsten lustig war.

Die Kirchenglocken läuteten bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang; das wußte man damals schon, als man nur eine unklare Vorstellung davon hatte, daß die Stricke droben an den Dachluken in irgend einer geheimnisvollen Verbindung mit dem Auf- und Untergang der Sonne stehen mußten.

Die Glocken läuteten an allen Sonn- und Feiertagen zum Gottesdienst, und im Takt mit dem Glockenklang kamen dann die Menschen in bedächtigem Trab über den Hügel daher gefahren oder gegangen, und sie erfüllten die Kirche mit einem eigenen Geruch von eingepackt gewesenen Kleidern, ein Geruch, der einen später immer in eine gewisse feierliche Stimmung versetzte.

Bisweilen läuteten die Glocken auch im Lauf der Woche, an ganz gewöhnlichen Werktagen, und da hieß es dann entweder Begräbnis oder Hochzeit.

Es war, als ob das ganze Menschenleben in diesen beiden Dingen enthalten sei.

Hochzeit – das war so erfreulich. Man hörte es schon allein am Klang des Wortes, daß dies zum Haselnußgang und zur Blumenwiese gehörte, obgleich es in der Kirche vor sich ging.

Begräbnis – das war ein strenges Wort, und es gehörte nur zum Kirchhof. Dort wurden die toten Menschen in die Erde gelegt. Die toten Menschen kamen zwar in den Himmel hinauf, wenn sie gläubig gewesen waren, aber zuerst in die Erde gelegt wurden sie trotzdem. Es war so unbeschreiblich traurig, daß das notwendig sein sollte. Nein, der Kirchhof war ein Ort, mit dem man sich nie ganz aussöhnen konnte.

Vater dachte zwar nicht so. Als der fremde Pfarrer ankam, um Gebetsversammlungen zu halten, und er Vater und Mutter fragte, ob sie nicht auch ein Grab da draußen hätten, sagte Vater: »Doch, so reich sind wir allerdings. Ein Grab ist ja für die Kinder der Welt nur eine Erinnerung, für uns aber eine ewige Hoffnung.« Auf Mutters Gesicht lag aber trotzdem ein Schatten, so oft sie am Grab des Brüderchens Halt machte. Wäre man wirklich ärmer gewesen, wenn das Brüderchen am Leben geblieben wäre und man sein Grab nicht gehabt hätte?

Den Toten gab man Blumen mit; große, schwere Kränze aus allen Gartenblumen gebunden – aus den bunten Tulpen und Hyazinthen des Frühlings, den Rosen, Lilien und Jasminblüten des Sommers, bis zu den letzten blauroten erfrorenen Astern und Georginen des Herbstes. Sie alle mit einander waren Begräbnisblumen; sie waren ja wohl schön, aber sie hatten etwas Betrübtes an sich, wie wenn sie recht viel an tote Menschen dächten und niemals lachen könnten.

Die Blumen auf der Wiese dagegen, sie kamen nicht zum Begräbnis; man hatte es wenigstens nie gesehen. Das waren aber auch lauter Hochzeitsblumen, alle, alle! Man sah ja aus den ersten Blick, daß die kleinen blauen Glockenblumen auf dem Mäuerchen zur Hochzeit läuteten und bimmelten, und daß die weißen Gänseblümchen Brautjungfern waren. Wenn die Puppe auf dem Hügel Hochzeit feierte – und das tat sie so ziemlich an jedem schönen Sommertag – dann bekam sie auch immer einen Kranz von Gänseblümchen in ihr gelbes Haar, sowie den Tüllschleier von Mutters Staatshut.

Die fröhlichen Hochzeitsblumen hatte man eben gar zu gern. Im April kamen zuerst die dunkelblauen duftenden Veilchen und die goldgelben Butterblumen, die aus dem feuchten Rain an dem breiten Graben drunten vor dem Haselnußgang üppig hervorwucherten. Man machte sich dünn und geschmeidig wie ein Aal und drückte sich zwischen den schlanken Haselnußstämmchen hindurch, um den Frühling für Mutters kleine Blumenvase zu pflücken.

Allmählich breiteten sich dann die Blumen in hellen leuchtenden Farben über die ganze Wiese aus. O, man hatte sie viel lieber als die wehmütigen Begräbnisblumen im Garten – wenn man auch zugeben mußte, daß das nicht recht war.

Erstens weil man ja wohl einsah, daß die Blumen die gutherzigsten waren, die sich dazu verwenden ließen, die Toten in ihre dunkle Einsamkeit hinunter zu begleiten und ihre kahlen Gräber zu bedecken. Und zweitens hatte man so ein kleines unbehagliches Gefühl, daß es überhaupt tugendhafter und rechtschaffener wäre, wenn man Begräbnis der Hochzeit vorziehen würde.

Die Leute sprachen ja viel mehr vom lieben Gott, wenn Krankheit und Tod bei ihnen einkehrte, als wenn sie heirateten und glücklich waren. Selbst die allerungläubigsten konnten es nicht unterlassen, den lieben Gott in den Mund zu nehmen, wenn sie einen Todesfall anzumelden kamen. Deshalb dachte man ganz von selbst, der liebe Gott sei mit Begräbnis inniger verbunden als mit Hochzeit, und das erste sei ihm angenehmer als das zweite.

Aber trotzdem – die Wiese mit den Hochzeitsblumen war einem doch lieber!


Den Menschen gegenüber ging es einem eigentlich gerade so; allmählich teilte man sie in Gedanken auch in zwei Gruppen: in Begräbnismenschen und Hochzeitsmenschen.

Und wieder waren einem da die letzten lieber als die ersten, wenn man auch fühlte, daß die ersten vielleicht die besseren seien und daß man selbst wie diese sein sollte.

Man neigte überhaupt unbedingt zur Hochzeitsseite, aber man ging deswegen mit einem schlechten Gewissen umher.

Das heißt, nur eine Zeitlang, denn allmählich machte man eine Entdeckung, bei der einem ein geheimer Stein vom Herzen fiel.

Es gab nämlich einen Namen, den man sein ganzes Leben lang immer, immer gehört hatte; man konnte sich ebenso wenig erinnern, wann man ihn zum erstenmal gehört, als wann man erfahren hatte, daß Mutter Mutter heiße.

Mit diesem Namen begann der Tag, und mit diesem schloß er, gerade wie mit dem Läuten der Kirchenglocken, und dieser Name war mit allen Vorkommnissen des Tages verwoben, mit seinen Freuden und seinen Sorgen, wie der große Einschlag eines Gewebes, der alles zusammenhält.

Der Name gehörte zum Weihnachtsabend, wie die großen Sterne, die über dem Haselnußgang strahlten. Einer besonders war viel heller als die andern, und er stand gerade über der weißen Wiese, die deshalb die »Hirtenau« genannt wurde, ohne daß man gewußt hätte, warum und weshalb.

Der Name erstrahlte in den Lichtern auf dem großen wunderbaren Baum, er klang um einen her in all den herzerquickenden Weihnachtsliedern, und er tönte durch alle Sonntagsgottesdienste das ganze Jahr hindurch.

Solange man noch klein war, konnte man von Vaters langen Reden in der Kirche nichts verstehen, als gerade diesen Namen, der immer und immer wiederkehrte, und der in seinem sanften, reinen Klang eine so recht glaubwürdige Erklärung war für das Wort, das oft um einen her tönte: heilig, heilig, heilig! Ja, das mußte sein wie der Klang dieses Namens.

Aber allmählich wurde man größer – so groß, daß man gut folgen konnte. Da hatte man dann auch schon angefangen, zu lesen und zu lernen, und konnte selbst biblische Geschichte erzählen. Und da, da entdeckte man mit frohem Erstaunen und zu seiner unsäglichen Erleichterung, daß gerade der Name auf die Hochzeitsseite hinüber deutete, daß er zu der sonnigen Wiese mit all den frohen Blumen gehörte.

»Sehet die Lilien auf dem Felde an!« hieß es ja ausdrücklich. Nicht die Lilien im Garten, die hohen ernsten Grabesblumen, sondern die Lilien auf dem Felde, was ein schöner gemeinsamer Name für alle Gänseblümchen, Königskerzen, Schaumkräuter, Glockenblumen usw. war.

Die Hochzeitsblumen, sie bekamen den Vortritt, sie, die den Menschen ans Herz gelegt wurden.

Begräbnis dagegen – nein, da trat der Name als ein unerwarteter starker Zerstörer dazwischen und durchaus nicht wie ein Leidtragender.

Es wurde ein Jüngling hinausgetragen – irgend ein Mensch – der sollte begraben werden. Und der ganze Leichenzug mit den traurigen Gesichtern und dem dumpfigen Geruch in den Kleidern wurde auf dem Weg nach dem Kirchhof angehalten. Der Tote wurde erweckt und seiner Mutter zurückgegeben, anstatt der kalten Erde zugeteilt. Und ebenso war es bei mehreren andern gegangen.

Nein, dieser Name enthielt einen großen unbedingten Widerspruch gegen das ganze Begräbniswesen.

Die Hochzeit in »Kanaan« dagegen, oder wo sie gefeiert wurde – aber es war doch wohl in Kanaan, denn das war ja das gelobte Land, wo alles Gute daheim war – diese Hochzeit wurde nicht unterbrochen. O nein, die Leute bekamen noch viel Wein, als ihr eigener ausgegangen war, damit auch nicht ein Schatten auf die Freude falle.

Und an einer Stelle – man wußte nicht recht, wo es stand, aber Vater hatte es selbst vorgelesen – da wurden die Jünger geradezu »Hochzeitsleute« genannt. Das war ein sehr schöner Name. Es war doch wirklich viel schöner, wenn man »Hochzeitsleute« genannt wurde, als »Bekehrte« oder »Gläubige«.

Und das »Himmelreich«, das für einen dasselbe war wie der blaue Himmel droben, auch dann noch lange, lange, als man schon richtig Bescheid darüber wußte, das war Hochzeit und Hochzeit bis in alle Ewigkeit!

Da war es denn nicht so sehr verwunderlich, daß man »Huldfriede« den ganzen Sommer hindurch Hochzeit machen lassen konnte, wenn auch Vater sagte – mit einem Lächeln, das ein wenig spöttisch war: »Na, hat sie heute wieder Hochzeit?« Er hätte doch wissen können, daß man Hochzeit die ganze Ewigkeit hindurch feiern konnte.


Aber die Leute waren sonderbar! Es war gerade, als könnten sie den Zusammenhang zwischen der ganzen Seite mit der Hochzeit und den Wiesenblumen und dem einen Namen nicht sehen.

Einem selbst kam es doch vor, als habe man das alles noch viel lieber gewonnen, seit man den Zusammenhang entdeckt hatte.

Aber die Leute waren wirklich sonderbar. Niemals vergaß man jenen schrecklichen Sonntagnachmittag, wo Anders Madsen, der Zimmermann aus dem Dorf, auf die Wiese kam mit seiner ganzen »Menascherie«, wie Dorthe sagte, und womit sie seine acht bis neun Kinder meinte.

Er lagerte sich mit seiner Pfeife gerade unter dem Hügel und spuckte jeden Augenblick seinen braunen Speichel auf die weißesten der weißen Gänseblümchen, während sich die »Menascherie« in all den Blumen wälzte, sie mit der Wurzel herauszog und ihnen die Köpfe abriß.

Zitternd vor Empörung war man vom Hügel fortgelaufen, denn das konnte man nicht mitansehen. Und Anders Madsen war doch einer von den Gläubigen, denn er ging herum und fragte die andern, ob sie es auch seien. Wie war das nur möglich!

Gläubig sein, hatte Mutter einem erklärt – zu allererst, als man noch ganz klein war – das heiße so viel als gut sein: aber später, als man größer wurde, sagte sie, es sei so viel, als den einen großen Namen recht lieb zu haben, noch mehr als Vaters und Mutters!

Sehet die Lilien auf dem Felde an! Das Wort war ja wie eine weiße Hand, die sich ausstreckte und ganz behutsam nach den zarten grünen Stielen griff und die kleinen Kelche dem Lichte zuwendete, damit jedermann sehen könnte, wie schön sie sind, und niemand es wagen würde, ihnen ein Leid anzutun.

Und da sah nun Anders Madsen ganz ruhig zu, daß die »Menascherie« mit kleinen, plumpen, schwarzen Fäusten, die eben noch die unaufhörlich laufenden Nasen geputzt hatten, zwischen den Blumen herumhantierte und sie abriß.

Dann sollte man sich wenigstens nicht gläubig nennen.

Denn das war doch wohl nicht möglich, daß er dachte, es sei gottesfürchtiger, die Blumenzier zu zerstören und Begräbnis aufzuführen mit so wenig Freude als nur möglich.

Ja, es wäre allerdings schon möglich gewesen, denn man kannte ja viele – lauter Begräbnismenschen –, die den einen großen Namen nur in Verbindung mit der Kirchhofseite brachten.

Und sie hatten ja auch viele Bibelworte, die sie zur Begründung ihrer Ansicht anführen konnten, Worte, die traurig und streng klangen, wenn sie von einem Mund ausgesprochen wurden, der vor lauter Ernst lang und schief wurde. Worte, die man nicht kannte, weil Mutter sagte, man solle die zuerst lernen, die man am besten verstehen und sogleich lieben könne.

Wenn man heranwachse, werde man die andern schon noch lernen. Aber wenn das heißen sollte, daß man allmählich von der frohen Seite auf die traurige übergehen solle, dann wäre es gewiß besser, man bliebe immer ein Kind.

Aber nein, man wollte doch lieber heranwachsen, um »jung« zu werden und Hochzeit machen zu können. Aber dabei wollte man dann stehen bleiben; denn nur um alles nicht alt und hinfällig werden und eines schönen Tages mit Tod und Begräbnis endigen!


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