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Droben auf dem Hügel, die Hände im Schoß, den Blick auf die weite Welt gerichtet …
Nein, eher nach innen gerichtet – auf eine Zeit, die vorüber ist, die man nur noch in der Erinnerung hat. Die ganze Kindheit steht vor einem – zusammengedrängt, wie man sich ihrer erinnert, aufs Geratewohl tauchen die Bilder auf – und man läßt sie sich durch die Hände gleiten.
Jetzt ist sie zu Ende, und kann nun mit Lavendel und getrockneten Rosenblättern dazwischen eingepackt werden.
Bis jetzt hat sie gewährt, wenn man auch schon vor mehreren Monaten sechzehn Jahre alt geworden ist. Im Haselnußgang, auf der Wiese, in den Zimmern des Pfarrhauses ist man seinen Kinderschuhen nie entwachsen. In ihnen steckten die Füße noch, als man am letzten Sonntag im weißen Kleid als Vaters Konfirmandin am Altar kniete. Mutter sagte auch: »Sie wird immer meine kleine Else sein, mein eigenes süßes törichtes Elsenkind, wenn ich auch lange Röcke für sie nähen und sie wie ein Erwachsenes kleiden muß.«
Aber jetzt ist es vorbei, denn morgen ist Sonnabend, und da beginnt das Leben – die weite Welt.
Morgen wird das Elsenkind zu Onkel Rektors in die Stadt reisen, um ein Jahr bei ihnen zu bleiben und mit Henny und Mathilde Stunden zu nehmen, in Sprachen, Musik, Zeichnen und anderen »schwarzen Künsten«, wie Mutter sagt. Dort ist man erwachsen, gerade wie die Cousinen, nur erwachsen. Die Kinderschuhe bleiben daheim im Pfarrhaus. Und wenn man zurückkommt, dann passen sie einem nicht mehr, und das Leben, das dazu gehörte, kann nicht wieder von vorne angefangen werden.
Es ist merkwürdig, die ganze Kinderzeit hindurch hat man eigentlich immer nur auf etwas gewartet, hat sich droben auf dem Hügel nach etwas gesehnt. Und jetzt, wo das, wonach man sich gesehnt hat, da ist, wird einem ganz ängstlich zumut dabei. Aber das ist immer so, wenn etwas Neues beginnt.
Und dann soll man ja weit fort, fort von Mutter in erster und letzter Linie. Das kann einem schon die ganze Freude verderben.
Aber man weiß ja auch nicht, ob die Welt, die nun kommt, wirklich die weite Welt sein wird, und ob das Leben da draußen auch das richtige werden mag. Ob es anders sein wird, oder ob man sich eben auch immer wieder nach etwas sehnt, gerade wie in der Kindheit, weil es mit dem Leben so geht wie mit einer Aussicht: den Punkt in der weiten, weiten Ferne, wo Himmel und Erde ineinanderfließen, kann man nicht erreichen, man kann nur nach ihm ausschauen.
Ach! man ist schon im voraus mutlos und von all den fremden Tagen, die jetzt heranrücken, verschüchtert, gerade wie vor fremden Menschen.
Wenn man mit den andern jungen Leuten der Umgegend einen Ausflug gemacht hat, sagt Mutter immer: »Du gingst doch nicht zu viel allein?« Sie weiß wohl, daß ihr Elsenkind gar zu gern in ihren eigenen kleinen Haselnußgang hineinschlüpft, wie Mutter es nennt. Ja, denn man glaubt ja nicht, daß es für jemand unterhaltend sein könnte, wenn man mit ihm spricht, selbst wenn man denkt, man habe gar viele Gedanken, die man gerne aussprechen würde.
Aber wenn dann wirklich jemand mit einem sprechen will, wird es nur noch schlimmer, denn dann bringt man nichts heraus, sondern stottert nur kurze, nichtssagende Sätze, die einem selbst entleidet sind.
Was hat sich Mutter für Mühe gegeben, einen ein wenig mehr wie die andern zu machen. Wenn man dann aber eben nicht konnte und sie schließlich heftig geworden war, dann endigte es immer damit, daß sie ihr Elsenkind fast in den Armen erdrückte und sagte, die Else sei doch am allerherzigsten, wenn sie so hilflos und entsetzt aussehe – aber deshalb sei es doch manchmal recht verdrießlich, daß sie so sei.
Fritz sagt gewöhnlich: »Man kann ihr nicht widerstehen, wenn sie einen ansieht, als flehe sie um ihr Leben.« Aber da wird man ganz verlegen, denn man weiß doch, daß man ihn gar nicht so angesehen hat, wenn man auch findet, daß er schöner sei als alle andern, und rot wird, wenn er den Arm um einen legt. Aber amüsieren tut er sich doch viel mehr mit Henny und Mathilde und mit allen Töchtern des Bezirksarztes.
Julius dagegen schließt sich einem gern an. Er sagt: »Else ist eben schüchtern – deshalb müssen wir sie in Ruhe lassen.« Er spricht auch nicht gern viel, dann kann er seinen eigenen Gedanken nachhängen. Man geht in der Regel auch mit ihm, das ist sehr nett, aber nicht sehr lustig. Und man hat ein geheimes bebendes ausgelassenes Verlangen, so recht, recht lustig zu sein, ganz mitzumachen, ganz, ganz, bis man vor lauter Freude wirr und schwindlig geworden wäre. Aber das weiß Julius nicht, er denkt nur Gutes von einem.
Jetzt bereitet er sich auf das Examen vor; er ist angefochten gewesen und hat sich durchgekämpft und ist sehr ernst geworden, sieht auch noch spindeldürrer aus als vorher. Fritz ist als Verwalter seines Vaters zu Hause. Die gute Jägermeisterin ist vor zwei Jahren gestorben – an einer Operation, die geglückt war – und nun besorgt Fräulein Mörk das ganze große Hauswesen auf Skovholm.
Fräulein Mörk ist schon älter und trägt ein kleines Spitzenhäubchen, denn der Jägermeister sagt, mit einem jüngeren Fräulein ginge es gar nicht, wenn Fritz zu Hause sei. Fritz ist einer von denen, die immer Geschichten haben. Vater schüttelt den Kopf, und es ist ihm sehr unangenehm, daß Fritz so in der Nähe ist, denn die ganze Umgegend ist natürlich in ihn verliebt, auch der ernstere Teil. Ja, man weiß ja selbst, wie sehr Hansine dazu geneigt war.
Ach, das ist wahr, nun muß man ja von all dem fort! Man vergißt es immer wieder!
Vater ist bedenklich darüber, nicht so sehr, weil er seine erwachsene Tochter entbehren soll – Vater ist zu vernünftig, um sich nicht in dergleichen finden zu können – aber er meint, es sei doch eine eigene Sache, daß Else dann dem Einfluß der Heimat entrückt sei – wenn auch Mutter behauptet, der werde gewiß mit ihr reisen – und unter Menschen leben werde, die ein ganz anderes Leben führten, als was sie bisher gekannt habe.
Alle beide, Onkel Rektor und Tante Lulle, seien ja rechtschaffene und liebenswürdige Leute, meint Vater, und es sei wohl auch richtig, wenn Tante Lulle sich und die Ihrigen immer eine »christliche Familie« nenne. Aber christliche Menschen sind für Vater eine Abart von Christen, Menschen, deren Christentum von der Welt abgeschliffen und abgefeilt worden sei, wie die Steine am Strand von den Wogen, sodaß sie so ziemlich überall hineinpaßten. Eine Hilfe sei es da immerhin, daß Else Mutter immer alles schreiben und in allen Ferien nach Hause kommen werde.
– Ein leichter klirrender Ton kommt den Gang herauf, ein Schritt, den man gut kennt, nähert sich. »Ist das Elsenkind hier? Es ist Zeit zum Essen. Und nachher müssen wir vollends packen.«
Man schlingt die Arme um Mutters Hals. »Ich möchte lieber daheim bleiben.«
»Sprich nicht davon,« sagt Mutter und legt ihre Wange an die ihres Elsenkindes. »Sprich nicht davon. Wir zwei werden nie vernünftig, aber wir müssen so tun, als ob wir es wären. Und wenn das Elselein wieder heimkommt, und so klug und gelehrt geworden ist, daß Mutter als der reine Nichtskönner daneben steht, dann wird es doch ganz schön und lustig sein, nicht wahr?«
»Ja – ach nein.«
»Und jetzt freue ich mich so unendlich auf die Briefe von meinem Schatz. Wir haben uns ja noch nie so recht geschrieben – das wird ein Hochgenuß. Ich will jede Kleinigkeit wissen.«
»Du mußt auch alles schreiben, Mutter.«
»Natürlich, und wenn nichts passiert, dann dichte ich was. Und jedes von uns muß den ganz gleichen Kalender haben, in dem wir die Tage zählen, bis wir uns wiedersehen. Jeden Abend, ehe wir zu Bett gehen, wird einer ausgestrichen. Vergiß nicht, daß ein Kistchen Haselnüsse eingepackt wird, und die Dose mit Mutters Kuchen soll auch mit!«
»Und Heidekraut vom Hünengrab im Walde, Mutter, das hält so lange. Dann kann ich immerfort sagen: Das hab ich daheim gepflückt.«
Mutter schlingt die Arme um ihr Elsenkind, ach so innig und zärtlich! – und durch den Haselnußgang macht man seine letzten Kinderschritte, im Takt mit Mutters klingenden Ringelschnallenschuhen.