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Tod.

Üppige grüne Roggenfelder, Wälder mit glänzend braunen, zum Zerspringen geschwellten Knospenhüllen an den Zweigen, eine Wiese mit Schafen und zwei weißen Lämmern, Mühlen, weiße Wege – unbekannte Landhäuser, die allmählich bekannter werden, gleiten am Coupéfenster vorüber.

Das Herz klopft – klopft ihr, gerade wie bei ihrer Heimkehr an Weihnachten. Ach, aber damals meinte sie vor Freude ersticken zu müssen – jetzt liegt ihr eine erdrückende Last auf dem Herzen, die den Atem hemmt.

Vater steht auf dem Bahnsteig. Unbeweglich ernst – doch das ist er ja immer – – Aber doch nicht so wie jetzt, dieses Gefühl läßt sich nicht abweisen.

Mit einem Sprung ist sie neben ihm: »Wie geht es?«

»Es ist dasselbe. Ich soll ausrichten, du sollest dich nicht ängstigen.« Vater küßt sie auf die Stirne. »Meine liebe Else!«

Sie steigt in den Wagen und nickt Lars zu, der den Gruß so feierlich erwidert, daß sie gar nicht mehr nach ihm hinsehen kann.

»Warum habe ich nicht viel früher kommen dürfen? Warum nicht gleich? Ich hatte doch so sehr darum gebeten!«

»In den Tagen, wo sie sich nur ein wenig unwohl fühlte und selbst darüber lachte, war kein Grund da, dich kommen zu lassen. Und als sie sich legen mußte, wollte sie warten, bis es besser ginge – du solltest dich nur nicht zu sehr ängstigen.«

»Ist es eine richtige Entzündung – Lungenentzündung?«

»Ja. Sonst ist die Krankheit hier ganz erloschen. Gerade als sie mit allen andern fertig war, mußte sie sich selbst legen.«

Fertig mit den andern. Fertig mit den andern – wie kann Vater das nur sagen! Mutter wird nie fertig mit den andern, ehe sie – – – dann ist es doch klar, daß sie es noch nicht sein kann.

Der Wagen rasselt auf den Hof.

»Mutters Wohnzimmer ist für dich hergerichtet worden. Ich schlafe in deinem Zimmer oben, um gleich bei der Hand zu sein. Die Krankenpflegerin und die Mädchen wachen abwechslungsweise.«

Ach, daß man Mutter nicht um den Hals fliegen kann, gleich draußen auf den steinernen Stufen! Daß die Zimmer umgeräumt sind, daß man nicht in seinem eigenen Stübchen schlafen soll, das Hand in Hand mit dem Zimmer der Eltern liegt, wie Mutter immer sagte! Daß man auf Mutters blauem Sofa schlafen soll! Das ist alles so fremd, so verwirrend, so erkältend.

»Darf ich hinaufgehen, Vater?«

»Ja, aber ganz leise, und nur auf einen Augenblick. Sie hat starkes Fieber.«

Der Schatten, der auf den Gesichtern der andern liegt, geht von Mutters Bett aus. Mutter liegt da und hat gar nicht ihr eigenes gewohntes Gesicht. Aber nicht, weil es so fieberheiß ist, und weil ihr Haar so glatt und ihre Augen so müde aussehen. Vielleicht eher, weil sie nicht lächelt.

»Mutter, ich bin's! O, warum durfte ich nicht früher kommen? Liebe, liebe Mutter!«

Mutter nickt. »Meine kleine Else.«

»Bist du so krank, Mutter – so heiß?«

»Ja, Else – aber du brauchst dich nicht zu ängstigen.«

»Nein, denn es wird ja wieder besser werden. Mutter, lächelst du mir gar nicht zu?«

Mutter versucht zu lächeln. Aber die Anstrengung, die sie dabei machen muß, ist ein noch viel schmerzlicherer Anblick, als vorher der Ernst.

Else geht aus dem Zimmer; sie kann ihre Tränen kaum mehr zurückhatten, und will doch nicht weinen, denn es steht ja gar nicht so schlimm. Ach, jedes Zimmer, das sie betritt, jedes Ding, das sie berührt, oder von dem sie spricht, tut ihr weh. Das Silber- und Messinggeschirr ist nicht wie sonst blitzblank; jetzt hat man keine Zeit zum Blankreiben, und die Augen im Hause sind matt und überwacht. Nichts glänzt, solange Mutter krank ist.

Ach, und es wird schlimmer und schlimmer! Ja, immer schlimmer, als die kleine Else in den Garten hinausgeht und dort sieht, daß die Frühlingsblumen blühen und daß an den Haselnußbüschen lange gelbe Würstchen hängen, als plötzlich Veilchenduft vom Grabenrain zu ihr aufsteigt und sie entdeckt, daß der Storch gekommen ist.

Ja, es wird immer schlimmer, als sie mit Vater allein beim Essen sitzt und die Suppe herausschöpfen muß; aber noch schlimmer wird es, als sie sich in der Dämmerung ins Wohnzimmer hinein schleicht und dort ganz allein sitzt und den westlichen Himmel betrachtet, der zwischen den Purpurstreifen jene zarte grünlich klare Farbe hat, die Mutter so sehr liebt. –

Aber das schlimmste ist doch, daß sie Mutter gute Nacht sagen muß, ohne ihr einen Kuß geben zu dürfen, weil das liebe Gesicht so fieberheiß ist, und daß sie so weit weg von ihr schlafen soll. Mitten in der Nacht fährt sie auf und weckt Dorthe, die nebenan schläft, um sie zu fragen, wie es Mutter gehe.

Sie würde viel lieber wachen; aber Mutter selbst hat bestimmt, daß Else da liegen soll, wo sie bei Nacht nicht gestört werde, sondern ruhig schlafen könne. Denn das sei nicht gut in diesem Alter!

– – Ach, diese Tage und Nächte, die ineinander fließen, und doch immer ein und dasselbe sind: Angst, Angst! Fern vom Krankenzimmer hat man keinen Augenblick Ruhe – keine Ruhe, wenn man eiligst seinen kurzen täglichen Spaziergang abmacht – keine Ruhe, wenn man an seiner kleinen verzweifelten Häkelei sitzt, der einzigen Handarbeit, die man machen kann, weil man dabei nichts zu denken braucht – aber auch keine Ruhe, wenn man bei Mutter sitzt und sie stöhnen hört und meint, ihr liebes Gesicht sehe sich immer weniger ähnlich – und ihr Blick gehe so weit in die Ferne.

Und wie plötzlich ist alles gekommen! So gräßlich schnell mitten hinein in all die Freude, in der man sich in Gedanken noch wiegte wie in einem Traum. Ach, man sollte nie vergnügt sein auf dieser Welt! Das bestraft sich sogleich.

»Gehst du zu Mutter hinein, Else?«

»Ja, Vater, ich setze mich ganz still in einen Winkel.«

»Denk dran, daß du sie nicht bitten darfst, zu lächeln. Es wäre unrecht; sie kann nicht lächeln.«

Was sagt denn Vater? Weiß er es selbst? Die Sonne könne nicht scheinen, das Gras nicht wachsen, die Vögel nicht singen – all das könnte er sagen, es wäre ganz denkbar, jetzt im Frühling. Aber daß Mutter nicht lächeln könne, das ist so ganz unmöglich, daß es geradezu komisch ist. Das wäre ganz dasselbe, als wenn er sagen wollte, Mutter könne nicht –

Nein, nein, nein – auf der ganzen Welt gibt es nur einen Menschen, der so recht lebendig ist, und das ist Mutter. Sie lebt für zwanzig, für hundert, ja, man könnte gut sagen, für tausend andere. Ja, sie lebt das Leben der andern außer ihrem eigenen. Alle Freuden und Sorgen, Beschwerden und Bekümmernisse der andern – alle, die sie kennt, und alle die, von denen sie nur reden gehört hat – hat sie in sich aufgenommen, und trägt sie in ihrem Herzen. Deshalb schlägt es so stark, so ruhelos stark, daß es nicht aufhören kann. Ebenso gut könnte man sagen, die Erde sei am Stillstehen, oder das Leben selbst könne nicht weiter leben.

Nein, so etwas hat Dr. Berg auch noch nicht auszusprechen versucht. Er begreift, daß es ganz unmöglich wäre. Es ist allerdings merkwürdig, daß Mutter krank sein kann, und daß sie zu Bett liegt, anstatt umherzugehen und im Haus und im Garten alles in Bewegung zu setzen. Totenstill ist es jetzt überall.

»Hast du heute nacht geschlafen?«

»Ja, Mutter.« Nein, Mutter lächelt nicht. Sie könnte schon, aber sie soll nicht, denn es würde sie anstrengen.

»Das ist gut, das ist gut. Ruf nun Vater herein.«

»Vater ist hier, Mutter.«

Else setzt sich in eine Ecke. Vater legt seine Hand ganz leicht auf Mutters. Sie sieht ihn an.

»Jakob, ein Wort fällt mir so schwer aufs Herz. Es ist das Wort: Alles, was ihr einem von diesen Geringsten nicht getan habt … Ich habe so viele vernachlässigt.«

Ach! die Antwort ist leicht für Vater. In diesem Punkt kann er Mutter gut widersprechen – er kann Leute genug aufzählen, denen sie geholfen, die sie gepflegt und getröstet hat.

Aber Vater sagt nichts, davon. »Elsbeth,« sagt er, »nicht das, was wir getan haben, soll uns retten, sondern das, was Er getan hat. Und da fehlt nichts. Kannst du das nicht glauben?«

»Doch – – aber alle, denen man hätte helfen können; das ist so schwer.«

Ach, daß Vater dazu schweigen kann! Daß sie selbst nicht dreinzureden wagt, und daß niemand anders etwas sagt! Daß nicht die Steine von jedem Haus des ganzen Dorfes laut zu schreien anfangen und von den Kindern erzählen, denen Mutter beim Sterben beigestanden hat, von Martin, der seine mageren Hände im Todeskampf um Mutters Hals schlang, damit sie ihn aufrichte, von all den alten Leuten, denen Mutter vorgelesen, von den Kranken, die sie besucht hat! Warum kommen sie nicht selbst herbei und bilden einen Kreis um das Bett her – der Laufbursche des Kaufmanns, der Steinhauer, dem sie immer die Limonade gab, die man für sich selbst in den Wald hatte nehmen wollen, die Humpel-Lene – jaso, Mutter erlaubte nicht, daß man sie so nannte – die Mutter in die Kirche abholte, alle Armenhäusler, warum kommen sie nicht und nehmen ihr die Last ab?

Beim Mittagessen muß es heraus. »Vater, warum sagtest du nichts von all denen, um die Mutter sich angenommen hat?«

»Das hätte sie jetzt nicht trösten können, Else. Und sie hat natürlich ganz recht, wenn sie sagt, sie habe auch manche versäumt – selbst wenn es uns nicht so vorkommt.«

Ach, wie trocken, wie hart das klingt! Liebe, liebe Mutter!

Viele erkundigen sich nach der Frau Pfarrer; hoch und nieder aus der ganzen Umgegend. Es ermüdet einen sehr, mit allen zu sprechen, und man fürchtet sich davor, sie den Kopf schütteln zu sehen. Aber es ist doch immer eine kleine Unterbrechung, die man nicht entbehren möchte, und es ist auch ein Beweis, wie beliebt Mutter ist.

Mutter sagt: »Wie lieb, wie freundlich das ist! Grüße sie!« Aber sie darf niemand sehen, und wünscht es auch nicht.

Es ist, als könne man etwas aufatmen. Der Arzt sagt, die Entzündung sei besser; aber das Fieber ist fast noch ebenso hoch, das Herz ist schwach, und mit den Kräften steht es schlecht; Mutter ist ruhelos und schmerzgequält.

Else sitzt am Fenster im Krankenzimmer. Vater drüben am Bett.

»Er wagt es mir nur nicht zu sagen, Jakob« – Mutters Stimme klingt nicht mehr wie früher – »er weiß nicht, daß ich meine wahre Heimat doch nie hier gehabt habe.«

»Nein« – Vater streicht ihr sehr behutsam übers Haar.

»Aber ich habe den Tod unterschätzt, Jakob.«

»Das tut ja nichts, Elsbeth; ob er auch stärker ist, als du dachtest, wenn du nur weißt, daß Er, der Eine, noch stärker ist, und das glaubst du ja.«

»Ach, für die andern, wenn ich sie trösten und stärken sollte, habe ich es ganz fest geglaubt. Und nun ist es doch so ganz anders! Denn jetzt ist es die bittere Wirklichkeit. Es gibt gar keinen Ausweg mehr – ihr andern könnt euch gar nicht denken, wie wirklich das sein muß, das da ausreichen soll.«

»Nein, wir haben es nicht gekostet, aber einer hat es bis auf den Grund durchgekostet.«

»Und dann ist man so machtlos, man kann weder zugreifen, noch richtig verstehen … das Fieber ist da, und es verwirrt mir alle meine Gedanken.«

»Nein, jetzt kannst du dir's nicht aneignen, Elsbeth, aber du kannst dich hingeben. Das allein ist notwendig.«

»Ja – mit geschlossenen Augen,« sagt Mutter.

Else sitzt am Fenster und läßt die Worte an sich vorübergleiten, ohne sie in sich aufzunehmen. Sie kann nicht – es tut ihr zu weh. Aber ohne darüber nachzudenken, fühlt sie, wie die bittere Wirklichkeit im Hause immer mehr Platz gewinnt. Die Kirchhofseite schreitet heran wie ein langer kalter Schatten, und senkt sich auf alle die hellen Zimmer, auf die ganze fröhliche Seite des Pfarrhauses, die mit dem Storchennest darauf.

Einmal, als Else Mutter stützt, um ihr ein wenig zu trinken zu geben, und sich ihr Herz zusammenkrampft bei dem schmerzlichen Ausdruck, womit Mutter schluckt, weil ihr der Hals so weh tut, sagt Mutter plötzlich: »Wir hätten mehr an die denken sollen, die Schmerzen leiden.«

»Liebe Mutter, du hast sie nie vergessen. Du hast dich ja für sie aufgerieben.«

Mutter gebietet ihr mit der Hand Schweigen. »Sie haben es sehr schwer,« sagt sie und schließt die Augen.

Am Abend, als man der Krankenpflegerin ein wenig helfen darf, sagt Mutter: »Vergiß nie« – sie weiß selbst nicht mehr, was es war.

Eine Weile nachher kommt es doch: »Vergiß nicht, sie zu fragen, warum sie weinen.«

»Ja, liebe Mutter.« Sie meint wohl die Kinder auf den Gassen.

»Vergiß ja nicht« – wieder sucht Mutter nach Worten – »daß er die Welt – –«

»Ja, liebe Mutter, was war damit?«

»Die Welt also geliebet hat – gerade die Welt.«

Else will aufbleiben, sie will. Sie will mit Vater im Stübchen nebenan sitzen, wo Mutter sie nicht sehen kann, um die Nacht wachend und frierend zu verbringen.

Aber Vater schüttelt den Kopf. »Noch nicht.« Das klingt fürchterlich.

»Meinst du denn, Mutter wäre zu Bett zu bringen gewesen, wenn ich so krank dagelegen hätte wie sie?«

»Nein,« sagt Vater mit voller Überzeugung. »Nein, Mutter hätten wir weder zum Essen noch zum Schlafen gebracht, bis Else wieder auf gewesen wäre.«

»Da siehst du selbst. Warum wollt ihr mich so selbstsüchtig machen? Warum soll Mutter immer mehr für die andern getan haben, als die andern für sie?«

»Weil – so wie sie ist« – Vaters Augen beginnen zu strahlen – »so wie sie ist, so wird auch ihr Los sein.«

Aber Else darf schließlich doch aufbleiben. Vater will sich nur auf dem Sofa ausstrecken, und sie legt sich aufs Bett, fast ganz angekleidet und einen großen grauen Schal um die Schultern, der andeuten soll, daß sie eine richtige Nachtwache vorstellt.

Die andern glauben, sie könne es wirklich verschlafen, daß Mutter krank ist. Nun, sie sollen schon sehen, daß das nicht der Fall ist. Nein, nicht eher, bis sie in ihren kleinen Schuhen wieder im Haus umherklirrt – ach, mit dem fröhlichen Klang! Es steht vielleicht gar nicht mehr so lange an wie sie meinen – denn es sieht ihr ja gar nicht gleich, lange krank zu sein.

Und wenn Vater ihr dann sagen muß, daß ihr Elsenkind so lange nicht schlafen kann – dann gibt es gar nichts anderes – wenn Else ihre Mutter recht kennt. Dann steht diese in demselben Augenblick auf, denn das will sie wirklich nicht leiden – und geht mit ihr in den Garten hinaus, um nach dem Storch zu sehen, der schon gekommen ist.

Da sitzt er ja – ebenso selbstbewußt wie früher.

Und Mutter lacht und sagt, er habe einen kleinen ägyptischen Schwung an sich, der ihm bei all seiner echten dänischen Art ganz komisch anstehe.

Ach, Gott sei Dank! Gott sei Dank! Jetzt ist sie wieder ganz wie früher! Ja, ja, es war nur ein böser Traum, daß sie krank sei …

Man fragt sie, ob sie den Veilchenduft rieche – »und höre nur die Vögel zwitschern! Überall im Garten!«

Mutter sagt, das sei alles lauter Liebe, schwebende Liebe, duftende Liebe – »und deshalb wollen wir auch leichtsinnig sein und einen kleinen Hopser machen.«

Sie fliegen im Galopp den Haselnußgang hinunter. »Ach, die ganze Welt tanzt mit!« sagt man und lacht Mutter an.

»Ja,« antwortet Paul, »wir tanzen bis ans Ende der Welt!« – Aber man fürchtet, das würde zu lange dauern – man will lieber heimreisen und sehen, ob die andern einem in Beziehung auf Mutter nicht etwas verbergen. – Aber man kann den Zug nicht zu rechter Zeit erreichen – denn die Beine sind einem schwer wie Blei – –

Man faßt nach dem Geländer, um sich hinaufzuschwingen, ehe der Zug pfeift – und es geht ein kalter Wind – man friert – und fährt auf – –

»Mutter – ich schlafe gar nicht – möchtest du etwas?«

Die Krankenpflegerin steht da. »Nein, es ist immer das gleiche. Der Herr Pfarrer ist bei ihr, um mit ihr zu beten. Es ist sieben Uhr, Sie sollten aufstehen.« Am Sonntag, nach dem Gebet auf der Kanzel, sagt Vater, ob alle mit ihm für eine Kranke beten wollten, für eine Kranke, die alle kennten und an die sie, wie er glaube, heute alle dächten.

Ach, daß das Mutter sein soll?

Die Weiber fangen gleich an zu schluchzen, man hört, daß alle weinen. Else aber wagt nicht zu weinen – wie hätte sie sonst wieder aufhören können?

Vater betet. Er sagt, sie wollten Mutter der Liebe übergeben, die sie am höchsten zu tragen vermöge, und dem Willen, der nur das Beste für sie wolle. Ist das alles? Ach, die Menschen in der Bibel verstanden es viel besser! Warum soll Mutter nicht aufstehen und gehen, wie es damals geschah?

Sobald Else daheim ins Zimmer getreten ist, während Vater noch den Kirchenrock anhat, ruft sie aus: »Warum darf man denn nicht so beten, daß es hilft, Vater? Warum soll Mutter nicht geholfen werden?«

»So, daß es hilft?« – Vater sieht sie überrascht an. – »Meinst du nicht, es gebe jetzt anderes, zu dem man Mutter helfen müsse, als nur zum Gesundwerden?«

»Ja« – aber nein, Else meint doch, das sei die Hauptsache.

Vater legt ihr die Hände auf die Schultern. »Um was betest du selbst für Mutter?«

Sie schlägt die Augen nieder. Ach, früh und spät ist ja ihr Gebet nur ein einziges Jammern: »Mutter, Mutter!« Sonst nichts. Aber sie kann Vater den Grund nicht erklären, ihm nicht sagen, daß sie sich gar nicht zu gestehen wagt, wie schwer krank Mutter ist, oder so zu beten wagt, als könnte es sich bei ihr um etwas anderes handeln als um Gesundwerden.

»Das Gebet, Else, das richtige Gebet kann man einem nicht vorschreiben, das ist so viel, als sich hingeben.«

Dorthe, die bei ihr gewacht hat, sagt, Mutter habe die ganze Nacht kein Viertelstündchen geschlafen, aber während des Gottesdienstes sei sie in einen tiefen Schlaf gesunken. »Da kann man doch sehen, daß es etwas hilft,« fügt sie hinzu.

Als Mutter erwacht, geht Vater zu ihr.

Else schaut zur Tür herein.

»Heute haben wir für dich gebetet, Elsbeth,« sagt Vater.

»Danke. Ja, jetzt kann ich auch nicht mehr.«

»Ich trage dich auch Tag und Nacht auf betendem Herzen.«

»Das weiß ich.« Mutter legt ihre schmale, weiße Hand in die seinige. Dann will sie nur noch ihrem Elsenkind zunicken und wieder ruhen. Sie ist todmüde.

Else begreift, daß sie selbst es tun muß. Sie muß so beten, daß es hilft. Wenn sie sich recht prüft, hat vielleicht doch noch etwas anderes im Weg gestanden, etwas, was sie sich nicht so recht klar machen wollte, und das hat sie am richtigen Beten verhindert.

»Das Gebet des Gerechten vermag viel,« so steht geschrieben, aber gerade das hatte sie zurückgeschreckt; denn wenn sie daran dachte, daß sie sich, während Mutter hier herumging und den Leuten warme Umschläge machte und die Krankheit allmählich in sich aufnahm, ohne sie amüsierte und auf einem Ball war, tanzte und lachte – mit denen, die draußen stehen!

Wie gerne möchte sie es ungeschehen machen, wenn es nur etwas helfen könnte! Wie gerne wollte sie nie wieder lachen, nie wieder tanzen und nie wieder sprechen mit – – nie wieder etwas tun, was nicht ganz recht, nicht ganz fromm ist – wenn nur Mutter wieder gesund werden kann!

Alles will sie gerne hingeben – alles mit einander – wenn nur Mutter wieder gesund wird!

– Eines Nachts erwacht Else, als es vom Turm eben drei schlägt. Bei Tag verschwindet dieser Ton zwischen all den andern Tönen, und bei Nacht verschläft sie ihn gewöhnlich. Aber jetzt ist ihr der Glockenton lieb und vertraut wie ein Gefährte – und er klingt zuverlässig und ruhig, als sei gar nichts geschehen.

Aber wie lang ist doch die Nacht, wenn man nicht schläft! Die Uhr scheint sich vorgenommen zu haben, nicht zu schlagen, ehe ein ganzes Jahr und nicht nur eine Stunde vorüber sei. Else dreht sich im Bett um – aber immer wieder liegt sie schlecht und muß sich wieder nach der andern Seite drehen. So oft sie sich umdreht, sagt sie: »Mutter!« Sie sagt es vielleicht hunderttausendmal, ehe es vier Uhr ist; aber sie will immer weiter machen – ohne müde zu werden!

Draußen beginnt der Nachthimmel langsam hell zu werden, schließlich ist ein ganzer weißer Himmel vor dem Fenster. Else setzt sich im Bett auf. Da stehen die stillen schwarzen Bäume und heben sich vom weißen Himmel ab. Selbst die große Pappel, die sonst immer rauscht und schwankt, auch wenn sie nicht alle ihre raschelnden Blätter hat, steht lautlos und unbeweglich da – so schwarz und still, als wachse sie an einem der Flüsse in der Unterwelt ….

Else steht auf und geht ans Fenster hin. Ein großer, großer heller Stern steht am Himmel droben und ist ebenso weiß wie dieser. Nur daß der Himmel matt, der Stern aber glänzend ist – hell funkelnd, glänzend hell!

Das ist gut – sie weiß zwar selbst nicht, was, aber es ist ihr, als müsse irgend etwas gut werden.

»Ich bin die Wurzel des Geschlechtes David – ein heller Morgenstern!«

Diesen Vers liebt Mutter so sehr. Und es war vielleicht gut, daß Else dieses Wort jetzt eingefallen war.

Es ist gut, es ist gut – sie kniet am Fenster nieder, ihr Köpfchen sinkt auf ihre Arme, die auf dem Fensterbrett liegen. Sie kann sich nicht erinnern, daß sie je den Morgenstern gesehen hat – und so ist ihr schon lange nicht mehr zumut gewesen.

Es ist ihr, als sei es gut geworden, gerade so, wie sie es erfleht hat.

Der helle Morgenstern – aus Davids Stamm –

– Vater steht neben ihr und zieht sie in seine Arme – ganz stille.

»Es ist gut,« sagt sie schnell, wie um das festzustellen, ehe er zu sprechen anfängt.

»Ja,« sagt er, ihr übers Haar streichend, »es ist gut.«

Er legt den Arm um ihre Schulter: »Willst du mit mir hinaufgehen und sehen – daß Mutter wieder lächeln kann – ein ganz klein wenig.«

»Ja,« sagt sie, »ich wußte es wohl.« Sie nimmt etwas um sich, denn Mutter könnte sonst ängstlich werden, sie werde sich erkälten, und sie will Vater zeigen, daß sie an nichts Besonderes denke.

Er sieht sie immerfort an, als überlege er, ob er etwas sagen solle. Sie merkt es wohl – aber er täuscht sich, wenn er meint, sie werde es glauben. Vor der Tür oben bleibt er mit ihr stehen; aber sie hat auf einmal Angst vor Vater und vor dem, was er sagen möchte, deshalb tritt sie rasch ein. Auf Mutter kann sie sich verlassen, das weiß sie – immer, immer.

Ach ja, Mutter … Sie hat den Kopf etwas auf die Seite geneigt, dem anbrechenden Morgen entgegen, und jetzt hat sie auch ihr eigenes Gesicht wieder. Und sie ist wirklich auf dem Punkt, zu lächeln. Das heißt, ein richtiges Lächeln ist es nicht geworden, aber jener stille, süße, heitere Anfang eines Lächelns, den Else so gut kennt; er sitzt in den Mundwinkeln und ist immer der Vorläufer irgend einer köstlichen Bemerkung, während der dann das Lächeln ganz hervorbricht.

Liebe, liebe Mutter! Wie herrlich, daß es wieder da ist! Sie sieht aus wie ein frohes Geheimnis!

»Ja, es ist gut,« sagt Else. »Und jetzt atmet sie auch wieder ganz ruhig.«

Sie fühlt, daß Vater immer etwas überlegt – aber sie wird trotzdem bei ihrer Ansicht bleiben.

»Sie atmet nicht mehr, Else.«

Jetzt ist der Schlag gefallen – aber sie glaubt es einfach nicht. Sie will auch nicht wissen, daß Mutter sie nicht mehr hören könne. Die andern meinen, sie könnten ihr alles bieten, aber sie ist weder so sanft noch so einfältig, wie sie meinen. Sie hat einen Willen, ebensogut wie Vater. Sie geht an ihm vorbei … zum Zimmer hinaus …

Er geht ihr nach: »Else!«

»Ich sage dir, Vater, ich will es nicht hören – das kannst du nicht von mir verlangen. Du kannst es dir ersparen, es zu sagen – ich glaube es doch nicht – was willst du dann tun? Da spare es dir doch lieber gleich.«

Vater steht sie nur mit traurigen, betrübten Augen an. Ach, warum spricht er denn nicht?

Sie klammert sich an ihn an – jammernd, jammernd. »Sag doch etwas, Vater – warum sagst du denn nichts? Nur das nicht, nur das nicht, ach sprich doch, sprich doch!«

Vater schließt die Hände um ihren Nacken und zieht ihr Köpfchen an seine Brust. »Else, du mußt dich darein ergeben.«

»Niemals! Ach nein, nein, nein!«

»Else, Mutter selbst will, daß du dich darein ergibst.«

»Mutter!« – Sie bricht zusammen. »Ja, ich will schon, nur jetzt nicht, nur nicht gleich – denn jetzt kann ich nicht, jetzt kann ich nicht. O verschont mich nur noch ein Weilchen! Nur noch ein ganz kleines Weilchen – o Vater, Vater!«

Er zieht ihr Köpfchen inniger an sich. Einen Augenblick weiß er nicht, ob diese Klage aus ihrem Munde dringt, oder ob es das Stöhnen seines eigenen Herzens ist … Es wird stille um sie her, ebenso stille wie in Vaters Kirche, denkt Else.

Dann ertönt Vaters Stimme – sie fühlt es, er weiß selbst kaum, daß er spricht – und es klingt, als wenn die Glocken zusammenläuteten.

»Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach.«

Sie schaut auf, die Worte klingen ihr noch in den Ohren. »Aber das kann ja nichts helfen, wenn wir nicht auch mitgehen, Vater. Sie sieht sich dort gleich nach uns um.«

»Jawohl, aber sie weiß, daß wir nachkommen – heute noch. Denn für sie ist es heute, für uns erst morgen. Heute müssen wir – ohne sie sein. Else, Else, du mußt dich darein ergeben.«

Ohne Mutter, ohne Mutter! – Aber dann ist ja gar nichts mehr da. Nichts, nichts mehr!

»Ja,« sagt sie, »ja, ich ergebe mich darein. Denn dann darf ich gewiß auch sterben.«

Sie sieht ihren Vater an. Aber sein Gesicht ist auf einmal so weit weg – alles ist so weit, weit weg. Sie kann nichts mehr festhalten – und sie hat auch gar kein Verlangen darnach. Sie will nur fort – – und Gott sei Dank! jetzt weicht alles vor ihr zurück, alles ….

Ohne einen Laut gleitet sie vor ihrem Vater zu Boden – und das Gesicht, über das er sich beugt, ist ebenso weiß wie das drinnen auf dem Bett. – –

Der Tod ist in die Welt gekommen – durch einen Menschen. Steht nicht so geschrieben? Jedenfalls ist es so.

Und der Tod ist zu allen Menschen hindurchgedrungen. Ja, zu allen. Jetzt versteht man die Frau in der Altersversorgungsanstalt, die bessere Tage gekannt hat und nicht so ganz bei Trost ist, und die einmal zu Mutter sagte: »Die Frau Pfarrer muß bedenken, daß ich eine Abgestorbene bin.« So ist das; wenn man nicht abgestorben wäre, könnte man nicht – –

Der ganze Tag besteht jetzt aus Dingen, die man nicht könnte, die man nicht kann.

Die Hochzeitsseite ist nicht mehr da. Mutter hat sie mitgenommen. Die Kirchhofseite hat sich über den Haselnußgang, den Hügel, die Wiese, den Wald ausgebreitet. Alle Blumen draußen sind zu Begräbnisblumen geworden. Man pflückt jeden Morgen davon und streut sie um Mutter her.

Man darf ihr liebes Gesicht, das das frohe Geheimnis birgt, nicht mehr sehen. Vater hat es zugedeckt, weil es sich verändert hat – aber der Sarg ist noch nicht zugemacht. Vater sagt, wenn es nicht durchaus nötig sei, könne er nicht verstehen, daß man den Sarg schließe, ehe die Tage um seien, wo der Herr, so lange er auf Erden wandelte, die Seelen der Menschen zurückrief. Am vierten Tag hat er den Mut noch nicht – sie liebte Licht und Lust so sehr – er sieht immer wieder nach ihr, bis die Woche herum ist.

Ach, wie entsetzlich ist doch die Art und Weise, wie man seine Toten hergibt! Wären sie doch lieber auf einmal verschwunden! Oder wenn man doch nur Mutter auf die Wiese hinaustragen könnte, mitten in die sonnenwarmen Blumen hinein – oder tief, tief in den Wald hinein, und sie da verschwinden lassen! Aber dies ist so schrecklich, mag der Sarg weiß oder schwarz sein, und es ist gar nicht so, wie es sein sollte; ein kühles Felsengrab sollte es sein, wie im heiligen Land, wo von einem Sarg, von einem Versenken in die Erde keine Rede war. – Das macht alles noch schwerer – ganz unbeschreiblich schwer.

O, wenn man nicht abgestorben wäre, ließe man es gar nicht zu! Jetzt aber sieht man wirklich zu, wie Mutter, nachdem gebetet und gesungen worden ist, fortgetragen wird – man geht selbst mit in die Kirche, wo alle Kerzen brennen – und geht wieder von ihr fort …

Man hat Blumen gepflückt, hat geholfen, Kränze zu binden und die Kirche zu schmücken, und man bindet noch mehr für den nächsten Tag. Einen Kranz aus lauter Veilchen, eine lange Girlande aus Anemonen, um sie ganz herumzuschlingen um ….

Der Kopf ist einem benommen von all dem Blumenduft, es sind so viele Kränze angekommen. »Ach, den muß Mutter sehen!« ist der erste Gedanke, so oft einer ankommt.

Aus den kleinsten Gärtchen, aus den ärmsten Hütten sind Blumen hergebracht worden. Die alle Lene hinkt mit einem kleinen Kreuz daher, und selbst der wortkarge Dachdecker, aus dem niemand ein Wort herausbringen kann, und von dem Mutter sagte, sie fürchte, auch sie müsse ihn aufgeben, kommt mit einem Kranz dahergeschritten, in dem große Tulipanen prangen. Er legt ihn zum Küchenfenster herein, ohne ein Wort zu sagen; aber es hängt ein kleiner Zettel dran, auf dem steht mit langen verschnörkelten Buchstaben: »Ich konduliere!« Ach, den Zettel mit der Rechtschreibung und den Kranz, der in so schreienden Farben gehalten ist, um zu zeigen, wie gut der Mann es meint, den muß man gleich hineintragen zu – –

Zwanzig, hundertmal am Tag ist es, als renne man mit dem Kopf gegen eine Wand. Und man muß an jene bleiche Frau denken, die einmal zu Mutter gesagt hat: »Zwanzig, ja hundertmal hält man es aus, aber einmal rennt man sich doch das Hirn ein!« Ach, wenn man es doch täte!

Man ist fertig, und es ist spät geworden. Man sitzt bei Vater und hält die Hände müßig im Schoß – das ist das Ödeste von allem, was es gibt.

»Wie sehr haben doch alle Mutter geliebt – alle! Es war auch merkwürdig, für wie viele sie sorgen konnte.«

»Ja,« – Vater sieht vor sich hin – »aber das war nicht das Merkwürdigste, das fast viel tiefer bei ihr. Sie hatte etwas … es war, als treibe sie eine unaufhaltsame Eile.« –

Die Glocken läuten – an einem Werktag. Nicht zur Hochzeit – zum Begräbnis – für alles, was Hochzeit auf Erden hieß.

Man sieht viele Gesichter im Pfarrhaus. Onkel Rektors sind schon am Morgen angekommen. Es kommt einem sonderbar vor, sie so rabenschwarz zu sehen, sowie Hennys und Mathildes verweinte Gesichter. Tante ist sehr zärtlich, und es tut einem wohl, sich in den Schatten von Ähnlichkeit, den sie mit Mutter hat, flüchten zu können. Sie hatte sich angeboten, gleich zu kommen, aber Vater wollte es nicht. Jetzt sieht sie nach Dorthe und den Frauen, die zur Hilfe da sind, und nimmt sich um alles an.

Paul ist in Deutschland. Er hat nicht einmal geschrieben. Fritz ist sehr stürmisch in seiner Teilnahme, Julius ganz still. Man fürchtet sich vor jedem, der auftaucht, denn bei jedem könnte einen ja das Weinen überkommen – ein Weinen, das nicht mehr aufhören würde.

Mehrere Pfarrer sind da, der Propst wird auch sprechen. Da steht er mit seinem jugendlich schönen Gesicht, seinem silberweißen Haar; er tritt herbei und ergreift beide Hände des armen Pfarrkindes und sagt: »Wie lieb Mutter war!«

Da bricht man zusammen, und das Weinen ist da …. man weint – weint –

In der Kirche wogt es um einen her wie ein Meer – Gesichter – Lichter – Blumen. –

»O selig, wer das Heil erwirbt,
Daß er im Herrn, in Christo stirbt!«

Man will mitsingen – Mutter zuliebe. Aber man weint, kann nur weinen. Ach liebe, liebe Mutter ….

Der Propst spricht über eine Stelle im Propheten Esra, die Mutter besonders lieb hatte – als die Juden von Babylon heimkehrten und den Grundstein zu dem neuen Tempel legten, da erhoben sie ein Freudengeschrei und lobeten den Herrn, die aber, so sich an die Herrlichkeit des vorigen Tempels erinnern konnten, weinten – sodaß man das Freudengeschrei von dem Weinen nicht unterscheiden konnte. Er sagt, daß die, so hier versammelt seien, die alle die Herrlichkeit des versunkenen Tempels gesehen hätten, weinen müßten, aber er sei auch überzeugt, daß alle, die jetzt hier die Heimgegangene beweinten, doch zugleich auch fühlten, daß die Grundmauer zu dem neuen Tempel gelegt gewesen sei – deshalb dürfe auch der andere Ton, der Lobgesang, an diesem Tage nicht fehlen. Und wenn man ihn auch jetzt von dem Weinen nicht unterscheiden könne, so werde er doch siegen und höher und höher aufsteigen, bis zu dem Tag der Ewigkeit.

Jetzt kann man mitsingen – der andere Ton soll auch dabei sein – denn wer hat gekannt und gesehen wie man selbst – –

Vater spricht von Fremdlingen und Pilgrimen. Er sagt auch, niemand habe ein Heim schaffen können wie Mutter. Und wenn sie auch nur einen Menschen auf der Landstraße angehalten habe, so habe sie eine Art Heimat um ihn her aufgerichtet, er selbst wisse dies ja am besten. – Ach süße, süße Mutter! Man kann sich nicht mehr beherrschen, und Vater muß auch innehalten. – Aber sie sei doch ein Fremdling gewesen, nie in dieser Welt festgewurzelt, sie habe die Arme so innig um …

Man kann nicht mehr folgen. – Jetzt ertönt Gesang – von viel Weinen und Schluchzen unterbrochen – ein wogendes Meer von weinenden Gesichtern – der Sarg wird hinausgetragen. Blauer Himmel und Vogelgezwitscher über und zwischen den Worten von Tod und Auferstehung. – Ach, es ist gut! Jetzt fällt Erde hinab. – –

Viele bleiben stehen, bis das Grab zugeschaufelt ist … Händedrücke und Händedrücke, die so teilnehmend zufassen, daß es ganz weh tut – und schwarze Gestalten, die auseinandergehen – –

Die Pfarrer, die Verwandten und Freunde und manche andere bleiben zu Mittag – aber alles verschwindet in einer fast wirren Müdigkeit, bis die Abschiedsworte des Propsts: »Wie lieb sie doch war!« wieder einen unaufhaltsamen Tränenstrom hervorrufen. Aber da ist es Abend, und das Weinen darf in einen tiefen schweren Schlaf übergehen.

Der Tod ist in die Welt gekommen, in die Gemeinde. Jedes geht jetzt nur noch seine eigenen Wege – mit gesenktem Kopf und müden Gedanken. Niemand ist mehr da, der die Wege der andern mit unermüdlichen Schritten geht. Nein, die Schuhe mit den klirrenden Ringelschnallen, die in die Wege der andern hinein Freude geklingelt haben, stehen verstummt und leer da – sie sind aufgehoben und zugedeckt – werden nie wieder erklingen –

Der Tod ist im Pfarrhaus eingekehrt.

Nur eins ist in den Zimmern, was nicht sterben kann, der Ruf, der bei jedem, auch dem kleinsten Ding, auf das das Auge fällt, an jedem neuen Tag aufsteigt – der Ruf, dem nie mehr Antwort wird: »Mutter – Mutter – Mutter!«


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