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Auf der hellen Seite nach der weiten Welt zu waren, so weit das Auge reichte, keine Wälder, die die Aussicht versperrten, sondern nur einzelne Bäume und Häuser auf den Feldern und eine Mühle auf einem Hügel. Der Wald aber lag hinter dem Pfarrhaus.
Dagegen war ein See da. Das erwartete man gar nicht, denn man konnte ihn vom Hügel aus nicht sehen, weil er in einer Vertiefung lag.
Aber es war nicht sehr weit dahin. Zuerst mußte man am Fuß des Hügels über die Wiese, dann über das Steinmäuerchen, wo es förmlich lustig aussah von all den bunten Blumen – wilde Rosen, Ginster, Glockenblumen und Mohnblüten in den übermütigsten, kecksten Farbenzusammenstellungen – und im Herbst standen da große schwarze Brombeeren.
Dann kam man an mehreren Feldern vorüber, wo die Saat hellgrün wogte, ja, man mußte auf einem schmalen, gewundenen Pfad ganz tief zwischen den hohen nickenden Ähren, die beinahe über einem zusammenschlugen, hindurchgehen.
Auf diesem Pfade sagte Cousine Mathilde – von Onkels in der Stadt – als sie durch den nickenden Hafer ging, einmal: »Das erste Feld, durch das wir kamen, war, wie du sagtest, Roggen, und das zweite Weizen, also muß dieses Gerste sein.«
Man begriff gar nicht, daß sie so dumm sein konnte, wenn doch alle sagten, sie sei so gescheit. Denn daß dies Hafer war, konnte man doch auf den ersten Blick erkennen, und es war einem unbegreiflich, daß die andern sich darüber überhaupt besinnen mußten.
Auf einmal war der See da.
Glänzend hellblau, mit kleinen plätschernden Wellen, glitt er zwischen dem goldenen Weizen, dem Roggen und Mathildens »Gerste« hervor. Dem Ufer entlang standen Weiden mit komisch verwachsenen Stämmen, aber frischen glänzenden Blättern, und an mehreren Stellen auch schlanke raschelnde Binsen. Zwischen diesen wuchsen die hohen Blumen, die man hier fand und die einen Kranz von dichten blaßroten Kelchen auf ihren langen Stielen trugen; aber man konnte sie nicht pflücken, trotz wiederholten Versuchen mit nassen Füßen, die, als es entdeckt wurde, aufs bestimmteste verboten wurden.
Um den ganzen See herum führte ein schmaler Pfad, an dem große schöne Vergißmeinnicht wuchsen. Ach, wie hübsch war dieser Weg! Man ließ sich dann unter den Weidenbäumen nieder und schaute hinaus auf die glänzende Wasserfläche, wo Fische in der Sonne blinkten, die oft plötzlich einen Satz machten, und wo große blaue Libellen herumschwirrten.
Man konnte sich keinen freudigeren Ort denken; und doch hing gerade mit ihm etwas zusammen, was auf die Sonnenseite einen Schatten von der Traurigkeit der andern Seite herüberbrachte.
Das war die Geschichte von dem »Halsband der Pfarrfrau«, die Dorthe erzählen konnte.
Dorthe war sehr alt; sie hatte schon vor Vater und Mutter gelebt, und doch konnte sie sich an das Ereignis nicht selbst erinnern. Sie hatte es von ihrer Großmutter gehört, die jetzt schon lange tot und begraben war, und die einmal im Pfarrhaus bei einem Pfarrer gedient hatte, der der Großvater oder noch mehr von Vater hätte sein können, es aber gar nicht war.
Er hing drüben in der Kirche, hatte eine sehr hohe Krause um den Hals, eine große gebogene Nase und schwarze stechende Augen. Wenn man in der Kirche saß und während Vaters Predigt die Scheiben zählte und dann dem Blick dieses Pfarrers begegnete – der einen »stach«, wo man auch immer vor dem Bild sitzen mochte, dann war das hundertmal schlimmer, als wenn Vater einen mit seiner feierlichsten Miene ansah.
Damals hatte es auch eine Pfarrfrau gegeben, und diese hatte eine »sündhafte Liebe« gehabt.
Das war etwas so Schreckliches, daß man nur im Flüsterton sprechen konnte, so oft man an dieses Wort kam, obgleich man sich durchaus nicht erklären konnte, was es eigentlich bedeutete. Mord und Diebstahl, – da wußte man gleich, was das war. Aber dieses war viel schlimmer, denn es war unbegreiflich.
Dorthe erzählte, die Pfarrfrau habe etwas ausgeschnittene Kleider getragen, wie Mutter auch manchmal. Das war merkwürdig, denn dadurch bekam ja Mutter für immer den Anflug von einer Ahnfrau. Man hatte gefragt, ob jene Pfarrfrau denn an ihren Schuhen auch klirrende Ringelschnallen gehabt habe; aber das glaubte Dorthe nicht, jedenfalls wußte sie nichts davon, und darüber war man recht froh.
Dagegen hatte die Pfarrfrau ein Halsband aus kleinen, runden, weißen Perlen besessen, das sie immer trug; ob dies aber in Verbindung mit dem Traurigen stand, das konnte man nicht herausfinden.
Auch nicht, ob es das allergeringste damit zu tun hatte, daß ein junger Schullehrer in der Gegend war, der eigentlich irgendwo anders hätte sein sollen, und der Gedichte machen konnte, und auch einige machte, die er der Pfarrfrau schenkte.
Aber dann geschah es, daß Dorthes Großmutter einmal den Nähtisch der Pfarrfrau aufräumte, denn diese hielt ihre Wolle und ihre farbige Seide nicht recht in Ordnung, und da fand sie ganz unten in einem der vielen kleinen Fächer alle die Gedichte, und darunter auch eines, das von dem Halsband der Pfarrfrau handelte.
Und die Großmutter hatte es mehreremale gelesen, so daß sie sich erinnern konnte, wie es anfing und aufhörte, und Dorthe hatte es so oft gehört, daß sie die Strophen auswendig konnte. Der erste Vers lautete:
»Das Halsband von Perlen bewegt mir den Sinn,
In jeder liegt heimlich die ganze Welt drin.«
Und der letzte war nicht sehr verschieden von diesem:
»Das Halsband von Perlen, nie kommt's aus dem Sinn,
In jeder liegt heimlich mein Herze ja drin.«
Dorthe hatte recht, daß es ein Unsinn sei, denn die Perlen waren ja nicht einmal groß, so daß sie unmöglich so viel in sich bergen konnten.
Aber Dorthe fügte hinzu, was verliebte Leute sagten, müsse ja auch Unsinn sein, denn wenn sie vernünftig redeten, dann sei es nicht weit her mit der Verliebnis.
Doch der Pfarrer sei dazu gekommen und sehr zornig geworden – man wußte immer nicht aus welchem Grund, aber es mußte gräßlich gewesen sein – und die Pfarrfrau mußte ein Bekenntnis ablegen und war ganz zerschmettert, hoffentlich aus Reue und Zerknirschung. Und in des Pfarrers Studierstube an seinem Schreibtisch mußte sie dem Lehrer einen Brief schreiben, worin sie ihm alle Gedichte zurückschickte, und ihm sagte, er solle fortgehen, und er dürfe nicht einmal Abschied von ihr nehmen.
Aber von da an trug die Pfarrfrau nie wieder ausgeschnittene Kleider, und mit den weißen Perlen ging sie an den See hinab und schleuderte sie weit hinaus ins Wasser …
»Das arme Ding,« sagte Mutter; denn es war, als ob Mutter das Sündhafte auch nicht recht verstünde.
Diese Geschichte endigte also durchaus nicht mit Hochzeit, eher mit Begräbnis, könnte man sagen. Denn die Reihe Perlen lag ja im See begraben, und wenn das, was in dem Gedicht stand, kein Unsinn gewesen wäre, dann wäre ja die ganze Welt und ein Menschenherz auch mit begraben worden.
Im Winter, wenn die blaue Wasserfläche gefroren war und das Eis blank und hell auf dem See lag, konnte man wie durch Glas hindurch bis auf den Grund sehen und jeden Stein und jede Pflanze tief drunten unterscheiden.
Und da spähte man oft, besonders als man größer wurde und mit des Jägermeisters Jungen dort Schlittschuh lief, dann spähte man mit einem eigenen neugierigen Schaudern nach dem Halsband der Pfarrfrau und bildete sich ein, man könne die runden weißen Perlen, toten Augensternen gleich, heraufstarren sehen.