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Drüben auf dem Weg nach dem Kirchhof geht Vater auf und ab. Er hält sich meist auf dieser Seite.
Ist Vater ein Begräbnismensch? Er glaubt gewiß, das sei eigentlich das richtige. In dem langen schwarzen Gehrock sieht er auch ganz darnach aus. Ein Hochzeitsmensch ist er jedenfalls nicht. Dazu ist er viel zu still und verschlossen – »geradezu verriegelt«, sagt Mutter.
Vater sagt, darin täusche sie sich. Er spreche eigentlich recht gern.
»Ja, vielleicht,« erwidert Mutter, »wenn du nur nicht gezwungen wirst, dich auszusprechen.«
»Allerdings,« sagt Vater, »denn was man ausspricht, verliert man ja auch – jedenfalls zum Teil.«
»O nein,« entgegnet Mutter, »was man ausspricht, bekommt man zwiefach wieder. Aber Schweigen tötet – es schließt Sonne und Luft aus.«
Vater sagt jedoch, schweigen sei wie das stille schwarze Erdreich, das sich über einem Samenkorn zusammenschließe, damit es wachsen könne; und das ist seine aufrichtige Meinung.
Aber dann ist es merkwürdig, daß er diesem Ausspruch oft gerade zuwider handelt, weil er weiß, daß viele dadurch Schaden nehmen, daß sie über sich selbst schweigen. Für sie gibt es jedoch einen Ausweg. Ein Pfarrer muß die Leute zu einer Aussprache bewegen – und deshalb muh er es selbst auch tun, anders geht es nicht.
Das hat Vater auch auf seiner ersten Stelle einsehen gelernt, droben auf der jütischen Heide, wo eine »erweckte« Gemeinde war, die erwartete, daß der neue Pfarrer ebenso kräftig dreinfahre wie der vorige. Vater stand dieser ganzen Art etwas fremd gegenüber, aber er merkte bald, daß die Leute ihn nicht verstünden, wenn er sich dieser Art nicht bediente, und so nahm er sie allmählich auch an.
Seither hat Vater sich angewöhnt, den Leuten ganz anders auf den Leib zu rücken als Mutter, und starke Worte zu gebrauchen, die in seinem Mund eigentlich gar nicht so recht heimisch klingen.
Mutter sagt, man solle nicht in die Leute dringen, sondern sie herbeikommen lassen. »Ich sitze keine drei Male in irgend einer Hütte, und dann weiß ich schon, was den Leuten auf dem Herzen liegt und wie sie behandelt werden müssen.«
Vater hatte wohl Angst, sie könnten gar nicht kommen, deshalb dringt er in sie. Aber die Leute hier haben doch den Eindruck bekommen, es sei dies seine natürliche Art, denn an jenem Abend, wo Dorthe die Familie beschrieb, sagte sie von Vater: »Der Pfarrer gehört ja wohl zu den ›Pitisten‹, aber es kommt nur selten vor, daß er jemand damit beleidigt.«
»Das hörst du nicht gern, Jakob,« sagt Mutter. »Du möchtest den Leuten viel lieber wie Meerrettich in den Augen beißen – aber sieh einmal, ob du das fertig bringst mit all deiner Mühe.«
Und Mutter fügt noch hinzu, Vater solle es nur nicht probieren. Dazu seien genug andere da, und es sei viel besser, im Dienste Gottes die Natur zu gebrauchen, die man nun einmal vom lieben Gott erhalten habe, anstatt sich eine andere anzuschaffen, die doch nur Machwerk sei.
Aber Vater sagt, das Größte erreiche man immer trotz seiner angeborenen Natur. Gott zwinge einen oft, gerade ihr entgegen zu arbeiten, um uns zu lehren, nur in seiner Kraft vorwärts zu gehen.
»Ja,« sagt Mutter, »Gott kann einen zwingen, aber man soll wohl aufpassen, ob man sich nicht etwa von anderen Menschen zwingen läßt.«
Darauf erwidert Vater nichts. Aber er geht zu Angefochtenen und Gleichgültigen, zu Bekümmerten und Lauen, und nötigt sie und sich selbst zum Sprechen, weil der liebe Gott es will – und ihn deshalb so schweigsam und verschlossen geschaffen hat.
Es gelingt Vater lange nicht immer. Nein, Mutter hat in der Regel bei den Menschen viel mehr Glück.
Aber dann – ein einzelnes Mal kommt es doch vor, daß Vater bei anderen eine Tür auftut, durch die, wie Mutter sagt, sie selbst nie gegangen sei. Und daß Vater ein Wort gesprochen habe, das tiefer eindringe und besser behalten werde als alles, was sie sage.
»Aber das geschieht nur, wenn der liebe Gott Vater zwingt, und dann tun es doch immer Vaters ›schweigsame Worte‹, und nicht die, die er selbst macht.«
Daheim zwingt Vater sich nicht zum Sprechen, aber da kann er es nicht immer lassen. Er muß ja Mutter widersprechen und auch über ihre Einfälle lachen.
Vater hat zwei »heimliche Lieben«, die Mutter gut kennt, obgleich er ebenso aufrichtig dagegen arbeitet, wie gegen seine eigene verschlossene Natur.
Die eine heißt Jagd, die andere »Sören«.
Als Kandidat war Vater ein paar Jahre Hauslehrer gewesen. Damals hatte er Mutter auf einem Waldfest getroffen und gefunden, daß sie zu viel lache. Aber nachher war er jeden Tag an dieselbe Stelle hingegangen, um zu hören, ob nicht ein klein bißchen Widerhall von dem Lachen zwischen den grünen Baumwipfeln hängen geblieben sei. Damals war er ein unermüdlicher Jäger, stand im Sommer um zwei oder drei Uhr auf, um auf die Entenjagd zu gehen, und konnte stundenlang mit nassen Füßen auf der Lauer stehen, ohne sich das geringste daraus zu machen, und bei den Herbstjagden war er in seiner ruhigen Weise der allereifrigste und der, dessen Schuß am sichersten traf.
Aber als er Pfarrer auf der großen Heide wurde, wo so viele braune Hasen herumsprangen, und es ihm in den Fingern kribbelte, sie niederzuknallen, da gab er es sogleich auf. Denn ein Pfarrer soll ja ein Hirte sein, und das kam Vater mit einem Jäger nicht ganz vereinbar vor. Und in der Gemeinde gab es viele, die ein Ärgernis daran genommen hätten.
Mutter konnte es auch nicht leiden, daß von den vielen wehrlosen und lustigen Geschöpfen, die da draußen herumsprangen und -flogen, so viele einem hinterlistigen und niederträchtigen Schuß von Vaters Hand zum Opfer fallen sollten.
Da verzichtete Vater auf das Jagdrecht der Pfarrei zu Gunsten des Jägermeisters. Aber einen Jagdhund hält er sich doch, und Mutter weiß gut, wie genau er Diana dressiert, wenn er lange einsame Spaziergänge mit ihr macht. Und so oft der Hund mit gestrecktem Schwanz und die Vorderpfote im atemlosen Umherspähen aufgehoben »steht«, ist Vater ebenso gespannt wie der Hund, und diese Spannung kann er sich ab und zu einmal nicht versagen.
Sonst sitzt Vater sehr viel in seiner Studierstube mit seiner Geige oder mit seinen Büchern und am allermeisten mit der Nase tief in »Sören« Sören Kierkegaard. D. Üb. drin.
Das heißt, Vater steht ja beides recht gut ein, sowohl die Gefahr, als die Unhaltbarkeit von dessen Standpunkt. Alles in ihm selbst, was an Sören erinnert, ist gerade das, dem entgegengearbeitet werden muß. Vater läßt sich auch jetzt nicht mehr von ihm »fangen«, wie in vergangenen Tagen. Aber sobald man ihn vor sich habe, würden die Gedanken angeregt, und man lerne jedesmal etwas dabei, sagt Vater.
»Ja, selbstverständlich zum Teil nur, um von ihm wegzukommen,« erklärte Vater dem Schultheiß, der eines Tages nach dem Buch hinschielte. »Aber schon allein aus diesem Grunde, Niels Jeppesen, ist es der Mühe wert, sich gründlich darein zu vertiefen.«
Wenn man sich zum Abendspaziergang rüstet, und Mutter Vater auch mit haben möchte, dann guckt sie zu seinem Fenster hinein, wo er zu studieren pflegt.
Und wenn sie dann lachend sagt: »Nein, Vater bemüht sich eben, ›von Sören wegzukommen‹«, dann weiß man sogleich, daß man ohne ihn gehen muß, denn dann sieht und hört Vater nichts von der Außenwelt.
Mutter macht sich nicht viel aus Sören. »Aber so viel ist sicher,« sagt sie, »mich wäre er nie los geworden, wenn er mit mir verlobt gewesen wäre. Es ist eine Sünde und eine Schande, daß er sich ganz allein über sich selbst klar werden mußte.«
Diese Anschauung teilt man aber nicht mit Mutter. Sörens zweiter Name deutet so ausschließlich auf die Begräbnisseite hin, daß man recht gut versteht, warum niemand Hochzeit mit ihm machen wollte.
Vater hat einen Tag in der Woche, den Mutter seinen Leib- oder Feiertag heißt, an dem er sich zu nichts zwingt, sondern nur seiner eigenen größten Lust folgt, denn an diesem Tag weiß er, daß er das darf.
Dieser Tag ist der Sonnabend. Da schließt sich Vater in seine Stube ein, die große Bibel ist vor ihm aufgeschlagen, und da sitzt er in aller Ruhe, ist frei von allen Besuchen in der Gemeinde, um zu fragen oder gefragt zu werden, und denkt bloß darüber nach, was er am nächsten Tag auf der Kanzel predigen soll.
Mutter sorgt dafür, daß es so still als möglich im Hause sei. Die Geißel, so das wöchentliche Reinemachen heißt, wird in keinem Zimmer geschwungen, das wird am Freitag besorgt, und das ist ein schrecklicher Tag. Aber am Sonnabend ist es im ganzen Haus ruhig, rein und blitzblank.
Mutter sagt, in den Tempeln der Griechen sei die Vorhalle sehr groß und schön und kühl gewesen, denn da hätten sie sich sammeln sollen, ehe sie in das Heiligtum eingetreten seien. Und der Sonnabend solle die Vorhalle zum Gottesdienst des Sonntags sein.
Im Sommer trägt man am Morgen die hohe Blumenvase für Vaters Schreibtisch hinein, und an diesem Tag steht nur eine einzige auserlesene Blume oder zarte grüne Reislein darin, die man weit, weit irgendwo im Wald oder aus dem Felde geholt, oder die man im Garten sorgsam gepflegt hat. Außerdem kommt man an diesem Tag gar nicht in die Studierstube hinein, und nur das Ticken der großen Bornholmer Uhr dringt zu einem heraus.
Am Abend kann dann Vater zu Mutter sagen: »Es ist merkwürdig, wie einem bei einem und demselben Bibelwort, so oft man wirklich anklopft, immer eine neue Tür erschlossen werden kann.«
Und Mutter erwidert, sie sehne sich schon darnach, morgen durch diese Tür einzutreten; denn Vater wird nie über seine Predigt ausgefragt. Es ist ja eine Verkündigung und kein Schulaufsatz.
Allerdings füllt der Gedanke, wie Vater das Wort den andern nahe bringen soll, die Vorbereitung des einsamen Sonnabends aus, aber der Sonnabend paßt eben doch besser für Vater als der Sonntag, wo er das Ziel erreicht hat.
Und Mutter sagt auch, Vater führe seine Zuhörer von der Kanzel aus auch weniger in die Sonntagsgnade und in die allgemeine Christenfreude hinein, sondern vielmehr in die Stunde der einsamen Vorbereitung und der Prüfung.
Ja, es kommt einem selbst vor, als werde man in Vaters Kirche nicht so von Herzen froh wie auf der Wiese und im Haselnußgang, ohne daß man sagen könnte, warum; aber es ist eben so ganz still in der Kirche, während Vater droben steht und predigt, viel stiller, als wenn man an einem Werktag hinein kommt, wo sie öde und leer ist.
Mutter sagt, das komme daher, daß Vater eines nach dem andern an der Hand nehme und hinführe auf einen ganz schmalen vergessenen Pfad, der oft von Gras überwachsen sei, auf den Pfad, der in das stille Kämmerlein des eigenen Herzens führe, und das zu betreten so viele Menschen versäumten.
Das, ja das kann Vater – und in der Kirche will er nie etwas anderes, als was er kann, weil er sich jeden Sonnabend an seinem einsamen Schreibtisch wiederfindet. Deshalb spricht er auch am Sonntag von nichts, was außerhalb oder auf der Seite liegt.
Wenn Vater aus der Kirche zurückkommt, schlingt Mutter die Arme um seinen Hals und sagt mit den Worten eines Heldenlieds: »Sie wählte den Pfad, den grünen, der im Grunde des Meeres lag. – Ja, du kannst mir bis auf den tiefsten Grund meiner Seele helfen. Jakob. Ohne dich würde ich an der Oberfläche hingleiten.«
Vater sagt, nein. Mutter sei viel mannigfaltiger als er, denn sie könne draußen und drinnen, oben und unten sein.
Aber Mutter bleibt bei ihrer Ansicht, und eines Tages, als sie auf dem Hügel sitzt und vertraulich mit einem spricht, sagt sie: »Siehst du, Vater hat mich vom lieben Gott bekommen, damit er sich auf dem Wege nicht festfahre, aber ich bekam ihn, damit ich nicht durchgehe.«
Nun, dann ist es ja gut, daß Vater so ist, wie er ist, und nicht ein klein bißchen anders.