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Gelbe und lila Krokus sprießen aus der schwarzen Erde im Pfarrgarten hervor, und Else hat ihr schwarzes Kleid abgelegt.
Im Lauf des Frühjahrs wird Mathildens Verlobung veröffentlicht. Onkel Rektor gibt seine unnötigen Bedenken auf, und die Hochzeitsvorbereitungen sind in vollem Gang. Das kleine Haus im Skovholmer Park unten, das ein früherer Besitzer zum Witwensitz des Gutes erbauen ließ, will der Jägermeister für das junge Paar einrichten. Da es aber gründlich restauriert und ein Erker angebaut werden soll, kann es nicht bis Johanni fertig werden, sondern erst zum Herbst.
Die Einrichtung von »Klein-Trianon«, wie Tante Lulle es nennt, gibt dieser Gelegenheit, ihr Zelt im Lauf des Sommers mehrmals in Skovholm aufzuschlagen. Der Jägermeister will in allem ihren Rat hören, und Mathildens Aussteuer soll dem Hause genau angepaßt werden. Es schwirrt einem in den Ohren vor lauter »weißer Lackierung, Vergoldung und Pompadourmustern«, wenn man mit Tante spricht, aber es ist doch recht behaglich, sie in der Nähe zu haben.
Der Jägermeister schwärmt für sie; so lange sie da ist, wird allem Wettern von seiner Seite vorgebaut. Tante versteht es, auf seine Ideen und auf die der andern einzugehen, und doch schließlich ihre eigenen durchzusetzen.
»Sie ist eine kluge und eine tüchtige Frau,« sagt der Jägermeister, »und eine schöne Frau obendrein!« Das letzte wird als Wurfgeschoß gegen Fräulein Mörk hervorgeschleudert, die zwar nicht hübsch ist, sich aber willig darein findet, daß Tante es sei; denn während Tantes Gegenwart ist die Stellung des Fräuleins viel leichter als sonst, und sie verschafft ihr eine Anerkennung, an die Fräulein Mörk sonst nicht gewöhnt ist. Tante Lulle hat ein wahrhaft phänomenales Anpassungsvermögen; selbst der junge Architekt, der Klein-Trianon umbaut, ist ganz hingerissen von ihr. Sie hört nicht nur seine Klagen an über die zunehmende Sittenlosigkeit der Menschen, die ihre jämmerlichen Landhäuser ohne einen Architekten zusammenkleistern wollen, sondern sie spricht selbst des langen und des breiten darüber, als ob dies der eigentliche Grundschaden der menschlichen Gesellschaft sei.
Der Architekt schwärmt für niedere, treuherzige Bauernhäuser, und auf Tantes Anordnung führt Else ihn in der Gegend umher, weil sie am besten wissen werde, wo richtige alte, einfache Höfe seien. Else findet das ganz angenehm, sie findet, daß sie bei diesen Spaziergängen selbst etwas lernt; aber Tantes geheimer Gedanke dabei geht ihr erst allmählich auf.
Julius hat die Kaplanstelle in S... bekommen, und Tante hat ihn sogleich eingeladen, an den Sonntagen bei ihnen zu essen und seine freien Abende bei ihnen zu verbringen. Julius hat bei ihr ein Verständnis für seine Predigten gefunden, das er selbst »selten« nennt. »In unsern Tagen,« sagt Tante, »kann die Verkündigung nicht ernst genug sein.« Aber in unsern Tagen muß Mathilde so pompadourmäßig als möglich ausgesteuert werden, daß Onkel beinahe bankerott darüber wird, und in unseren Tagen muß man bei so etwas wie Fritzens Unregelmäßigkeiten ein Auge zudrücken.
»Der I a-Mann ist auf dem Wege, sich dem Inventar der Rektorwohnung einzuverleiben,« sagt Fritz, »und dann weiß man schon, wie der Hase läuft; Hauswärme ist das sicherste von allem. Und obgleich ich selbstverständlich nicht das geringste gegen Henny habe, möchte ich doch das kleine Liebchen aus dem Pfarrhaus ungern missen. Ich glaube, ich will mich aufs Mormonische werfen und sie selbst nehmen.«
Else merkt, daß Fritz recht hat, denn Tante sagt: »Henny ist nicht so hübsch wie Mathilde, aber doch hübsch und fromm« – auf eine Weise, die einen nicht im Zweifel darüber läßt, daß sie an eine geistliche Versorgung für sie denkt. Aber Tante tut auch das ihrige, Else einen Ersatz zu verschaffen und sie anderweitig in Atem zu erhalten, damit sie nicht störend in ihre Pläne mit Julius eingreife.
In den Ferien kommt Onkel Rektor mit beiden Töchtern. Über Mathildens ganzer schöner Erscheinung liegt ein seliger Glanz. »Aber wie süß du aussiehst, Elselein,« sagt sie. »Kommt es nur daher, daß du die Trauer abgelegt hast?«
Vater sieht Else an und lächelt ein wenig. Er weiß es besser, obgleich sie nicht darüber gesprochen haben. Nur einmal in der verflossenen Winterzeit, als die Tage allmählich länger wurden, hat er seine Hand auf die ihrige gelegt und gesagt: »Ich weiß nicht, ob du jetzt glücklich bist, aber ich freue mich über dich.«
Glücklich – nein, das trifft nicht ganz zu. Julius predigte einmal über das Christentum als den sichersten Weg zum Glück. Aber sie fühlt es eigentlich nicht so. Nein, es ist etwas ganz anderes als Glück. Ja, es ist ihr fast, als habe sie jetzt mehr Raum für den Schmerz als früher.
Aber das Gefühl, das ab und zu bei ihr auftaucht, das Gefühl von jener Nacht, wo Mutter starb, als der Morgenstern am Himmel stand und alles gut geworden war, das hat sie nun zu eigen als eine ruhige Gewißheit. Die Unsicherheit des Lebens ist noch immer um sie her wie früher, aber die Sicherheit des Lebens, die trägt sie in sich.
Die Angst, die sich so unlöslich fest an jeden Menschen anklammert, für die es hundert Namen gibt, und die doch immer nur dasselbe ist: die bittere Folge der Sünde und die kalten Vorläufer des Todes – sie ist verschwunden. Im tiefsten Innern, wo sie ihren Sitz hatte, und wo es sonst ertötend leer war, da rinnt jetzt Leben wie ein leises, ununterbrochenes Flüstern. Da, wohin kein anderer Mensch dringen kann, wo man so verzehrend allein mit sich selbst ist, da ist sie nun zu zweit, denn da im tiefsten Innern hat sie sich einem andern zu eigen gegeben – und wo man einem andern gehört, ist man nicht mehr allein.
Der Kirchhof da draußen ist noch ebenso groß, er reicht noch immer bis ans Ende der Welt; aber sie weiß, daß er nie hereindringen, nie etwas von ihrem lebendigen Herzen verschlingen wird, weil da drinnen einer ist, der ihn zurückhalten würde.
Ach, wie leid tun ihr alle die, die draußen auf dem großen Begräbnisplatz sitzen und gewärtig sind, daß er auch das verschlinge, was in ihnen ist, die tiefe Sehnsucht und das Recht zu sein, die allen Lebendigen eigen sind, die sie sich selbst aber nicht zu wahren vermögen.
Warum, warum wollen sie es denn nicht öffnen, dem einzigen, der es kann?
Ja, warum? Weil sie glauben, er sei der, der töte, der, der begraben wolle. Das hatte sie ja selbst auch geglaubt.
Sie wissen nichts anderes, als sich in Todesangst gegen den Einzigen zu wehren, der mit starken, liebevollen Händen alle die kleinen verkrüppelten Keime in ihren Herzen umfaßt und sie zu einer großen, großen Entfaltung vorbereitet – zu einer Hochzeitswiese mit Blumen.
»Die Hochzeitsleute«, ja, der Name paßt doch – wenn man auch noch trauern muß – für solche Leute, die die Hochzeitswelt in sich haben.
Die Hochzeitswelt – das ist neues Leben, besonders neue Liebe. In ihr wenigstens ist es so. Früher glaubte sie, ihr Herz sei voll bis zum Rande; aber es muß sich ausgeweitet haben, denn jetzt enthält es mehr, eine ganze Welt. Und Leben ist mehr als Glück …
Sie läutet doch zur Hochzeit, die kleine Glocke droben im Kirchturm. Sie ruft »alt und jung« herbei, damit sie diese Hochzeitswelt in ihre Herzen bekommen können.
Und sie ist von einem Ahnen begleitet – nein, das kann weder erklärt noch angefaßt werden, aber es ist da – wie die Frühlingsahnung, die an einem Märztag durch die Luft geht, eine Ahnung davon, daß der Kirchhof von innen heraus verdrängt werden kann, daß der, der eine Hochzeitswelt in sich hat, einmal – einmal – –
Das Lied, das Mutter so sehr liebte, hat den ganzen Frühling hindurch um Else her geklungen:
»Turteltaube, komm und schau,
Schau dort unters Strauchwerk schnell,
Lenzerinnrung wirst du finden –
Grüne Knospen schimmern hell!
Süße Ahnung – neues Leben,
Neuen Frühling wird es geben!«
Else kann es nicht vermeiden, daß ein gewisser Name jetzt oft um sie her genannt wird. Es geht ihr zwar jedesmal ein Stich dabei durchs Herz, und doch ist es, als ob sich ihr Ohr darnach sehnte.
»Der Jägermeister war so aufmerksam, auch Paul zu den Ferien einzuladen,« sagt Tante. »Aber er ist lieber mit dem Sohn des Amtmanns nach Jütland gereist. Nicht weil ihm dieser so besonders sympathisch wäre, aber die Urbarmachung der Heide interessiert ihn, und dann ist ja auch Herta dort. Sie legt es wirklich auf Paul an, und insofern passen sie ja auch zusammen, als sie beide gleich verneinend sind.«
Mathildens Hochzeit ist auf den ersten September festgesetzt. Vater meint, er und Else könnten die Einladung nicht ablehnen. Das junge Paar reist an demselben Abend ab. Der Jägermeister schenkt ihnen das Geld zu einem drei- bis vierwöchentlichen Aufenthalt in der Schweiz, von wo sie zu den Jagden, die Fritz seine beste Zeit nennt, zurückkehren.
Mathilde ist entzückt über diese Reise. »Das heißt die Schweiz – immer bergauf, bergab, das bekommt man doch wohl bald satt. Aber wir reisen über Paris zurück, da weiß man, was man hat. Fritz muß mich überall hinbegleiten, wo die Herren sonst allein hingehen; gerade an solchen Orten ist es außerordentlich gesund für sie, wenn sie die Frau bei sich haben. Es ist geradezu blödsinnig, mit was sich die Herrn zur Unterhaltung begnügen, und wenn sie es einer Frau zeigen sollen, dann gehen ihnen erst die Augen auf.«
Mathilde sitzt mit Else auf der Wiese und schwatzt in einem fort. »Denk dir, daß zwei Menschen so geradezu närrisch glücklich mit einander sein können – so sprudelnd – so rasend glücklich!« – Sie unterbricht sich selbst, lacht und sagt: »Das ist übrigens brillant ausgedrückt.«
Sie umarmt Else. »Heirate, Elselein! Das ist das einzige Gute auf der Welt. Findest du nicht auch, daß Fritz wundervoll gelocktes Haar hat? Wenn ich nur daran denke, daß ich mit meinen Händen hineinfahren kann, so toll ich will, so könnte ich laut hinauslachen. Lieber blind, lahm und blödsinnig dazu, als ledig bleiben. Man wird lange nicht um so viel betrogen! Meinst du, dein Vater werde einwilligen, mich zu trauen?«
»Ich dachte, Julius werde es tun.«
»Nein, er ist mir zu langweilig. Er ist so ein sanftes Lamm – und alle die großen, starken Ausdrücke, die er gebraucht, machen ihn nicht ein bißchen lebendiger. Onkel Jakob ist zwar auch trocken, aber ich kann seine Art doch gut leiden, und Julius wird ihm gerne weichen.«
Sie hält eine Marguerite an Elses Haar. »Du und Henny, ihr müßt meine Brautjungfern sein. Sieh mich nur nicht an, als ob ich dich auffressen wollte. Ihr werdet süß aussehen. Hast du keine Lust dazu? Ihr müßt ganz in Weiß sein. Weißer Tüll mit Margueriten, und einen Kranz davon im Haar. Wenn nur Henny nicht denkt, es sei gottlos, wenn man hübsch aussieht. Sie ist ja jetzt ein wenig so …«
Ja, Henny ist jetzt ernst und sanft, früher war sie oft ziemlich ungut; wenn sie nur auch etwas von ihrem Selbstgefühl ablegen könnte.
»Sie wird schließlich doch mit Julius enden,« sagt Mathilde, die noch immer Margueriten pflückt. »Sei du froh, daß du dem I a-Mann und den zwölf Kindern entgehst. Wie gefällt dir eigentlich der Architekt?«
»Er ist im stillen verlobt.«
»O weh, dann hat sich Mutter gründlich verrechnet! – – Else, weißt du, warum ich all das Zeug schwatze? Jawohl, das tu ich! Weil ich so glücklich bin, daß ich es fast nicht mehr ertragen kann. Weißt du, was ich tun werde, um Fritz an mich zu fesseln? Nein, ich sag's nicht! … Ich will ihn nur, nur glücklich machen! Hast du gehört, daß Henny Paul zu bekehren versucht?«
Das Blut steigt Else in die Wangen. »Das soll sie nicht! Das verdirbt ja alles!«
»Ja, da hast du ganz recht. Es ist die gute Idee des I a-Mannes, und ganz gewiß hat Paul deshalb nicht hierher gewollt.« Sie hält inne und sieht Else an. Dann steht sie auf und sagt: »Jetzt gehen wir hinein und fragen Onkel Jakob, ob er will.«
Paul, um den sie sich nie gekümmert haben, der eigentlich nie so recht für sie existiert hatte – jetzt hat Henny ihn als Gegenstand für die Bekehrungsversuche entdeckt, durch die sie bei Julius steigen kann! »Ach,« denkt Else, »ich urteile vielleicht zu hart. Aber Henny hat kein Recht, nicht das geringste.«
Vater sträubt sich zuerst. »Ich traue überhaupt nur ungern.«
Ach, wie Else sich an Mutters lachendes Gesicht erinnert. »Leider – ist hier eine Trauung für dich, Jakob. Und das Brautpaar sah mir nicht darnach aus, als wollte es um deinetwillen ein Begräbnis daraus machen.« –
»Vielleicht mich besonders nicht,« sagt Mathilde. »Bist du aus religiösen Gründen dagegen?«
»O nein, in dieser Beziehung paßt ihr gewiß ganz gut zusammen. Deine Mutter nennt euch ja beide ›Suchende.‹ Und ich könnte mir eher denken, daß diese Verbindung für dich den Anstoß geben könnte zu … Sie wird dir wohl einzelne Enttäuschungen bringen, und du hast so viel gesunden Realismus, daß du dich dann vielleicht nach etwas anderem, etwas Bleibendem umschauen wirst.«
»Du glaubst freilich, ich trete ganz leichtsinnig in den Ehestand hinein, Onkel Jakob, aber ich will dir nur sagen, daß ich ohne jegliche Illusionen bin.«
»Es ist gewiß auch weise von dir, wenn du sie dir vorher abschaffst – wenn du das kannst.«
»Ich erwarte nicht, daß Fritz vollkommen sei, ich will ihn mit allen seinen Fehlern lieben, und ich baue auch nicht auf ihn, sondern auf meine Liebe.«
»Laß es lieber Julius tun,« sagt Vater. »Ich bin ein trockener Kumpan bei solchen Gelegenheiten und sage meine Meinung gerade heraus.«
Aber Mathilde bringt ihn schließlich doch dazu, Ja zu sagen. Der erste September ist ein strahlend schöner Tag. Vater und Else machen sich früh am Morgen auf den Weg. Mutters kleine Standuhr aus Alabaster mit dem hellen Glockenton, »der nur frohe Stunden verkünden kann«, ist nach Klein-Trianon geschickt worden. Vater wollte sie Mathilde gerne schenken.
Elses Kleid und die Blumen dazu hatte Tante besorgt; der Anzug ist reizend, genau wie Hennys, weiß mit Margueriten, und Fritz hat jeder eine Margueritenbrosche aus echten Perlen dazu geschickt.
Else kleidet sich im Hotel um; sie fährt mit Vater vor die Kirche und dann in die Rektorwohnung, von wo sie die Braut begleiten soll. Der Wagen mit den Schimmeln hält schon vor der Tür, und Else eilt die Treppe hinauf.
Im Wohnzimmer stehen der Onkel, Henny und Mathilde; die andern sind glücklicherweise schon abgefahren. Else tritt einen Schritt zurück und hat große Lust, sich zu verneigen. Die Braut ist so blendend schön in ihrem knisternden seidenen Schleppkleid und dem wogenden Schleier. Wie Meeresschaum leuchtet es um sie her, und ihr prachtvolles glänzendes Haar lockt sich hoch aufgesteckt unter dem Kranz.
»Ach, Mathilde, wie schön du bist!«
»Ja, ja, und du und Henny, ihr seht beide ganz allerliebst aus, aber sag jetzt nur nichts mehr – – Wenn du diesen Handschuh durchaus anhaben mußt, Vater, ehe wir in den Wagen steigen, müssen wir ihn lieber auf ein anderesmal bestellen.«
Mathilde ist tüchtig nervös; doch das ist natürlich, wenn man so jubelnd glücklich und gerührt ist, und sich doch nicht nachgeben darf.
Während sie nach der Tür gehen, legt ihr Henny den Arm um die Schulter. »Mathilde, nun gehst du zum letztenmal aus der Heimat hinaus als –«
»Ja, liebste Henny, aber ich kann dir wirklich den Gefallen nicht tun, jetzt zu weinen. Ich will keine rote Nase bekommen – Petrine, fassen Sie die Schleppe nicht an, als ob es ein Scheuerlappen wäre!«
Im Wagen beginnt Onkel Rektor zu nießen. Meistens muß er es dann neunmal nach einander, und zwar recht laut. Mathilde wird noch unruhiger.
»Gib dir Mühe, daß du es auf einmal abmachst, Vater,« sagt sie, »denn in der Kirche haben wir ja die Orgel.«
Henny sieht sie vorwurfsvoll an und legt ihre Hand sanft auf die des Vaters. »Ich muß immerfort an Paul denken, Vater. Er ist jetzt in der Kirche, wenn doch Onkel Jakob ein Wort fände, das ihn träfe.«
»Ja, mein Kind.« – Der Rektor nickt etwas zögernd.
In Else regt sich ein zorniges Gefühl. »Ich denke immerfort an Paul.« O, kann man das sagen, wenn man es wirklich tut?
Der Wagen hält vor der Kirche. Eine Schar Leute ist davor versammelt, und sie besteht für Elses Augen vorzugsweise aus sehr großen minderjährigen Kindern, die ohne eigentlichen Grund von ihren größeren Schwestern getragen werden.
Der Küster eilt aus der Kirche heraus. »Das ganze Gefolge ist jetzt versammelt, dann kann man droben wohl anfangen.«
Er schlüpft in die Kirche hinein, und man hört ihn mit irgend etwas auf irgend etwas klopfen.
Da überfällt Mathilde plötzlich ein Zittern, und sie klammert sich an den Arm ihres Vaters an. »Ach, ich bin so oft unartig und unfreundlich gewesen, ich danke dir für alles, Vater.«
Else zittert vom Kopf bis zu Fuß, und sie hat das Gefühl, als wanke der Grund unter ihr.
Die Kirchentüren öffnen sich, und Orgeltöne brausen ihnen entgegen … Ach, wie schön! Dies gibt einen Halt, das stützt und trägt – innig und fest – hinein unter das große Gewölbe, wo ein goldener Abendsonnenschein mit den Lichtern um die Wette strahlt, und wo es einem ist, als sei man gar nicht mehr auf der Erde.
Als sie im Chor Platz genommen haben, fühlt Else, daß ihr gegenüber Paul sitzt. Dies ist schmerzlich und freudig zugleich, und auf einmal ist es ihr, als gehe dies alles nur ihretwegen vor sich, und als seien er und sie diejenigen, um die es sich handle …
Hier erwartet er sie, an dieser heiligen Stätte … Und sie kommt ihm entgegen – geschmückt mit den weißen Hochzeitsblumen – und das herrliche Lied handelt von zwei Herzen, die vereinigt werden – und der Refrain kehrt wieder, weich wie das Rieseln einer Quelle: »Da winket der Weg wie die Wiese im Mai!« Ach ja, selbst die Wiese von daheim ist mitgekommen … Er denkt daran gerade wie sie – und es klingt noch immer in ihr nach, daß die Wiese der Weg sei.
Fritz ist sehr schön und lockig; er sieht aus, als würde er am liebsten weinen und am liebsten alle drei auf einmal umarmen. Julius sitzt im Ornat da; er und Henny wechseln einen bedeutungsvollen Blick.
Onkel Rektor führt Mathilde an den Altar, die Brautjungfern folgen, und Else steht Paul fast gegenüber. Sie weiß, daß er sie die ganze Zeit ansieht, während ihr Gesicht auf den Altar gerichtet ist.
Vater nimmt das Wort. Ach, welch ein sonderbarer Anfang für eine Hochzeitsrede! Wenn nur die andern das nicht auch finden!
»Ich sprach einmal mit einem Missionar, der zum zweiten Male nach Indien hinauszog, wo er vorher schon zehn Jahre gewirkt hatte. Und ich fragte ihn, ob er sich einige von den Illusionen seiner ersten Reise habe bewahren können. ›Nein‹, antwortete er, ›nicht eine. Weder die von der Sehnsucht der Heiden und ihrer Empfänglichkeit des Wortes, noch von der Wirkung meiner eigenen Verkündigung! Alle sind zerplatzt wie Seifenblasen; aber gerade deshalb ziehe ich wieder hinaus, denn wenn die letzte Illusion versagt, da erst kann der Glaube recht beginnen!‹«
Vater sagt, er habe daran denken müssen, weil es kaum ein Fest gebe, zu dem man mit so vielen Illusionen komme, wie das heutige. Der Ehestand mache ja überwiegend oft den Illusionen zweier Menschen ein Ende, sowohl den Illusionen über einander, als auch denen von der Stärke und Macht ihrer eigenen Liebe. Und nach dem zu urteilen, was man ringsum in den Häusern sehe und höre, seien diese nicht besonders dauerhaft. Der Fehler liege übrigens nicht daran, daß man Illusionen hege, sondern vielmehr daran, daß die Menschen nichts anderes hätten, worauf sie bauen könnten. Denn Illusionen könnten nicht tragen.
Und nun legt er den beiden ans Herz, nicht auf ihre schönen Illusionen von einander oder von sich selbst zu bauen, sondern es zu machen wie jener Missionar, und zwar ehe die Illusionen zerplatzt seien, nämlich sie mit dem Glauben zu vertauschen, ihre Hoffnung auf Glück, ihre gegenseitige Liebe und ihren Glauben an einander auf den Felsen zu gründen, der allein ihr gemeinsames Leben über der Brandung halten und sie in festem Wachstum im Wechsel der Zeiten bewahren könne.
Vater spricht noch weiter, aber Else hört nicht mehr zu. Bei einem zufälligen Seitenblick hat sie Herrn Müller ins Gesicht gesehen, und ein Bild taucht vor ihr auf, an das sie seit langer Zeit nicht mehr gedacht hat.
Zwischen großen sonnverbrannten Feldern gleitet der Nil schmal und still durch die warme finstere Nacht dahin. Ein Rauschen wie von großen Flügeln geht durch die Finsternis, und der Tropfen fällt in den Fluß wie eine glänzende Perle – –
»Die Verneinung trocknet das Herz aus, und die Kultur allein kann nicht helfen,« hat Vater gesagt. Nein, das ist unmöglich – aber irgendwo da drinnen ist der fließende Strom, der weit, weit über seine Ufer rauschen und brausen und die verbrannten Stätten bewässern kann, sodaß der Boden für neues Leben erstünde, wenn nur – wenn nur – der eine Tropfen aus dem Becher Gottes auf die lebendige Stelle fallen würde!
Könnte wohl ein Wort aus Vaters Rede dieser Tropfen werden? Nein, es kommt ihr nicht so vor – und ein Wort dürfte es auch nicht sein, jedenfalls hier nicht. Ein Wort würde sogleich von den Gedanken aufgenommen, überlegt und kritisiert werden, es würde nur ein wenig leichten Wüstensand um sich her aufwirbeln, aber nicht bis zu der lebendigen Stelle gelangen.
Es steht noch immer vor ihr, das Bild von dem Fluß, dessen glänzende Fläche in unbewußt bebender Ahnung erschauert.
Vater frägt das Brautpaar; es antwortet … Jetzt sind sie Eheleute und treten vom Altar zurück. Mathilde ist so sanft und strahlend, und um sie her singt und jubelt es von der Freude, die sie begleiten werde.
Der Augenblick, der Else hoch hinausgehoben hatte, ist vorbei. Als die Kirchentüren sich schließen, meldet sich die Erde wieder, und hart deucht sie dem Fuß, der darauf tritt. Das Hochzeitsessen ist eine lange Plage. Was nützt es, daß der große Schulsaal in einen feenhaften Blumengarten umgewandelt worden ist, daß Tantes flinke, geschickte Finger einen Tisch gedeckt haben, der ein Meisterwerk ist, und daß die Speisenfolge zusammengesetzt wurde, wie nur sie es vermag? Deshalb ist es doch ebenso unerträglich!
Else sitzt neben Onkels jüngerem, unverheiratetem, aber doch recht »älterem« Bruder, weil der, den sie hätte haben sollen – – Ob er es sich selbst verbeten hatte? Ihr Tischherr ißt Brot zwischen den einzelnen Gängen und spricht fast die ganze Zeit in einer freundlich gewandten Weise – hauptsächlich von Tatsachen, denen man nicht widersprechen kann. Das erleichtert ihr ihren Teil, aber dazwischen muß sie doch einmal ja sagen.
Pauls Stimme kann sie hören, doch ohne ihn zu sehen. Sie klingt fremd und hart und läßt nichts erraten; er spricht ohne besonderes Interesse, aber das tut sie ja auch, so oft sie ihrem Tischherrn antwortet, und das tun gewiß noch andere – wohl die meisten. Ach, wie unnatürlich doch die Geselligkeit ist!
Paul hat Emmy Brun, die Nichte des Jägermeisters, zu Tisch, aber Amtmanns Herta sitzt ihm gerade gegenüber. Sie ist auch in Weiß, mit goldenen Stickereien und Goldschmuck. Es heißt, sie sehe orientalisch aus und habe ein fast ägyptisches Profil. Else weiß wohl, so oft Paul Herta ansieht, wendet diese mit einem schmerzlichen Ausdruck den Kopf weg, ihre kleinen Nasenflügel weiten sich ein wenig, und um die Mundwinkel zeigt sich ein Zug, der einen fast unbezwinglichen Schmerz andeuten soll. Elses Hände umschließen krampfhaft die Serviette in ihrem Schoß. Ach, sie sollte gar nicht hier sein; es tut ihr so weh, es stört ihre Ruhe, es raubt ihr die Kraft!
Daß die Menschen doch nicht fertig werden können mit all ihren schönen Worten, die sie einander sagen, und von denen sie im täglichen Leben nichts wissen! Dieses ewige Hochlebenlassen und Gläserklingen!
Des Jägermeisters Rede besteht aus stoßweisen unartikulierten Aussprüchen, denen die Tante mit kleinen, lächelnd eingeschobenen Worten wirklich etwas Zusammenhängendes zu geben vermag.
Fritz steht auf und erklärt, wenn ein ganz gewöhnlicher – oder mehr als ein gewöhnlicher – Esel darauf verfalle, um eine Göttin zu freien, müßte eigentlich die Unterbringung in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses die einzige natürliche Folge sein; und dann wendet er sich mit bewegten Dankesworten an seine Schwiegereltern mit dem Versprechen, daß es nicht so schlimm werden solle, wie es aussehe.
Onkel Rektor stärkt sich selbst mit einem klassischen Zitat und tut kund, daß es nichts Glückseligeres auf dieser Welt gebe, als wenn ein Mann und eine Frau mit zwei einträchtigen Herzen –
Vater zerkrümelt sein Brot und sieht betrübt aus. Else treten die Tränen in die Augen, und sie nickt zu ihm hinüber. Ach Mutter –
Übrigens hält Vater eine humoristische Rede auf Mathilde, die er im vorigen Jahr wie ein Cerberus habe bewachen müssen, während sie in ihren »eigenen Gedanken« spazieren gegangen und der Onkel Rektor so leichtsinnig gewesen sei, auf den Blocksberg zu steigen.
Jetzt kommt Fritz schon wieder, und er gedenkt der beiden allerliebsten Margueriten, die heute auch am Altar gestanden hätten. – Ach, was Paul wohl denkt! – Hinter dem Rücken seiner Frau, und am liebsten, ohne daß der hochehrwürdige Onkel Jakob es hörte, will Fritz der Gesellschaft anvertrauen, daß er geglaubt habe, sie seien in die Trauung mit eingeschlossen, und dies auch von ganzem Herzen gewünscht habe – Mathilde schlägt ihn auf die Finger – da dies aber vielleicht doch nicht angehe, hoffe er, daß sie bald mit einem andern – nicht allzu großen Döskopf von einem Manne – neben sich dort stehen werden.
Ach, wäre sie doch weit weg von allen diesen klingenden Gläsern!
Wenn eine kleine Pause zwischen den Reden eintritt, und man meint, man könne fertig essen, so ist gleich jemand mit einem Gedicht da. Der Sohn des Amtmanns gibt ein witziges, aber gar nicht nettes preis, daß Mann und Frau zu etwas anderem geschaffen worden seien, als nur sich gegenseitig anzusehen, und daß Fritz dies sehr schnell entdeckt habe. – – Ist das auch etwas? Else singt nicht mit; seine Worte in ihrem Mund, nein, danke!
Julius bringt ein ernstes Lied vor, das auch nicht nett ist; aber sein Toast auf Fritz ist sehr schön. Julius' Liebe zu seinem Bruder hat wirklich etwas Rührendes; zugeben sollen, daß Fritz nicht bekehrt sei, das bringt er nicht übers Herz – andern gegenüber wenigstens niemals.
Ein drittes Lied, mild und unschädlich, bloß mit einer kleinen, langweilig-schelmischen Anspielung, daß die beiden möglicherweise zu drei oder mehr werden könnten – Else errät leicht, daß es ihr Tischherr verbrochen hat. Und damit niemand im Zweifel darüber sei, steht er auch gleich nachher auf und sagt akkurat dasselbe, nur ohne Reim.
Paul ist so ziemlich der einzige, der schweigt; er ist kein Festredner.
Endlich, endlich ist es vorbei, und gleich nachdem die Tafel aufgehoben ist, verschwindet Mathilde. Sie macht Else ein Zeichen, ihr in ihr Zimmer zu folgen und ihr beim Umkleiden zu helfen. Während Else ihr vorsichtig Kranz und Schleier abnimmt, denkt sie die ganze Zeit: Dies sollte eigentlich Fritz tun, und wie störend es doch sei, in aller Eile gleich auf und davon zu fahren.
»Wie sonderbar es dir vorkommen muß, jetzt gleich auf der Eisenbahn zu fahren,« sagt sie.
»Ja, aber es dauert nicht lange. Ich verstehe nicht, warum Mutter den Leuten erzählt, wir reisten die ganze Nacht hindurch, denn das tun wir nicht. Nach ein paar Stationen steigen wir aus, Fritz hat irgendwo Zimmer bestellt, denn ich will morgen früh nicht verdrießlich sein, und deshalb muß ich heute nacht schlafen.«
Mathilde ist jetzt nicht mehr so unruhig, sondern zerstreut und so ernst, daß Else den Arm um sie legt und sagt: »Mathilde, du bist doch jetzt glücklich?«
Mathilde nimmt ihr Gesichtchen zwischen ihre beiden Hände und preßt es so innig an sich, daß Else fast der Atem vergeht. »Du Kindskopf,« sagt sie. »Aber siehst du, kleine Else, wenn es so ganz nahe herankommt, selbst das allerbeste – dann wird einem doch ein wenig angst … Ach, nicht in einer törichten Weise, verstehe mich recht, sondern vielleicht angst, man könne es nicht recht anfassen. Es ist doch etwas, das glücken muß – – denn glaube mir, es gibt viele Ehen, die gleich von Anfang an wie der schiefe Turm von Pisa beginnen.«
Sie steht in einem mattblauen, mit schönen Stahlstickereien verzierten Anzug vor Else und setzt eben einen großen Hut mit wallenden Federn auf ihr helles Haar. Plötzlich lacht sie in den Spiegel hinein. »Du kannst glauben, daß sie mich alle beneiden, alle die Frauenzimmer da drin? Er ist ja der schönste Mann von der Welt!«
Jetzt ist sie fertig. »Das ist wahr, Else, ich wollte dir auch noch etwas sagen. Fritz ist gar nicht so blind, wie du meinst. Er hat sehr oft gesagt: ›Etwas ist gewiß zwischen ihnen vorgegangen dort im Haselnußgang‹.«
Else streckt entsetzt abwehrend die Hand aus.
»Nein, ich will nicht in dich dringen. Du weißt, ich habe Paul immer ziemlich fern gestanden und ihn eigentlich nicht sehr anziehend gefunden. Fritz ist ja so herzensgut, und deshalb kann man bei ihm wohl ein Auge zudrücken. Aber Paul habe ich nie eigentlich gutmütig gefunden.«
Weil sie nie bis zu dem guten Punkt bei ihm durchgedrungen ist. Ach, niemand kann so gut sein wie Paul. Fritz – der ist ja nur gutmütig – sonst eigentlich nichts.
»Ich weiß nicht, was du denkst, Else, aber so viel weiß ich, wenn er Herta in die Hände fällt, wird er nicht besser. Sie ist völlig herzlos, aber leidenschaftlich, wie die Frauen ohne Gefühl ja meistens sind, und dann sind sie viel widerwärtiger als die Männer. Gerade heraus gesagt – sie will ihn ausdörren.«
Sie schlingt die Arme um Elses Hals. »Denk darüber nach, hörst du!«
In diesem Augenblick tritt Tante ein, denn der Wagen ist vorgefahren. Obgleich sie über den Abschied von Mathilde sehr bewegt ist, wirft sie doch rasch einen inspizierenden Blick auf das Bett, wo das Brautkleid liegt, und streicht hurtig ein paar Falten glatt.
Onkel Rektor, Tante, Henny und Else gehen mit die Treppe hinunter, Fritz steht am Wagen.
»Laß es nun bei dem zehnfachen obligaten Abschiednehmen bewenden,« sagt er, »und weine nicht zu lange zwischen jedem einzelnen, kleine Thilde, denn die ungesetzliche Entführung muß etwas rasch vor sich gehen, sonst fährt uns der Zug vor der Nase weg, und dann gute Nacht!«
Mathilde lacht und schüttelt den Kopf über ihn, hat aber genug vom Abschiednehmen, lange ehe der zehnte erreicht ist, obgleich sie viel zärtlicher ist als sonst und sagt: »Ich habe euch alle mit einander sehr lieb,« so daß es einem innig wohl tut.
Plötzlich beugt sie sich, warm und schön, dicht an Else vorbei vor und küßt jemand hinter dieser. »Adieu Paul,« sagt sie.
Noch ein Winken, und der Wagen rollt zum Tor hinaus.
Als Else sich umdreht, steht sie gerade vor Paul. »Na, bist du da? Guten Abend,« sagt er.
Vater kommt mit Elses weißem Schal die Treppe herab, denn es wurde ihm gesagt, sein Wagen sei auch da, und es ist gut für Else, daß sie sogleich verschwinden können.
Denn diese Worte und die harte fremde Stimme dringen auf sie ein wie Keulenschläge, die die Herzenserinnerungen zwischen ihnen zertrümmern wollen, und das darf nicht geschehen.