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14. Januar.
Meine liebe, liebe Mutter!
Glaube mir, es wird mir ziemlich schwer, mich nach den schönen Weihnachtsferien wieder anzugewöhnen, hauptsächlich, weil ich es jetzt wieder gewohnt war, alles mit Dir durchzusprechen und Dich um alles um Rat zu fragen. Ich vermisse Dich so sehr, und bei allen Aufgaben, die ich zu machen habe, ist immer so vieles, was mir im Buch unverständlich ist, mir aber gleich klar wird, wenn es jemand mit mir durchspricht.
Henny und Mathilde sind sehr begabt, Mutter, aber es kommt mir doch vor, als seien sie in den Stunden recht oberflächlich. Ich glaube, sie haben gar nie ordentlich denken gelernt. Sie verstehen immer alles gleich, und deshalb meinen sie, sie brauchen nicht darüber nachzudenken. Wenn man sich eine Sache ordentlich überlegt, sagt man freilich sehr oft nichts, aber ihnen ist das wichtigste das Sprechen, ja nur über alles zu sprechen. Es ist komisch, aber sie sind gerade wie Tante. Und dann meinen sie, die Hauptsache auf der Welt sei, begabt zu sein. Aber das kann ich nicht einsehen – wenn es auch noch so angenehm sein mag.
Übrigens machen sie allmählich die Entdeckung, daß ich eine gute Grundlage habe. Im Anfang pflegte Henny mich vorzustellen: »Meine Cousine vom Lande. Sie weiß, daß Christian IV im Jahr 1648 gestorben und daß der Mond ein Käslaib ist, damit basta!« Und Mathilde fügte hinzu: »Wenn der Wind südlich ist, kann sie einen Kirchturm von einem Laternenpfahl unterscheiden, so gut wie der selige Hamlet.« – »Und Hafer von Gerste!« hätte ich beinahe hinzugesetzt, aber ich dachte: Nein, wozu!
Aber jetzt sind sie oft ganz überrascht – wie neulich, wo die neuen Stunden bei Herrn Müller begannen. Er ist Adjunkt an der Schule, wir haben Deutsch bei ihm. Er soll uns auch in den verschiedenen Religionen unterrichten, und Mathilde sagte, er werde uns aus dem Koran vorlesen. Da fragte ich, in welcher Sprache, da es doch keine dänische Ausgabe vom Koran gebe. Als Herr Müller mit dem Buch kam, sah ich, daß es die deutsche Ausgabe war, die Vater auch hat, und sagte, Mutter habe ihn gelesen und mit mir darüber gesprochen – denn das hast du doch, Mutter. Und da sagte Herr Müller: »Sieh, sieh!« und es war fast, als sei das Mathilde nicht angenehm.
Heute nach der Stunde hat er noch etwas erzählt, was du hättest hören müssen, Mutter. Er sagte, am Nil habe man eine schöne Sage. Wenn die Erde ganz ausgetrocknet sei, steige in einer Nacht ein Engel vom Himmel herab, und an seinem Finger hänge ein Tropfen aus dem Becher Gottes, den der Engel in den Fluß fallen lasse. Da beginne der Nil zu wogen und zu rauschen, und er walle über seine Ufer, bis das ganze durstige Land gewässert und fruchtbar gemacht sei. Man wisse nicht, wann diese Nacht komme, aber sie sei heilig, und man nenne sie »die Nacht des Tropfens«.
Mathilde sagt, man lerne viel leichter, wenn man in seinen Lehrer verliebt sei, deshalb hat sie sich jetzt in Herrn Müller verliebt. Sie sagt, er habe manchmal etwas geradezu Überirdisches, und glaubt auch, daß er seit seiner Reise nach Indien Buddhist sei.
Henny sagt, sie ziehe Literatur und Französisch vor, was so viel heißt, als Herrn Frydental, denn der sehe eher unterirdisch aus – und das tut er auch wirklich. Es ist ein bißchen komisch, wenn er der »Hernani« ist, den wir in verteilten Rollen lesen – aber er kann ja nichts dafür.
Paul ist in den Ferien hier gewesen, aber wieder abgereist, ehe ich zurückkam. Jetzt ist er ja Doktor – das heißt auf die Weise, wie man es durch eine Dissertation wird. Weißt Du, ob er dann später Professor wird? »Es ist ein rechter Kummer, daß er Atheist ist,« sagt Tante. Aber sie sagt es in ihrer gewohnten lebhaften Art. Glaubst Du nicht, teilweise liege die Schuld auch daran, daß er keine Mutter gehabt hat, wenn sie auch unliebenswürdig war? Er ist auch Redakteur einer Zeitschrift geworden, die »Der neue Tag« heißt. Er sagt, jetzt sei es vorbei mit den alten Tagen, wo der liebe Gott die Welt geschaffen habe, auf der wir als die Sünder umherwandeln, denen er mit der Rute drohe. Er hat die Bibel in einem Stück angegriffen und verspottet – ich glaube, es handelte sich um Simson und um Josua, der die Sonne stille stehen hieß. Er habe einen dichten lockigen Haarwald und einen großen Bart, sodaß er aussehe wie ein Wilder, und nun auf eine schöne Art häßlich sei, sagen sie hier.
Liebe Mutter, meinst Du nicht auch, es sei recht leicht, die andern in die Enge zu treiben, ich meine die, die nicht an den Herrn glauben? Denn zugegeben, daß das, was man die Evolutionstheorie heißt, auf Wahrheit beruhe und Übergangsformen vom Tier zum Menschen gefunden worden seien – was sie nicht sind, wenn auch Fritz seinen Hauslehrer, den Herr Oeberg, »Darwins fehlendes Glied« nannte – wer sollte dann die Urzelle geschaffen haben? Onkel sagt auch, man könne sich doch nicht selbst erschaffen.
Wenn Du spazieren gehst, Mutter, dann grüße alle Orte, aber nicht, falls Du dann noch mehr Heimweh nach mir bekommst. Das wäre komisch, wenn sich Hansine mit dem Pächter verloben würde, obgleich sie immerhin ein Jahr und anderthalb Monate älter ist als ich. Meinst Du, Vater vermisse mich ein wenig? Ich möchte am Sonntag lieber zu ihm in die Kirche gehen als in irgend eine andere auf der ganzen Welt. Es ist nicht ganz dasselbe, ob Petrine morgens an meine Türe klopft, oder ob Du hereinkommst und mich weckst. Manchmal ist es mir, als könnte ich die ganze Wissenschaft leichter entbehren als Dich, geliebte Mutter.
Tausend Küsse von
Deiner kleinen Else.
P. S. Du schreibst mir recht bald wieder, nicht wahr? Denn an dem Tag, wo ich einen Brief von Dir bekomme, fühle ich mich gar nicht einsam. Ist es nicht sonderbar, daß man sich zwischen so vielen Menschen einsamer fühlen kann, als zum Beispiel daheim im Haselnußgang, wenn man dort ganz allein ist? – Ach wie schön war es daheim, Mutter! Ich habe das früher gar nie so bedacht – und wie gut war es, wenn man ein wenig verzogen und auf Deine Weise von Dir erdrückt wurde. Und was Du kochst, ist auch viel besser als das Essen hier, denn daheim hat alles so einen kleinen angenehmen Beigeschmack von Dir selbst. Alle von hier lassen schön grüßen.
17. Januar.
Meine liebe, süße Else!
Tausend Dank für Deinen lieben Brief, ich lief über den Hof hinüber, um ihn zu holen – unter uns gesagt, in Schnee und Wind, sodaß Vater den Kopf schüttelte. Aber der Briefträger Per schlich mir an jenem Tag gar zu langsam einher. Nein, das Elsenkind ist nicht die einzige vom Pfarrhaus, die Heimweh hat.
Weißt Du, wie ich es am Morgen mache? Zu der Zeit, wo ich Dich zu wecken pflegte, schleiche ich mich noch immer in Dein Jungfernzwingerchen hinein, und wenn ich dann vor dem leeren stillen Bett stehe, wo ich mein kleines warmes Elsenkind nicht finde, und es nicht herzen und küssen kann, bis es verschlafen und erstaunt die Augen aufschlägt, aber dann auch ein wenig lächelt, sobald es sieht, wer da ist – da könnte ich jedesmal laut hinausweinen, und ich tue es vielleicht auch, wenn ich mich nicht recht zusammennehme, um der älteren vernünftigen Mutter zu gleichen, die ich eigentlich sein sollte.
Aber ich bin doch recht froh, daß Du diese kurze Spanne Zeit in der Stadt verbringst, um klug und gelehrt zu werden, wenn auch das bei weitem nicht das erste auf der Welt ist. Jaso, die Erzählung von der Nacht des Tropfens ist wunderschön. Ich hatte an dem Tag so viel zu tun, daß ich auf dem Punkt war, verdrießlich und reizbar zu werden; aber so oft ich an das Bild vom Nil dachte, in jener stillen geheimnisvollen Nacht, wo der Tropfen aus dem Becher Gottes herabfällt, wurde ich wieder ganz vergnügt. Die Erzählung enthält viel Schönes.
Sollten wir beide etwa den Koran nicht kennen und nicht wissen, was er für gute und tiefe Einzelheiten enthält, und welches Machwerk er doch als Ganzes ist?
Nein, als Regel glaube ich nicht, daß man mit solchen, die außerhalb stehen, über Religion streiten soll, denn sehr häufig haben die andern mehr Verstand und die meisten Kenntnisse, die sie ins Feld führen können; und eine schlechte Verteidigung ist für die gute Sache nur nachteilig.
Es gibt gewiß keine bessere Methode, auf die Leute einzuwirken, als sie lieb zu haben und sie davon zu überzeugen, daß einem sein Glaube Wirklichkeit ist.
Das wäre natürlich der größte Kummer, den man haben könnte, wenn eines von denen, die einem am nächsten stehen, ohne Glauben wäre, wenn man nicht die innige Hoffnung hätte – ja, den Willen könnte man es fast nennen – daß es noch anders werde. Wenn Tante den Paul wie ein eigenes Kind lieb hätte, könnte sie wohl auch nicht sagen, er sei Atheist. Sie könnte eine Sache, von der sie ihn von ganzem Herzen und durch inbrünstiges Gebet zu befreien suchte, nicht ohne weiteres behaupten. Ja, wenn sie ihn richtig lieb hätte, dann könnte er es meiner Ansicht nach gar nicht sein.
»Der neue Tag« ist ein schöner Name. Ich möchte diese Zeitung einmal sehen. Darin hat Paul ganz recht, daß die alten Tage, wo wir unter dem Gesetz der Sünde und des Todes standen, vorbei sein sollen, aber über die Art und Weise, wie das geschieht, sind wir nicht ganz einig. Die Bibel überlebt alle Angriffe und kann sie auch gut ertragen. Jetzt heißt es, die Naturwissenschaften rückten gegen sie vor, wir aber sagen: »Laßt sie nur anrücken, denn man kann nicht leicht zu viel wissen, und da, wo sie hinschlagen, treffen sie die Bibel nicht. Die Bibel ist geistig, und was geistig ist, gehört nicht in das Reich der Naturwissenschaften.«
Die herrliche Stelle von Josua: Sonne, stehe still zu Gibeon! sollen wir sie jetzt aufgeben auf Grund der Naturwissenschaften? Nein, in den Naturwissenschaften geschieht das allerdings nicht, oder es geschieht auf gewisse Weise immer, da ja die Erde die ist, die sich bewegt. Das wissen wir wirklich recht gut, ohne uns selbst zu loben, aber im Leben kann es tatsächlich vorkommen. Wenn ich Zeit und Platz dazu hätte, könnte ich hier sehr viel sagen, aber ich will nur ein ganz kleines äußerliches Beispiel anführen, das historisch ist. Während der Schlacht bei Fredericia – diese kennt mein dänisches Mädchen natürlich – deutete einer der Generale nach dem Horizont und sagte: »Die Sonne ist am Untergehen, es ist aber auch ein langer Tag gewesen.« Da machte ihn ein anderer darauf aufmerksam, daß er nach Osten gedeutet habe. Die Sonne war noch am Aufgehen, aber die Morgenstunden waren gleichsam unendlich gewesen. An jenem Tag ward Olaf Rye das Glück zu teil, sagen zu dürfen: »Sonne, stehe still zu Fredericia, bis die Schlacht gewonnen ist!«
Simson mag er meinetwegen behalten. Doch ihm in die Kirche gehen als in irgend eine andere auf der ganzen Welt. Es ist nicht ganz dasselbe, ob Petrine morgens an meine Türe klopft, oder ob Du hereinkommst und mich weckst. Manchmal ist es mir, als könnte ich die ganze Wissenschaft leichter entbehren als Dich, geliebte Mutter.
Tausend Küsse von Deiner kleinen Else.
P. S. Du schreibst mir recht bald wieder, nicht wahr? Denn an dem Tag, wo ich einen Brief von Dir bekomme, fühle ich mich gar nicht einsam. Ist es nicht sonderbar, daß man sich zwischen so vielen Menschen einsamer fühlen kann, als zum Beispiel daheim im Haselnußgang, wenn man dort ganz allein ist? – Ach wie schön war es daheim, Mutter! Ich habe das früher gar nie so bedacht – und wie gut war es, wenn man ein wenig verzogen und auf Deine Weise von Dir erdrückt wurde. Und was Du kochst, ist auch viel besser als das Essen hier, denn daheim hat alles so einen kleinen angenehmen Beigeschmack von Dir selbst. Alle von hier lassen schön grüßen.
17. Januar.
Meine liebe, süße Else!
Tausend Dank für Deinen lieben Brief, ich lief über den Hof hinüber, um ihn zu holen – unter uns gesagt, in Schnee und Wind, sodaß Vater den Kopf schüttelte. Aber der Briefträger Per schlich mir an jenem Tag gar zu langsam einher. Nein, das vorhin zu einer Nottaufe geholt hat. Das arme Tröpfchen, das in Krämpfen liegt! Jetzt ist wohl mein Elsenkind allein in seinem Stübchen, die beiden Lachfritzen, die Dich immer bei sich haben oder beim Auskleiden zu Dir hineinkommen wollen, sind endlich gegangen. Elselein denkt jetzt über so manches nach, und ihr Haar, das Mutter so gern um ihre Finger windet, fließt weich und sanft über ihre Schultern hinab. Und nun möchte Mutter sich neben sie setzen können, um alles, auch das kleinste, was ihr Kind an diesem Tag erlebt hat, zu erfahren. Es ist unbegreiflich, daß ich das nicht tun kann. Aber ich bin bei Dir, liebe Else, viel wirklicher als all die dummen Möbel um Dich her. Jetzt decke ich das Elsenpusselchen zu, und schneckle es weich und warm ein, und küsse es kreuz und quer, auch die kleine Nasenspitze, die mit ihrem weichen und feinen Himmelanstreben so süß ist. Jetzt lösche ich das Licht und bleibe ganz stille sitzen, bis ich tiefe Atemzüge höre. Gute Nacht – der Herr behüte mein kleines Mädchen!
Deine treue Mutter.
P. S. Hansine wird diesmal noch nicht Frau Pächterin, obgleich Per Erichsen wirklich um sie geworben hat. Sie hat ihn abgewiesen, weil er nicht gläubig sei. Sie und ihre Eltern haben viel mit Vater darüber gesprochen. Er meint, es sei ganz richtig, daß die Eltern sie ganz allein entscheiden ließen, findet aber auch, daß sie nur eine Antwort geben konnte, wenn sie wirklich dem Herrn angehören wolle. In äußerer Beziehung ist es ein Opfer, das sie bringt, denn er ist ja außerordentlich vermöglich. Aber ich kann nicht recht ausfindig machen, ob ihr Herz dabei beteiligt war. Das möchte ich wohl wissen.
Donnerstag, 25. März.
Meine liebe, süße Mutter!
Meinst Du, Vater habe etwas dagegen, wenn ich tanze? Onkels geben eine Abendgesellschaft, die fast ein Ball sein wird, zu Mathildens Geburtstag am nächsten Donnerstag – aber ich mache mir nicht viel daraus. Ich weiß ja nicht, ob ich so recht vergnügt sein werde, und es gibt nichts Langweiligeres als ein Vergnügen, das einem kein Vergnügen macht.
Dann kann ich ja bei den älteren Leuten drin bleiben – oder wie man sie nennen soll, denn jung wollen sie ja alle sein – und sagen, Vater sehe es nicht gern. Ich könnte mich auch im Lernzimmer aufhalten und ein paar von den schwierigsten Aufgaben lernen, obgleich man dort vor lauter Durcheinander eigentlich nirgends sitzen kann, denn es wird alles da hineingeräumt. Du brauchst Dich gar nicht darüber zu grämen, wenn ich auch ganz gern dabei wäre.
Eben war Tante hier und sagte, ich solle Dich fragen, ob Du nicht selbst zu diesem Tage hieherkommen könntest, das heißt, Du sollest am Tag vorher kommen und den Tag nachher auch noch hier bleiben. Das wäre besonders hübsch, meint sie, und ich solle sagen, Mathilde schwärme für Dich. Ach, und ich möchte Dich so schrecklich gerne hier haben, Mutter! Du müßtest hier in meinem Zimmerchen bei mir schlafen, und wir würden uns zusammen auskleiden, und Du könntest mich zum Fest anziehen und acht geben, daß ich ordentlich aussehe. Jaso, die weiße Taille von meinem Konfirmationskleid ist an Weihnachten zurückgeblieben, weil Du sagtest, Du wollest sie ein wenig ausgeschnitten machen lassen, aber jetzt müßte ich sie eigentlich haben, denn Du meinst doch wohl auch, ich solle sie lieber anziehen als die hellblaue – wenn Vater mir die Erlaubnis gibt. Ich sehne mich viel öfters nach Dir, als Du Dir denken kannst; wenn Du also kämest, wäre es herrlich!
Paul kommt auch zum Fest. In einem Brief, den mir Mathilde gezeigt hat – es war, nachdem Herr Müller gesagt hatte, ich spreche das deutsche s, das uns Dänen so schwer fällt, besser aus als Mathilde, und da kann ich doch nichts dafür – hat er geschrieben, ja Paul also: »Wie geht es der kleinen Heiligen? Ist sie nicht eingebildet? Es gibt nichts, auf das die Leute mehr eingebildet sind, als auf ihr Christentum.«
Es tat mir ganz weh, als ich das las. Jetzt habe ich auch endlich die Nummer von seiner Zeitung ergattert und sie mit auf mein Zimmer genommen und das erste Stück darin gelesen. Ich habe ja so viel mit Dir darüber gesprochen, Mutter, sodaß es nicht schwer zu verstehen war, aber es machte mir förmlich Kopfweh, denn es war mir immer, als müsse ich ihm widersprechen.
Er schreibt, man solle für etwas arbeiten, was er die große Lebensentfaltung nennt, sie komme, wenn ein Mensch mit eigenen Augen sehen, mit seinem eigenen Gehirn denken gelernt und seine Anlagen und Talente voll entwickelt habe. Dazu hätten alle Menschen ein heiliges Recht. – Aber was kann das nützen, wenn sie doch die Fähigkeit nicht dazu haben?
Dieses hindere nun die Christen, ja, so sagte er, aber ich will Dir doch lieber etwas davon abschreiben, denn es ist nicht so leicht wiederzugeben:
»... Die Christen sind Feinde des Lebens, sie müssen es sein, wenn sie in Übereinstimmung mit ihrer Lehre sein wollen. Die besten unter ihnen sind es bewußt, die andern unbewußt.
»Die wenigen, die in der Tat den Namen Christen verdienen, arbeiten mit voller Überlegung der Entfaltung des Lebens entgegen, bei sich selbst und bei andern. Ihre Losung ist: entsagen, abhauen, töten. Sie gehen durch die Welt wie jene florentinischen Leichenträger, die vermummt durch die Straßen hasten, immer nur von einem erfüllt: in die Erde zu versenken, mit einer kleinen Glocke zu läuten, die einen Menschen aus der Welt hinausläutet, und den Toten Fackeln voranzutragen.«
Ist es nicht eine Schande, Mutter, daß sie uns immer in das Begräbniswesen hinein verweisen wollen? So sind wir ja gar nicht – ohne aber zu denen zu gehören, von denen er dann weiter redet.
Er sagt, die Christen, deren es am meisten gebe, seien die, die den Kopf abschlagen, nicht sich selbst, sondern von den strengsten Bibelworten, und in ausgetretenen Schuhen auf einem breiten Weg wandeln, von dem es mehr als von dem schmalen Pfad im Walde heiße, daß er nirgends hinführe.
Das klingt ganz witzig, nicht wahr? Es ist vielleicht unrecht von mir, aber dabei hat er wohl ein wenig an das Haus hier gedacht. Tante Lulle ist zwar herzensgut, aber ich möchte, er kennte Dich, Mutter.
Er sagt, diese Massenchristen seien noch schlimmer als die strengen, denn sie verdummten und versumpften und hemmten und zögen andere mit sich, weil die Menschen einen religiösen Standpunkt brauchten und einen solchen da unter den billigsten Bedingungen mit den vielversprechenden Ewigkeitsaussichten haben könnten.
Ja, so ungefähr lautet es, aber es ist sehr lang, und ich bin ein wenig müde.
Es tut mir so leid um die alte Diana. Ich werde nie einen andern Hund so lieb gewinnen wie sie. Aber Vater hat doch wohl einen neuen, mit dem er Jagd spielen kann? Das kann er gewiß nicht entbehren. Es sieht Dir ganz ähnlich, Mutter, daß Du Angst hattest, Vater könne sehen, daß Diana Deine Hand zuletzt geleckt habe, und daß Du Dorthe verbotest, es zu sagen.
Ob Du wohl zum Ball hierherkommst? Du mußt »Ja« sagen, dann tut es mir nicht leid, wenn ich auch nicht tanzen darf. Die Näherin Maren sagte einmal, das Tanzen sei Sünde, denn durch einen Tanz sei das Haupt Johannes des Täufers gefallen; aber wenn nun Salome seinen Kopf nicht verlangt hätte, dann wäre es doch nichts Schlimmes gewesen, oder doch?
Liebste Mutter, ich möchte Dich so schrecklich gern hier haben. Grüße Vater recht herzlich, wie er auch immer entscheiden mag – und sonst alle möglichen Leute.
Dein kleines Elsenkind.
P. S. Wenn Vater meint, die Reise sei zu teuer für Dich, könnte ich dann nicht lieber nichts zum Geburtstag bekommen? Denn das wäre viel besser als ein Geschenk. Mathilde hat Fritz eingeladen, Du hättest also Reisegesellschaft. Sie ist eigentlich auch in ihn verliebt, aber das sind ja alle.
29. März.
Allerliebstes kleines Elsenkind!
Vater war ja nicht so besonders erfreut über die Abendgesellschaft, die beinahe ein Ball sein wird; er sagte, er habe es vorausgesehen, und was habe er nicht gesagt u. s. w.
Aber dann sprach ich mit ihm und sagte – was ich auch wirklich meine – es sei recht willkürlich und unvernünftig, daß man die drei Dinge: Tanz, Kartenspiel und Theater ins schwarze Register gesetzt habe, während niemand auch nur das allerentfernteste Bedenken gegen die drei Dinge trage, die die Bibel als gefährlich hinstelle: Wucher, Handel und Ehestand – was natürlich darin liege, daß sie viel schwerer aufzugeben seien.
Das gab nun Vater freilich nicht zu, denn er disputiert ja nie mit weiblichen Wesen. Aber nachdem er sich die Sache ein wenig überlegt hatte, war er so herzensgut und verständig, daß er sagte, er wolle Dir keinen Zwang auserlegen. Du müßtest Dich selbst prüfen, ob Du fühlest, der liebe Gott könne da auch bei Dir sein, und glaubest, er gönne Dir diese Freude und wolle Dich vor deren Gefahren behüten.
Dessen bin ich nun so sicher, daß ich meine, es sei ganz überflüssig, es zu sagen. Deshalb schicke ich Dir auch mitfolgend die weiße Taille. Als ich sie zurückbehielt, um sie etwas ausgeschnitten zu machen, hatte ich übrigens noch einen schlauen Hintergedanken damit, den Du bald entdecken wirst. Nun, wie gefällt es Dir? Und nun denkst Du wohl, Mutter habe alle die weißen Margueriten selbst gestickt und sich die Augen damit verdorben? O nein, das tat sie nicht, das wäre wirklich zu prosaisch gewesen. Nein, ich machte es wie das Mädchen im Märchen, das im Winter Erdbeeren pflückte. Ich ging hinaus auf die Wiese und fegte den Schnee weg und bat alle Margueriten, hervorzusprießen, damit ich sie auf die Taille meines Elsenkindes streuen könnte, denn es wolle zum Tanze gehen, und da wolle es ein bißchen fein sein.
Und sogleich wimmelten sie hervor, so daß ich fast nicht Platz genug für alle hatte – sieh nur, wie dicht sie sitzen! Ich könnte sie fast beneiden, daß sie mit zum Fest dürfen.
Danke der Tante tausendmal für ihre freundliche Einladung, und auch Mathilde, die so lieb ist, für mich zu schwärmen. Bei der Taille liegt ein Päckchen Spitzen meines eigenen Fabrikats zu einem Sommerkleid; dies gib ihr zum Geburtstag nebst dem mitfolgenden Kärtchen. Ich würde schrecklich gern kommen – viel lieber noch, als ihr mich haben wollt. In allererster Linie, um mein Elsenkind zu verküssen und bei ihr in dem Stübchen zu schlafen, wo wir so geplaudert und gelacht hätten, daß die andern uns sicher hätten an die Wände klopfen müssen. Ich hätte mich auch gewiß hübsch gemacht. Die Ringelschnallen wären zum hundertstenmal auf ein neues Paar Schuhe gesetzt worden, und schließlich wäre ich auch noch imstande gewesen, ein Tänzchen zu wagen – denn ich bin auch gern noch ein wenig jung, wie die andern, die Du alt nennst.
Das Reisegeld hätte Vater auch auftreiben können, ohne daß er seinem Prinzip, nie Schulden zu machen, untreu geworden, oder daß mein süßer Liebling um sein Geburtstagsgeschenk gekommen wäre. Hab Dank für diesen lieben Gedanken!
Aber ich kann nicht kommen. Ich habe Dir doch geschrieben, daß das ganze Dorf die »Faulenzia« hat, und zwar von der schlimmen Art, die so gern in Lungenentzündung übergeht. Deshalb müssen jetzt ungefähr dem ganzen Dorf warme Umschläge gemacht werden. Die Krankenpflegerin ist ausgezeichnet, aber sie kann unmöglich allein fertig werden, und so laufe ich von einem zum andern zu der Zeit, wo Vater mich am wenigsten vermißt.
Ein paar sind auch wirklich an der Influenza gestorben, aber die meisten sind doch auf dem Weg der Besserung. Auf den Brunnengräber, weißt Du, der erst hierhergezogen ist, bin ich ordentlich stolz, denn den hab ich gepflegt, und der war am schlimmsten dran. Sein höchster Lobspruch über mich und Doktor Berg ist auch: »Ja, so eine Pfarrerin und so einen Doktor! Wäre ich nur schon vor zwölf Jahren hierhergezogen – dann könnten alle meine drei Frauen noch leben.«
Dann müßte er sich jetzt also auf die mormonische Sprache legen, weißt Du, denn im gewöhnlichen anständigen Dänisch ginge das doch nicht.
Ich könnte indes doch vielleicht auf ein paar Tage abkommen, aber Vater fängt an, sich ein bißchen um seine Gesundheit zu sorgen. Ich erkundige mich denn auch jeden Morgen pflichtschuldigst nach seinem Befinden; dann räuspert er sich, faßt sich an den Kopf, an den Hals und antwortet in einem etwas feierlichen Ton: »Ja, ich habe so ein Gefühl.« Du weißt, wenn den Männern wirklich etwas fehlt, dann ist es Ernst und kein Spaß. Ich glaube nun zwar nicht, daß Vater wirklich krank wird, wage aber doch nicht, von ihm wegzugehen. Ich würde ja auch nur immer sein »Gefühl« in mir herumtragen, bis ich selbst krank davon würde, und dann wäre ich kein angenehmer Besuch.
Nein, ich muß hübsch zu Hause bleiben, wo es ja auch so schön und unaussprechlich gut ist, und darf mir nur ausmalen, wie fein und süß mein Elsenkind sein wird. Vater liest mir jeden Abend aus der Kirchengeschichte vor, aber am nächsten Donnerstag lasse ich die alten Kirchenväter Kirchenväter sein und begleite mein Elselein zum Tanz. Man wird sich schon um mein liebes weißes Mädchen reißen, wie einstens um dessen Mutter bei jenem Waldfest, wo ein gewisser anderer, der einem der allerwichtigste war, »stumm und still auf einer Bank saß«.
»Kleine Heilige« finde ich eigentlich ganz hübsch. Das brauchst Du Dir nicht zu Herzen zu nehmen. Ich an Deiner Stelle würde sagen: »Viel schönen Dank für den hübschen Namen. Wenn er nur auch bester für mich paßte!« – Wie äußerst bequem ist es, uns Christen zu Leichenträgern oder oberflächlichen Menschen zu stempeln! Leichenträger sind eher die, so andere von Gott wegführen! – Es stimmt mich immer ernst, wenn ich daran denke, daß die Menschen die Forderungen des Christentums herabsetzen – vielleicht gerade um den Außenstehenden entgegen zu kommen, und dazu fühlen wir uns wohl alle versucht – sich aber dadurch eigentlich nur die Verachtung derer, denen sie gefallen wollen, zuziehen. Wir sehnen uns ebenso sehr wie Paul nach einer großen Lebensentfaltung, nach Licht und Luft für alle kleinen verkrüppelten Gaben und Talente, aber wir wissen, daß diese Entfaltung einst kommen und mit der großen Entfaltung des Christentums zusammenfallen wird.
Grüße nun alle – auch Paul, wenn er auch nur eine unklare Erinnerung von mir hat. Sei nur ein wenig gut gegen ihn, sonst nichts. Ich habe das Gefühl, daß ihm das not tut.
Nun wünsche ich meinem Schatz recht, recht viel Vergnügen und schicke tausend Grüße und Küste meinem eigenen Elselein.
Mutter.
P. S. Vater hatte gesagt, er werde Dir selbst schreiben, aber als ich eben nach dem Brief fragte, trug er mir doch nur einen Gruß auf. Ich glaube nicht, daß Salomes Tanz rätlich wäre, auch ohne das Haupt des Johannes nicht, aber diesen Tanz übten wir auch im Haselnußgang nicht mit einander ein, und ich bin gewiß, daß Mutters Elsenkind ihn nie tanzen wird.
Am Abend vor dem Ball traf Paul mit dem letzten Zug von Kopenhagen ein. »Ich wollte dir doch gratulieren, ehe der erste Schmelz von deinem Geburtstage abgestreift ist,« sagte er am nächsten Morgen zu seiner Schwester. »Und dann dachte ich auch, ihr könntet mich vielleicht zum Lichteraufstecken verwenden.«
Das war ja sehr rücksichtsvoll; aber Else fiel es auf, wie gleichgültig er es sagte und mit welch kühler Freundlichkeit er empfangen wurde. Mathilde war wohl entzückt über die Brosche, die er ihr brachte, aber doch nicht so, wie Mutter es gewesen wäre, wenn er sie ihr geschenkt hätte.
Er nannte Else nicht »kleine Heilige«, wie sie gefürchtet hatte, sondern sagte nur: »Und das ist also die Jungfrau Else! Wir stehen selbstverständlich auf du und du, wenn die Verwandtschaft auch ein wenig mager ist.«
Ihrer Gewohnheit gemäß neigte sie das Köpfchen ein wenig. »Wie Sie wollen – oder wie du willst.« Da lachte er auf, und dann setzten ihn die Schwestern gleich in Trab.
Else ordnete mit den Cousinen die Blumen im großen Wohnzimmer und staubte die Nippsachen ab. Paul stand daneben und sah zu. »Heute abend sind mir wohl drei Frontänze auferlegt,« sagte er. »Mit jeder von euch einer.«
»Nein, ich danke!« riefen die beiden Schwestern zugleich. »Um die Töchter des Hauses reißt man sich. Heute können wir den langweiligen Brudertanz entbehren.«
Else war eben dabei, Rosen in eine hohe Vase zu stellen. »Eine Krone das Stück, das ist doch hart. Gib dir alle Mühe, daß sie recht schön aussehen,« sagte die Tante. Else wurde ein wenig rot, auch weil sie glaubte, Paul sehe sie an und wolle sie dazu bringen, aufzuschauen.
Die Cousinen liefen hinaus, den Boden im Tanzsaal zu probieren. Als Else ihnen folgen wollte, vertrat ihr Paul den Weg. »Warum siehst du die Leute nicht gerade an?« fragte er. »Hast du Angst, entdeckt zu werden? Oder soll es fromm sein, wenn man die Augen niederschlägt?«
Sie schüttelte den Kopf und schlüpfte an ihm vorbei. Ach, wenn sie doch nur so beschlagen wäre wie Mutter, dann könnte sie ihm antworten! Mutter – sei nur ein wenig gut gegen ihn. – Ja, dazu bekam sie gar keine Gelegenheit – so wie er war!
Das Mittagessen wurde etwas feldmäßig im Zimmer des Rektors eingenommen. »Macht nur, daß ihr euch bei Zeit anzieht!« sagte dieser.
Als Else ihr weißes Kleid angezogen hatte, wünschte sie brennend, Mutter möchte selbst sehen, wie niedlich die Taille geworden war. Die Margueriten glänzten am Ausschnitt und an den Puffärmeln, deren seidene Spitzen aus die zarten Arme herabfielen. Um ihren schlanken, biegsamen Hals trug sie eine Reihe weißer Perlen, »das Halsband der Pfarrfrau«, das ihr Mutter zur Konfirmation geschenkt hatte.
Else kam sich selbst ganz hübsch vor; aber als sie zu den andern hineingehen sollte, wurde sie wie gewöhnlich schüchtern und ängstlich und schob es hinaus, bis die ersten Gäste kamen.
Sie kannte bei weitem nicht alle; die größten Gesellschaften hatten an Weihnachten stattgefunden, während sie daheim gewesen war, und mit der Tante hatte sie nur wenig Besuche gemacht, weil ihre Eltern nicht wünschten, daß sie viel ausgehe.
Als sie in dem Salon stand, ein halb fremder, geputzter und summender Menschenschwarm um sie her, fühlte sie sich wie ein Tropfen, der ins Meer gefallen ist, und sehnte sich nach einer Muschel, in die sie hätte hineinkriechen können. Die Tante und die Cousinen waren von ihren Wirtinnenpflichten zu sehr in Anspruch genommen, um an sie zu denken, und sie selbst verstand es gar nicht, sich geltend zu machen. So verschanzte sie sich rasch in einer Ecke hinter ein paar ältere Damen, die sie etwas kannte und die freundlich aussahen, während ringsum vorgestellt, zum Tanz aufgefordert, durcheinander gesprochen und gelacht wurde.
»Sie müssen auch vor, kleines Fräulein, damit Sie engagiert werden,« sagte eine der Damen mütterlich. Aber Else benützte einen Augenblick, wo diese mit jemand anderem sprach, und glitt der Wand entlang nach der Tür von Tantes leerem Kabinett, in das sie in dem Augenblick hineinhuschte, wo durch Händeklatschen zum ersten Walzer aufgefordert wurde, und die Paare ins Eßzimmer zogen.
Sie ließ sich hinter der Tür auf einen Stuhl nieder und wollte nur nichts denken – nicht an alle die Margueriten, die Mutters fleißige Finger gestickt hatten, damit ihr Kind recht fein sein sollte. Auch nicht an Mutters Worte: Man wird sich schon um mein liebes weißes Mädchen reißen. Auch nicht an die gemütliche Stube, wo Vater jetzt vorlas, während im Ofen die Äpfel prasselten und Mutter in ihren eigenen Gedanken lächelte. Ach, wer doch auch der Geschichte von den Kirchenvätern zuhören dürfte, anstatt auf dem Ball zu sein und sich zu »amüsieren«, wenn man es doch nicht konnte!
Sie begann die Disteln in dem Tapetenmuster an der Wand zu zählen, nur um nicht denken zu müssen. Wenn sie dachte, hätte sie am Ende weinen müssen. Elf, zwölf, dreizehn – aber die Tränen waren auf dem Punkt, sich zwischen die Zahlen hineinzuschleichen, denn es war doch recht traurig, daß sie hier saß und Disteln zählte, nur weil sie nicht zu denken wagte.
Indessen drang die Tanzmusik klingend und lockend zu ihr herein; eine Melodie löste die andere ab, während der Boden unter den Schritten der Tanzenden erzitterte.
»Jungfrau Else – sitzst du hier? Warum tanzst du denn nicht?«
Paul stand vor ihr. Ach, warum mußte er sie entdecken? Warum durfte sie nicht im Frieden hier sitzen, bis alles vorbei war?
Sie gab nicht sogleich eine Antwort – das war nicht leicht – und er fügte schnell hinzu: »Willst du mit mir tanzen? Ich habe dich gesucht.«
Sie schüttelte den Kopf und ganz leise, fast undeutlich sagte sie: »Danke. Meinetwegen sollst du dir keinen Frondienst auferlegen.«
In diesem Augenblick wurde die Tür zum Flur aufgemacht, und ein Herr trat herein.
Unwillkürlich sprang Else auf: »Fritz!«
»Else, klein Else, längst lieb ich dich!« – Fritz ergriff ihre beiden Hände. – »Und mein guter Freund, der Kirchenstürmer! Guten Abend, guten Abend! Komm ich zu spät? Der Esel von einem Kellner hat mich zu wecken vergessen – ich wollte nur ein kleines Schläfchen nach der Reise machen.«
»Und du hättest den Ball eröffnen sollen, Fritz.«
»Ach, was schere ich mich um die Eröffnung! Ich werde schon den Schluß dafür machen. Komm nun, kleine Else, wir wollen anfangen!« Er legte den Arm um sie.
»Nein, jetzt nicht – du hörst doch, daß dieser Tanz aus ist. Aber den nächsten kannst du haben.«
Als sie ins Wohnzimmer traten, er noch den Arm um ihre Taille gelegt, begegneten sie den Paaren, die aus dem Tanzsaal herausströmten. Fritz wurde mit allgemeiner Freude begrüßt, und Else war auf einmal der Mittelpunkt im Zimmer. Die Augen gingen den Leuten auf – und noch mehr, als der Tanz begann und Fritz mit ihr herumwirbelte.
»Wollen wir fliegen?« fragte er; und ehe sie ja sagen konnte, ging ihr in seinen Armen fast der Atem aus, und ihre leichten Füße berührten kaum noch den Boden. Das war herrlich, herrlich! Sie mußte zu ihm aufsehen und lachen; aber da wurde ihr schwindlig, und sie ließ den Kopf wieder sinken.
»Wie niedlich Ihre Cousine ist!« sagte die Amtmännin zu Paul, der etwas im Hintergrund stand und dem Paar mit den Augen folgte. »Sie schwebt wie eine Elfe dahin.«
»Ja, sie neigt den Kopf ganz hübsch,« sagte er gleichgültig. Dann trat er von der Tür zurück.
Dies war ein Tanz mit Extratouren, und Else kam kaum zum Sitzen. Das war schlimm, denn sie hatte Fritz so viel zu fragen. In erster Linie nach Mutter. »Wie geht es ihr? Muß sie noch immer so viele warme Umschläge machen?«
»Ja, sie macht warme Umschläge und strahlt und klirrt mit den Ringelschnallen und lacht, als sei sie den ganzen Tag bei einem Hochzeitsfest. Es gibt wirklich keine zweite wie sie auf der weiten Welt!«
Else begann zu lachen. »Ach Mutter! – Und Julius? Schreibt er oft?«
»Nur selten, denn er ochst fürchterlich. Er will ja im Sommer sein Examen machen, und unter I a tut er's doch nicht. Es gibt doch noch Menschen von edlem Ehrgeiz.«
Als an Else die Reihe war, einen Kavalier zu wählen, sah sie sich suchend um. Aber Paul war nicht zu entdecken.
»Fritz, willst du mir versprechen, mich nicht wegen des Herrn, den ich wähle, auszulachen?« fragte sie.
»Dann ist es gewiß der kleine Gnom dort drüben, den du aus lauter Tugend und Wohlerzogenheit wählen willst,« sagte er und führte sie vor Herrn Frydendal hin, den niemand aufgefordert hatte und der sich sehr geehrt fühlte, aber so überrascht war, daß er ganz außer Takt mit ihr vorwärts stürmte, dann anhielt, um hineinzukommen, aber in dem unrechten Augenblick mit einem kleinen »Allons!« wieder hinaushüpfte, dies zwei-, dreimal wiederholte und durch Elses Anstrengungen schließlich erst in Takt kam, als die Tour zu Ende war.
Jetzt entdeckte Else Paul an einer Tür; er biß sich auf die Lippen.
»Das ging noch über Erwarten gut,« sagte Fritz. »Da lob ich mir Cousine Mathilde, die mich klugerweise gewählt hatte. Sie tanzt beinahe noch besser als du, denn sie ist nicht so – huit! Ich meine, nicht so leicht. Du fliegst einem davon. Man hat dich gar nicht.«
Als dieser Tanz zu Ende war, wurde Else rasch zu den noch übrigen engagiert.
»Ich sehe, du hast dein Christentum mit auf dem Ball,« sagte Paul zu ihr.
»Ja, wo denn sonst?« erwiderte sie; und die Tante, die in lila Seide gerade vorüberrauschte, blieb stehen und kam ihr zu Hilfe. »Du weißt, Paul,« sagte sie, ihren Stiefsohn vorwurfsvoll ansehend, »ich habe mir allen Spott hier im Hause verbeten. Deine Ansicht magst du behalten, aber Spott –« Sie rauschte weiter.
Ach, wie unangenehm! Und wie schade, daß dies in diesem Zusammenhang gesagt worden war! Ja, das mußte sie ihm sagen – denn ihre Antwort vorhin im Kabinett quälte sie. Sein Ton war damals wohlwollend gewesen.
»Paul, ich habe noch einen Tanz übrig – wenn du den haben möchtest –«
»Nein, ich danke« – er biß sich wieder auf die Lippen – »aus dem Grund brauchst du mir ihn nicht anzubieten. Du kannst einen angenehmeren Tänzer finden, als einen Vetter, der überdies ein Spötter ist.«
»Das glaube ich gar nicht.«
»Ich will auch lieber sehen, daß ich ein vernünftiges Wort mit ein paar Männern reden kann, die ich entdeckt habe.«
Er trat in des Rektors Stube und blieb dort; sie aber tanzte weiter.
Herrlich war es doch, herrlich, jung und vergnügt zu sein!
Der Sohn des Amtmanns führte sie zu Tisch, und sie saßen bei Mathilde und Fritz. Es wurde an kleinen Tischen gegessen. Am nächsten saß Paul mit dem Rücken gegen sie. Er führte Amtmanns Herta, die nur wenig tanzte, weil sie sehr zart war. Überdies war sie auch schon hoch in den Zwanzigern, blasiert und sehr frei in ihren Anschauungen.
Else konnte die ganze Zeit ihr bleiches Profil sehen, das sich unter dichtem schwarzem Haar hervorschob, und sie hörte auch das meiste, was sie sagte, aber nicht, was Paul antwortete.
»Nietzsche hat mir das Dasein erschlossen« – – »Damit können Sie recht haben, aber durch ihn ist mir erst das wahre Leben aufgegangen. Früher hatte ich so wenig wie die meisten andern eigene Gedanken –«
Elses Herr fragte sie, welche Sprache sie am liebsten hätte.
»Dänisch, denn das kann ich am besten.«
Er lachte. »Ha ha – selbstverständlich. Aber ich meinte von den fremden Sprachen. Lernen Sie nicht vielleicht spanisch? Das ist eine königliche Sprache.« Er begann von einem Stiergefecht zu erzählen, und Else wurde es ganz weh ums Herz dabei. Die armen Pferde, denen auf solche Weise der Bauch aufgeschlitzt wurde! Und wie er sie immerfort dabei ansah! Das war doch sonderbar!
– – – »Ja, der Mangel an Achtung vor den Anschauungen anderer ist bei den Christen wohl ohne Seitenstück,« hörte sie Pauls Dame sagen. – »Die Mohammedaner – ja natürlich. Aber sie schlagen doch nur die Ungläubigen tot, das gefällt mir immer noch besser.« – »Ach nein, der Gegenstand taktloser und selbstgerechter Bekehrungsversuche zu sein« –
Fritz brachte ein Hoch auf Mathilde aus – aber Else wußte gar nicht, warum die andern lachten. Sie hätte brennend gern vieles gesagt, aber wenn sie es dann schlecht ausgedrückt hätte, war es besser, daß sie nicht dazu kam. Ach, aber Paul hätte diese Dame gar nicht haben sollen! Natürlich imponierten ihm ihre Reden nicht, aber wenn sie mit seinen eigenen Ansichten übereinstimmten, machten sie eben doch einen gewissen Eindruck. Und Else hatte recht wohl bemerkt, wie Herta ihn beim Sprechen mit gekreuzten Armen wiederholt scharf ansah – und sie fühlte auch, daß dies, ob er es sich auch nicht klar machte, Hertas Worte eben doch gewissermaßen für ihn unterstrich.
Sie war froh, als die Mahlzeit zu Ende war – aber Paul blieb ja doch während des folgenden Tanzes mit seiner Dame zusammen, und sie sprach noch ebenso eifrig.
Es gab einen Kotillon, weil Mathilde es gewünscht hatte.
»Warum haben Sie Ihre Schleife niemand gegeben?« fragte Elses Tänzer, Adjunkt Müller.
»Ich wollte warten und sehen …« sagte sie stockend. Sie hatte drei Sträußchen bekommen, eines davon war von Herrn Müller, und es kam ihr vor, als warte dieser auf ihre Schleife. Aber sie konnte sie ihm nicht geben.
Der Sohn des Amtmanns hatte ihr auch sein Sträußchen gegeben; aber sie errötete, so oft ihr Blick darauf fiel, denn sie hatte ihn zu Fritz sagen hören: »Wie süß die kleine Einfalt ist, so – Sie wissen – die weißen unerfahrenen Glieder, sie sind so rührend anzusehen.« – Dieser Strauß sollte sicher kassiert werden.
Fast am Schlusse des Tanzes entdeckte sie Paul unter der Tür ins Wohnzimmer. Er sah müde aus. Blitzschnell war sie neben ihm, verneigte sich mit niedergeschlagenen Augen und reichte ihm ihre Schleife.
Das Herz klopfte ihr heftig. Würde er sie nehmen oder etwas sagen?
Sie atmete tief auf. Er nahm sie – ohne ein Wort – und legte den Arm um seine Cousine. Gott sei Dank! hätte sie gerne ausgerufen. Sie nahm sich aber zusammen, denn das wäre sicher nicht richtig gewesen.
»Aber ich habe keinen Strauß für dich. Es ist keiner mehr übrig.«
»Das ist mir gerade recht,« erwiderte sie und lächelte ein wenig.
Er tanzte ebenso gut wie Fritz, und sie dachte, es gehe sogar noch besser mit Paul. Durch die gesenkten Augenlider hindurch fühlte sie, daß er sie die ganze Zeit ansah, aber es war ihr nicht peinlich wie bei den andern, und sie fühlte sich nicht gezwungen, aufzusehen. Sein Blick schien im Gegenteil ihre Augenlider ganz behutsam niederzuhalten, weil – ja vielleicht weil so viele Leute um sie her waren.
Als sie ausgetanzt hatten, führte er sie ganz ruhig zu seinem Platz zurück, und sie ging mit ihm, als sei das selbstverständlich. Aber dann erinnerte sie sich.
»Paul, ich tanze ja mit Herrn Müller.«
»Vorläufig mit mir.« Er drückte ihre kleine Hand fester gegen seinen Arm. Dann ging er mit ihr ins Wohnzimmer hinein und führte sie zu dem Glas mit den wunderschönen Rosen hin. Er nahm die allerschönste, eine dunkelrote – rot wie Herzblut, hatte sie heute morgen gedacht – und reichte sie ihr.
Sie schaute auf, nur eine Sekunde lang – und wie ein flammender Widerschein von der Rose flog es über ihr Gesicht.
»Ich bedanke mich übrigens recht schön, daß du meine Vasen plünderst,« sagte die Tante, die eben vorüberging.
»Ihr habt mir ja kein Sträußchen übrig gelassen,« sagte er ruhig. »So, Jungfrau Else, nun tanzen wir dafür.«
Ja, das war nicht mehr als billig. Sie steckte die rote Rose in ihren seidenen Gürtel – sie hob sich leuchtend von ihrem weißen Kleide ab – und dahin flog Else mit Paul.
Während des Tanzes sah sie mit hellen Augen und einem kleinen dunkelroten Fleck auf jeder Wange zu ihm auf. Alle andern waren schwindelnd weit weg, nur sein Auge war da – ganz nahe.
»Die ganze Welt tanzt mit,« sagte sie.
»Ja, und wir tanzen bis ans Ende der Welt.«
Sie lachte. Ja, zum Saal hinaus und zur Stadt hinaus bis hin zu der Sonnenwiese draußen. Ach, alle die weißen Margueriten, wie sie mittanzten! Über die ganze Wiese hin in geschlossenem Reigen. Und all die blauen Glockenblumen bimmelten und klingelten und sangen. Von ihnen kamen alle die Töne, die sie dahintrugen. Ach, welche Freude! »Hochzeit, Hochzeit!« würde sie als Kind gesagt haben. »Des Lebens hellste Hochzeitsseite!«
»Bin ich dir zu leicht?« fragte sie in seine Augen hinein. »Fritz sagt, ich fliege ihm weg.«
»Nein, durchaus nicht.« Sein Arm legte sich fester um sie.
Jetzt verstummte die Musik, sie waren das letzte tanzende Paar, und die Stube war wieder da. O weh, Herr Müller, was soll sie nur tun?
Paul nahm ihren Arm und führte sie zu Herrn Müller hin. »Ihre Dame, Herr Adjunkt, um sie aus dem Saal zu führen. Entschuldigen Sie, daß ich sie so lange behalten habe, aber sie gab mir ihre Schleife und bekam meinen Strauß, das waren zwei Touren.«
Im Wohnzimmer trat Paul wieder zu ihr. »Jetzt kommt unsere Extratour.«
»Nein, Paul, es ist die zweite. Diese habe ich Dr. Vang versprochen.«
»Nein, dies ist eine außer der Reihe. Man ist doch nicht umsonst der Sohn des Hauses.«
Und er brachte es wirklich zu stande. Fritz bot sich an, mit Henny vorzutanzen, und er wußte so vielerlei Touren und hatte so viele Einfälle, daß dieser Tanz gar kein Ende nehmen wollte und schließlich den Schluß des Balles bildete.
Nachdem Else mit Paul einmal herumgetanzt hatte, führte er sie in eine tiefe Fensternische, und sie fand es herrlich, hier von all dem Licht, der Helle und dem Treiben etwas entfernt, ein wenig ruhig zu sitzen; das war fast, als sei man im Haselnußgang.
Sie dachte, sie müßte jetzt wohl eigentlich über seine Ansichten mit ihm reden, und ihm dann widersprechen, so gut sie könnte. Aber schließlich erzählte sie ihm nur vom Haselnußgang und von der Wiese, wo die vielen Margueriten wuchsen, die Mutter auf ihre Taille gestickt hatte, und daß Else sie, als sie noch klein gewesen war, Hochzeitsblumen nannte, weil sie ihr so fröhlich aussehend vorkamen – und daß man sich gar nicht vorstellen könne, wie schön das sei, wenn man da draußen herumwate und die Blumen pflücke – es sei gerade, als pflücke man lauter Freuden.
Plötzlich hielt sie inne.
»Warum darf ich nicht weiter hören?«
»Ich meine immer, ich langweile die Leute,« sagte sie.
»Wirklich?«
»Aber heute abend – heute abend habe ich das Gefühl gar nicht. Das habe ich eben gedacht. Ist es denn nicht merkwürdig, denn du bist doch so klug und weißt so vieles?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist jedenfalls etwas, was ich nicht kenne. Ich bin nie auf der Wiese gewesen, wo man nur Freuden pflückt.«
Er berührte dabei ganz leicht ihre weiße Taille. »Aber heute abend ist sie ja eigentlich zu mir gekommen,« fügte er hinzu.
»Ja,« sagte sie leise – denn das war doch wahr – und fügte dann hinzu: »Warum kamst du nie mit in den Ferien?«
»Jetzt bereue ich es auch,« sagte er. »Aber sobald ich wieder Ferien habe, komme ich, wenn ich darf.«
»Und ob! Mutter wird es sehr freuen, und mich auch.«
Er legte den Arm um sie. Hinaus in den Saal ging's, in den Tanz, in schwindelnde Freude hinein, wo ihr war, als erfasse sie eine wahrhaft übermütige Lebenslust. Dann wieder in den Schatten hinein, in den Schatten des Haselnußganges – heimlich und weich wie ein Flüstern – wo es ihr so ganz natürlich deuchte, daß sie mit ihm vertraulich von allem daheim plauderte, sogar auch von der Reihe Perlen, die die ganze Welt enthielten, und die auf dem Grunde des Sees gelegen hatten, aber von Mutter, wie diese sagte, für ihr Elsenkind aufgefischt worden waren; und dies waren die Perlen, die Else jetzt um den Hals trug.
Und Paul sagte, er könne es gleich sehen, daß es dieselben Perlen seien …
»Warum schriebst du kleine Heilige?« Jetzt wagte sie es wohl, ihn darnach zu fragen.
»Gefiel es dir nicht? Weil ich glaubte, du seiest eine.«
»O nein, ich bin gar nicht so. Ich habe immer Hochzeit lieber gehabt als Begräbnis.«
Er lächelte. »Du siehst aber doch so aus, zwar nicht in dem Sinne, wie ich damals schrieb, sondern auf eine ganz andere Art, die ich viel lieber habe.«
Und als er den Arm um sie legte, um wieder mit ihr zu tanzen, sagte er ganz leise: »Kleine Heilige!«
Ach, welche Freude! Das war Hochzeit – des Lebens hellste, sonnigste Hochzeitsfreude. Es gab sonst gar nichts mehr auf der Welt. – –