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Mutter.

Mutter war die strahlendste Verkörperung von Hochzeit, die man sich denken konnte. Sie teilte und verstand die ganze Liebe des Kindes zu der fröhlichen, dem Kirchhof entgegengesetzten Seite, ohne daß man mit ihr darüber gesprochen hatte, worauf man gar nicht kam, weil gleichsam etwas Geheimnisvolles daran war.

Wenn Mutter im Garten war, ging sie im Haselnußgang auf und ab und sang leise vor sich hin, oder sie saß mit ihrer Handarbeit auf dem Hügel und schaute in die weite Welt hinaus.

Zwar nicht sehr lange auf einmal, lange nicht so unbeweglich wie man selbst dort sitzen konnte, denn Mutter war viel lebhafter. Vater sagte, ganz stille sitze sie eigentlich nur, wenn sie einer Musik lausche, oder wenn er ein seltenes Mal eine gute Sonntagspredigt halte. »Ja wohl,« erwiderte Mutter lachend, »und dann habe ich erst immer die größte Lust, die ganze Zeit dreinzureden.«

Wenn sie eine kleine Weile auf dem Hügel gesessen und genäht hatte – ihre weißen Finger waren stets so flink, daß sie immer eine ganze Menge fertig brachte – dann sprang sie auf und sagte:

»Komm, Else, Elselein, jetzt gehen wir auf Abenteuer in den Wald, oder wir stöbern irgendwo Menschen auf!«

Mutter hieß Elsbeth, und man selbst hieß Else; das war wie ein kleiner Teil von ihr. Ab und zu machte Vater einmal den Versuch, »Mutter« zu ihr zu sagen, aber das verbat sie sich lachend. »Ich habe geglaubt, ich sei deine Liebste; bin ich jetzt deine Mutter geworden? Du könntest mich gleich kopfabwärts an den Füßen aufhängen und würdest mich doch nie dazu bringen, etwas so Verkehrtes wie ›Vater‹ zu dir zu sagen.«

Mutter liebte die Natur; ja, sie liebte, liebte, liebte sie; dreimal muß es gesagt werden, bis es reicht. Aber dreimal dreimal noch müßte dazu gerechnet werden, und dann hätte Mutter kaum auszusprechen vermocht, wie sehr sie ihr Elsenkind liebte. »Dann muß Vater sich mit einemmal begnügen, denn weiter können wir gar nicht ausrechnen.« Und Vater sagte, er ziehe das einemal vor.

Es war herrlich, wenn man mit Mutter auf Abenteuer ausging. Sie entdeckte so vieles, was andere gar nicht sahen. In erster Linie Blumen. Überall blühten sie auf ihrem Wege, sodaß sie zu Vater sagen konnte: »Trag mir auf, irgend eine Blume, die in deiner dürren Botanik steht, zu suchen, ich werde sie dir frisch und lebendig bringen, wenn sie überhaupt im Königreich Dänemark und in den angrenzenden Ländern wächst.« Und das wäre gewiß eingetroffen.

Aber noch schöner war es, Tiere und Vögel aufzusuchen. »Hier ist so viel geheimes Leben in tausend kleinen Schlupflöchern verborgen,« sagte Mutter, sobald man in den Wald hinein kam. »Und wir ruhen nicht, bis wir die meisten davon ausgekundschaftet haben.«

An einem Tag war es ein Igel, der sich in der Sonne gütlich tat, mit seinen drei kleinen Igelchen, die ordentlich stolz waren, daß sie sich wie ein Knäuel zusammenrollen konnten. Ein anderesmal war es ein Fuchs, der auf kleinen, schwarzen Pfoten auf einem sonnigen Fleck zwischen den dunklen Tannen stand und ganz langsam mit seinem buschigen Schwanz wedelte, sodaß man fühlte, wie es einem unter dem Näschen kitzeln würde, wenn man nahe genug dabei wäre.

Einmal war es eine kleine, flinke Feldmaus, die aus einem runden Loch am Fuß einer großen Buche herausschlüpfte, um gerade so vorsorglich und klug wie eine kleine, rundliche Hausmutter Wintervorrat einzusammeln. Sie lief und sprang zwischen den welken Blättern umher und kam mit einer Eichel oder mit einer Haselnuß zurück, mit der sie dann in ihrem Loch verschwand. Ein paar Sekunden nachher sah man die Spitze ihrer Schnauze an der Öffnung – sie spähte umher, ob alles ruhig und keine Gefahr im Anzug sei. Beim siebten oder achten Mal kam sie mit einer großen, fetten Eichel daher, setzte sich, den Rücken dicht vor dem Loch, nieder und begann mit kleinen, hastigen Bewegungen an der Beute abzuschälen und sie dann mit einer selbstbewußten, verständigen Miene, die ausdrückte, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei, zu verzehren. Darnach mußte sie noch eine Weile sitzen bleiben, um nach der Mahlzeit etwas zu verschnaufen, während ihre kleinen, schwarzen Perlenaugen von gesättigtem Wohlbehagen blitzten.

Dann lachte Mutter: »Sie gleicht einer boa constrictor, die einen Ochsen verschlungen hat« – und schwapp war die kleine Mausefrau weg.

Ein anderesmal war man am Ufer des Baches bis dicht zu den Binsen hingegangen, um weiße Kallablüten zu pflücken, als Mutter plötzlich stehen blieb und den Finger aufhob. Dann mußte man ganz still stehen bleiben und den Atem anhalten. Das tat man – und siehe da, da kam eine braune Wildente dahergeschwommen, sieben niedliche, mit weichem Flaum bedeckte gelbe Entlein hinter sich.

Aber da glitt man mit einem seiner Füßchen aus, und es raschelte zwischen den Binsen. Die Entenmutter flog auf und schrie »Rab, Rab,« um die Aufmerksamkeit auf sich und hinweg von ihren Entlein zu lenken, die wie Pfeile durchs Wasser zu der Mutter hinschossen.


Lang nicht so verlockend war, »Menschen aufstöbern,« wenn man aus dem frischen, tiefen, geheimnisvollen Wald in die kleinen, dumpfigen, ärmlichen Hütten gehen sollte.

Vater hatte recht, wenn er sagte, alles nur mögliche Elend blühe auf Mutters Weg hervor, gerade wie die Blumen.

Die andern Pfarrer, die zu Vater kamen, wußten nie von so viel Not in ihrer Gemeinde; sie konnten sich auf die Seelsorge beschränken und brauchten nicht ein solches Wesen aus der Armenpflege zu machen.

Aber Vater bekam ellenlange Listen von solchen, denen geholfen werden mußte. Der eine war krank, der andere alt und hinfällig, einer saß mit der Gicht auf einem Lehmboden, ihm mußte ein Teppich oder ein Bretterboden beschafft werden, und wenn sonst nichts vorlag, so konnte man ganz sicher sein, daß mehrere ein »Kleines« erwarteten. Ja, man hatte bemerkt, daß dies ein sehr häufig wiederkehrender Notstand war. Und wenn Vater auf die andern Pfarrer hinweisen wollte, dann brauste Mutter auf und sagte, sie möchte ihnen nur einmal das Gewehr visitieren! Denn wenn sie bei sich daheim nichts von herzzerreißenden Fällen wüßten, so beweise das bloß, daß sie sie nicht aufsuchten.

Mutters Triumph war einem unvergeßlich, als sie Hansens Witwe Boel Sören in einer vollständig baufälligen Hütte weit draußen auf einem Felde entdeckte und Vater an ihren Fingern aufzählte:

»Siebenundachtzig Jahre alt, Jakob, stocktaub – auf dem einen Auge blind – den Beinfraß an drei Fingern der rechten Hand – muß übrigens Jens Daniels Anne loben, die doch einmal in der Woche nach ihr sieht und ihr ein wenig Brennholz klein macht – hat die Gicht in beiden Beinen – eine Kaffeekanne ohne Ausguß – und Mäuse, die überall herumlaufen.«

Das Letzte war in Mutters Augen das Schlimmste, der Gipfel des Elends, und es wurde mit zerschmetterndem Nachdruck vorgebracht.

Vater war so überwältigt, daß es ihm gar nicht einfiel, dem von Mutter vorgebrachten Schluß zu widersprechen.

»Und natürlich gibt es in jedem Dorf so eine Boel Sören Hansen, aber die andern Pfarrer lassen sie in aller Ruhe sitzen.«

Es war gut, daß Boel Sören Hansen bald darauf starb und begraben wurde – soviel man sonst auch gegen diesen Abschluß einzuwenden hatte – denn keine Macht der Welt hätte Mutter abhalten können, alle ander Tage, ja am liebsten alle Tage zu ihr hinauszueilen, um ihr die Finger zu verbinden, ihr Kaffee in der neuen Kanne zu kochen – und das tat einem für Mutter selbst sehr leid, denn sie hatte eine Todesangst vor den Mäusen in der Stube.

Aber als Boel tot war, kamen natürlich sogleich wieder andere. »Frau Pfarrer hat es doch immerfort mit solchem kranken Bettelvolk zu tun,« sagte Dorthe.

Sehr oft hatte man es so eilig, daß man durchaus nicht vorher in den Wald gehen konnte, und nachher hatte man auch die Zeit nie dazu. Der eine mußte ein Paar Pulswärmer für die alten, blaugefrorenen Handgelenke bekommen, einer eine Fleischbrühsuppe in einer Flasche oder Himbeersaft, einer frische Eier, einer Zeitungen oder ein Buch, oder einer Blumen aus dem Garten, »denn die andern respektieren sie nicht,« sagte Mutter lachend.

Und wenn man endlich das letzte Paket abgegeben hatte und mit einer kleinen Andeutung kam, daß man jetzt zu niemand mehr gehen könne, da man ja nichts mehr zu bringen habe, dann mußte man doch noch zu der alten Stine oder zu Per Olsen, wo es gar so sauer roch, und noch zu verschiedenen anderen.

»Ihnen bringen wir ein freundliches Gesicht – das ist das Beste, womit man kommen kann, und das hat man immer bei der Hand.«

Wenn es dann nur wenigstens mit denen, die man besuchte, getan gewesen wäre, aber wer nur immer des Weges daherkam, mußte auch noch angesprochen werden. Mutter sagte, man möchte freilich am liebsten nur seinen eigenen Weg gehen, aber man sollte sich daran gewöhnen, auch mit den andern zu gehen, die schleppend, humpelnd oder hinkend und barfüßig auf dem ihrigen daherkämen. »Sie haben es alle nötig, daß man ein Stückchen mit ihnen geht.«

Selbstverständlich mußte man dann fragen, wie es mit Ole Kristensens Gicht gehe, und mit Ane Andersens Schwein, das so Verstopfung gehabt hatte, daß gar nichts, was man auch immer in es hineingoß, helfen wollte.

Und wenn der Laufjunge des Kaufmanns mit seinem Korb voller Bier- und Petroleumflaschen, den er nur so auf einer Hüfte trug, daherkeuchte, dann mußte man versuchen, ob man die Last nicht ein Stückchen tragen könnte. Ja, damals war man schon ein größeres Mädchen und konnte an dem einen Henkel mit anfassen, während Mutter den auf der andern Seite hielt und natürlich die Hauptsache trug.

Diese Mühe war nicht gerade vergnüglich; aber man schämte sich doch über seine Unwilligkeit, wenn Mutter auf den Laufjungen deutete und sagte: »Sieh nur, wie er sich krumm machen muß, damit der Korb auf seiner mageren Hüfte aufsitzt. Wenn man ihm nicht ab und zu ein wenig hilft, dann wird er schließlich selbst der Korkzieher zu allen seinen Flaschen« – und daran wollte man doch nicht schuld sein.

Kam jemand daher, den man nicht kannte, dann hätte man ihn doch wirklich ruhig vorbeigehen lassen können – aber nein: »Denn zweierlei muß ich von ihnen allen wissen,« sagte Mutter, »wo sie wohnen und was in ihnen wohnt.«

Eines Tages, als man dachte, des ewigen Anhaltens sei es doch ein wenig gar zu viel, und einem der Ausruf entfuhr: »Kann man denn nie mit den andern Menschen fertig werden!« da lachte Mutter und sagte: »Nein, niemals, Elsenkind, ehe man sein Leben für sie eingesetzt hat.«

Nun, dann mußte man eben von den beiden Übeln das wählen, nie mit den andern fertig zu werden.

Es war merkwürdig: Mutter, die im Garten die Sommerseite am liebsten hatte und immer die schönsten, herrlichsten Blumen suchte, sie ging hauptsächlich zu den Menschen, die gleichsam auf der Kirchhofseite drüben saßen, nämlich zu den verkommensten und traurigsten.

Aber deshalb wurde sie selbst doch kein Begräbnismensch. Im Gegenteil, es war, als bringe sie etwas von der Freude mit in die Trübsal hinein. Selbst in den allerschlimmsten Fällen schien ihre Gegenwart zu helfen.

Der schlimmste aber von den schlimmen Fällen war, daß ein Kind sterben konnte.

Daß die Alten sich hinlegten und starben, das konnte nun einmal nicht anders sein. Es gab ja gar kein anderes Ende. Und so unfaßlich es klang, sie sagten selbst so sehr oft, es sei gut, wenn man bald zwei Meter tief unter der Erde liege. Sie gehörten außerdem auch nicht zu der Welt, in der man selbst lebte, und das ganze war und blieb in so weiter Ferne.

Aber daß Kinder – ein Kind, wie man selbst eins war – sterben und auf dem Kirchhof in die Erde gelegt werden sollten, anstatt in die weite Welt hinauszukommen und Hochzeit zu machen, das war furchtbar!

Jenen Wintertag vergaß man nie, wo man mit Mutter zu Martine kam, der Witwe von Hans Kristiansen, oder Hans Spielmann, wie er genannt wurde. Bei allen Hochzeitsfesten hatte er auf der Geige gespielt, und bei diesen Gelegenheiten wurde ja viel durch die Gurgel gegossen, so daß es seine Richtigkeit hatte, wenn Dorthe sagte: »Ja, Hans Spielmann ist an all der Feuchtigkeit gestorben.«

Aber jetzt liege der Junge, der Martin, »an der Brust«, hatte Mutter gehört. Es war Martines einziges Kind, und da mußte man natürlich nach ihm sehen.

Hans Spielmanns Martine saß neben dem großen Bett – jetzt lag Martin darin, früher hatte er nur auf der Ofenbank geschlafen – und las ihm aus einem dicken Gesangbuch mit großen, schwarzen Buchstaben vor.

Sie hatte dazu eine eigene, lächerlich hohle und einförmige Grabesstimme angenommen. Und dann las sie eins von den Liedern, die am allermeisten nach Buchsbaum rochen. Dieser umgab jedes Grab mit seinem etwas herben Duft und mit seinem dunkelgrünen zuverlässigen Laub, und seine Zwerglein wurden den Toten immer aus ihren letzten Weg gestreut.

»Geht nun hin und grabt mein Grab,
Ich bin müd und will jetzt schlafen –«

Hier schaute Martine auf; sie schloß das Buch und kam uns entgegen.

»So, Sie sind es, Frau Pfarrer! Ach lieber Gott, ja, es geht ihm eben schlecht.«

Martin duckte sich in dem großen Bett zwischen groben Bettüchern zusammen wie ein krankes Vögelchen mit scheuen, blinzelnden Augen, die unruhig umherflackerten. Er hatte ganz hohle Wangen und eine gelbliche, schweißige Haut.

Man hielt sich krampfhaft an Mutters Rock fest und schluckte und schluckte – man hatte das Gefühl, als habe man einen Kloß im Hals, und es war dumpfig heiß in der Stube.

Ach, konnte denn Mutter nichts sagen, das von dem gräßlich Schweren etwas wegnähme!

Doch, Gott sei Dank! jetzt erklang Mutters Stimme. Sie ertönte wie die eines Vogels, melodisch und hell, gerade wie das Klirren der Ringelschnallen an ihren Schuhen.

»Ei, was ist denn das! Hängt nicht deines Vaters Geige über dem Bett? Die lustige Hochzeitsgeige!«

Und in demselben Augenblick war es, als sitze in jedem von Martins matten Augen ein kleiner glänzender Nagel, und ein roter Fleck zeigte sich auf seinen Backenknochen, während er mit seiner heiseren Stimme flüsterte: »Sie gehört mir.«

Dann erzählte Martine, der Junge sei wie versessen auf die Geige gewesen; so oft er von der Schule heimgekommen sei, habe er immer an ihr herumgefingert, und es auch wirklich so weit gebracht, daß er ein wenig klimpern gekonnt habe. Als es dann sehr schlecht bei ihm gestanden sei, habe sie gesagt, die Geige gehöre ihm, obgleich man es schon oft recht nötig gehabt hätte, sie zu verkaufen. Und jetzt habe sie sie über das Bett gehängt als Zeichen seines Eigentumsrechts.

»Na, wenn man so verwöhnt wird, dann ist ein bißchen Kranksein nicht sehr schlimm, nicht wahr?« sagte Mutter. »Nun muß der Herr Pfarrer einmal kommen und dir auf deiner eigenen Geige etwas vorspielen, denn du kannst das doch nicht gut selbst, solange du zu Bett liegst, und Else und ich, wir sind die reinen Nichtskönner. Wir können nur singen und ein bißchen auf dem Klavier klimpern. Aber der Herr Pfarrer kann geigen, und gleich morgen soll er herkommen. Und einstweilen mußt du dich besinnen, ob du nicht auf irgend etwas einen rechten Appetit hättest, und es ihm dann sagen, dann will ich versuchen, ob ich es für dich kochen kann. Denn ich will auch ein wenig zeigen, was ich kann.«

Wurde da nicht so ein ganz kleines, unterirdisches Lachen laut, das aber gleich wieder in den schlimmen Husten überging, nach dem man ausspucken mußte? Jedenfalls lag Martin da und sah ganz aufgemuntert aus, als Mutter sich in der Tür noch einmal umdrehte und ihm zunickte und winkte.

»Mutter, warum soll denn Vater ihm vorspielen?«

»Ach, wie dumm du bist, kleine Else, kannst du es nicht verstehen? Siehst du, Martine meint es ja herzensgut, aber sie hat ihm mit dem Gesangbuch Angst gemacht – und ich glaube fast, er war auf dem Punkt, sich vor dem lieben Gott selbst zu fürchten – denn in den Augen dieser Leute ist er und das Gesangbuch ein und dasselbe. Aber nun muß ihm Vater auf der Geige etwas vorspielen, und zwar Lieder wie ›Der Tag des Herrn ist da‹ oder ›Welch einen schönen Weg man hat, wenn er führt nach der Gottesstadt.‹ Ich glaube, ich will dazu singen, und dann sage ich: Kennst du das Lied, Martin? Oder: Erinnerst du dich daran von der Schule her? Wie wird er sich freuen, wenn sie ihm von der Hochzeitsgeige entgegenklingen! Und auf einem Bilde von einem der großen italienischen Meister ist ein Engel mit einer Geige in der Hand. Wir müssen sehen, ob wir das Bild nicht in Kopenhagen bekommen können. Das geben wir ihm in einem goldenen Rahmen und hängen es neben die Geige über das Bett. Wir müssen vielleicht tief in unsere Sparbüchse greifen – aber das geht nicht anders, er muß das Bild bekommen.«

Zu Hause angekommen, lief Mutter geradenwegs in Vaters Studierstube und ließ alle Türen hinter sich offen stehen, was Vaters Entsetzen war.

»Jakob, jetzt höre mich an. Martines Junge ist sehr krank –«

Vater stand auf und ging nach der Tür, und als er sah, daß noch ein paar andere Türen offen standen, machte er zuerst diese zu. Dann kam er ruhig wieder zurück.

»Er ist sehr krank, Jakob, und ich habe versprochen, daß du morgen zu ihm kommen – –«

Vater nickte ernsthaft.

»Und ihm auf seiner Geige vorspielen werdest.«

»Was?«

»Ja, ihm auf seiner Geige vorspielen. Er hat die von seinem Vater bekommen. Und heute noch mußt du an den Kunsthändler nach Kopenhagen schreiben um das Bild – ist es nicht von Fra Angelico? – von dem Engel mit der Geige. Es soll über seinem Bett hängen. Denn der Gedanke, daß es im Himmel auch Geigen gibt, wird ihm eine Freude sein.«

»Liebstes Kind, heute habe ich wirklich noch genug Schreiberei wegen des Konvents.« – Und Vater setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

»Dann kann ich es auch selbst tun.«

»Ist das nun auch wirklich so wichtig? Ich meine, es gebe an einem Sterbebette wichtigere Dinge als Bilder und Geigen. Und ich will nicht dafür einstehen, daß es solche im Himmel gibt.«

»Wichtig?« – Mutter sprang auf, und ihr kleiner Fuß trat fest auf den Boden. – »Wichtig? Ich sage dir, Jakob, sein Herz – sein ganzes Herz – hängt an dieser Geige, das habe ich gleich gesehen. Du kannst ohne die Geige gar nicht dazu kommen. Aber neben seinem Bett sitzen und in die Luft hinein reden – über seinen Kopf weg – das kannst du natürlich wohl, wenn du damit zufrieden bist.«

Und Mutter brach plötzlich in Tränen aus. »Es ist ihr einziger – und sie darf ihn nicht behalten. Er ist hoffnungslos krank, Jakob, und nun liegt er da und sieht so elend und verängstigt aus. Warum willst du mich denn nicht verstehen?«

Vater legte den Arm um sie. Er war immer unglücklich, wenn Mutter weinte, und er versprach, an den Kunsthändler zu schreiben und am nächsten Tag zu Martin zu gehen, ja, ihm auch auf der Geige vorzuspielen.

Später sagte er, Mutter habe ganz richtig gesehen – denn wenn etwas wahr war, räumte Vater es immer ein – der Weg zu Martins Herzen gehe wirklich durch die Geige.

Der Junge sei vorher mürrisch und verschlossen gewesen, aber es sei ganz merkwürdig, wie zutraulich er jetzt sei.

Mutter gegenüber war er es in ganz besonderem Maße. Sie wurde auch geholt, als es bei ihm zum Sterben ging. Vater ging mit, Mutter jedoch blieb die langen, bangen Stunden dort, bis er ausgestritten hatte; man durfte sie jedoch nachher nicht darnach fragen.

Aber mit den Lebenden allein war es nicht getan, Mutter meinte, sie müsse sich auch der Toten ein wenig annehmen. Es gab so viele vergessene und vernachlässigte Gräber, deren Angedenken so schief stand wie ihr Denkmal, oder die vielleicht nur ein armseliges Blümchen hatten, oder die mit Unkraut überwachsen waren.

Da mußte Mutter ausjäten oder aufrecht stellen. »Sie sollen doch sehen, daß noch jemand an sie denkt.« Oft schnitt sie im Garten Blumen für die fremden Gräber, denn dieser Schmuck hätte den Toten gewiß selbst am besten gefallen.

Sonst liebte Mutter abgeschnittene Blumen auf Gräbern nicht. »Sie verwelken so schnell, und dann sieht das Grab unordentlich aus; es ist, als ob man meinte, die Toten seien selbst abgeschnittene Blumen, und das sind sie nicht.«

Das Brüderchen bekam auch nie einen Kranz auf sein Grab, aber es wuchs gar viel Schönes darauf. Ein weißer Fliederstrauch beschattete es, und große Farnkräuter und kleine Maiblumen wuchsen darauf, und er hatte ein weißes Kreuz mit goldenen Buchstaben.

Man wäre am liebsten nicht mit aus den Kirchhof gegangen, denn wenn man an die toten Menschen dachte, dann war es einem, als ob sich auf das ganze Dasein ein Schatten legte. Aber Mutter ging da zwischen den Gräbern umher, und dabei klirrten die Ringelschnallen an ihren Schuhen, und sie fühlte sich gar nicht bedrückt – höchstens vielleicht am Grab des Brüderchens.

Es war ganz merkwürdig, wie sie überall zugleich sein konnte – denn eigentlich schien Mutter auch immer zu Hause zu sein, wo sie auf alles aufpaßte – fast ein wenig zu viel, nach dem Urteil der Mägde.

Mutter hatte nämlich eine Ansicht, die keine von ihnen teilte; sie meinte, alles in einem Hause, was glänzen könne – sei es nun ein Türgriff, eine Kaffeekanne auf dem Tisch oder ein Paar Menschenaugen – dürfe nie matt sein, sondern müsse stets blitzblank glänzen, daß man selbst an Regentagen Sonnenschein darin habe. Deshalb mußte auch in einem fort geputzt und gerieben werden. Mutter scheute sich nicht, selbst Hand mit anzulegen; aber die Mägde hatten doch immer noch genug zu tun.

Nein, wie lachte Mutter eines Tages, als sie in der Speisekammer, wo sie eben Pökelfleisch aufschnitt, hörte, wie Dorthe draußen in der Küche einem neuen Mädchen die Familie beschrieb, und dabei von Mutter sagte: »Was nun die Frau anbetrifft, sehen Sie, gutherzig, ja das ist sie, so daß es fast ein wenig zu viel des Guten ist. Aber hitzig kann sie werden, so daß alles nur so raucht und rappelt. Und mit ihrer ewigen Blankputzerei ist sie gräßlich.«

Mutter kam mit dem Messer in der Hand und die Wirtschaftsschürze noch umgebunden ins Zimmer hereingelaufen, damit Vater sogleich erfahre, was sie für eine Frau sei! Und sie war ganz entzückt über die Beschreibung, wenn man auch, wie sie sagte, lieber etwas wie »jung und reizend« gehört hätte.

Jung – ja das konnte doch Mutter auch nicht sein, denn man erinnerte sich, daß Mutter an dem Tag, wo man sechs Jahre all wurde, dreißig geworden war. Da ging es nicht wie bei Huldfriede, die fünfzehn Jahre lang eine junge Maid war und blieb. Ja, Huldfriede war jung, und deshalb warben auch alle Ritter aus der weiten Welt um sie.

Reizend – darnach fragte man bei Mutter nicht; aber man war ganz sicher, daß man niemals ein anderes Gesicht so lieb haben konnte wie Mutters.

Mutter erzählte von einer Dame, weit weg in dem großen London, in der schrecklichen Stadt, wo jeden Tag siebzehn Kinder verloren gehen in etwas, was der Durchschnitt heißt. Diese Dame ging bei den Armen herum. Und die, die nicht wußten, wie sie hieß, nannten sie »die Frau mit den strahlenden Augen«, und da wußte jedermann gleich, wer gemeint war. »Und es ist eine Schande,« sagte Mutter, »daß man das von uns nicht sagen kann.«

Aber auf Mutter paßte es wirklich. Man dachte immer im stillen, jene Dame müsse gerade so und kein bißchen anders ausgesehen haben. Und wenn Mutter nicht Mutter gewesen wäre, hätte man sie gut »die Frau mit den strahlenden Augen« nennen können, wenn sie so um einen her aus und ein ging, in ihren Schuhen mit den lustigen Ringelschnallen, die immer ein wenig klirrten.

Aber das sagte man nicht. Denn es gab vieles, was man für sich zu behalten pflegte.


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