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Wenn einem als Kind etwas Widerwärtiges begegnete, oder wenn es an einem Tag allzu langweilig war – und besonders, wenn sich Mutter auch in derselben Stimmung befand – dann pflegte es immer am nettesten zu werden.
Mutter nahm einen bei der Hand und sagte: »Komm, Else, wir wollen schnell auf den Hügel gehen und ein wenig in die weite Welt hinein reisen, denn hier daheim kann man es nächstens nicht mehr aushalten.«
Dann lief man durch den Haselnußgang, und oben auf dem Hügel begann man unter kurzer, lustiger Beratung, was man am nötigsten mitnehmen sollte, seinen Koffer zu packen. Else wollte Huldfriede und ihr kleines Kochherdchen mitnehmen, das ihnen von großem Nutzen sein würde, und einen Korb Stachelbeeren aus dem Garten, wenn es gerade welche gab, oder ein Säckchen Haselnüsse. Mutter wollte ihre Singnoten, ein Bild von Vater, sowie das kleine von dem guten Hirten und überdies ihre Ringelschnallenschuhe einpacken.
Dann reiste man ab. Der kleine See mit den Perlen der Pfarrfrau war die Ostsee, dann kam das große Deutschland mit alten, merkwürdigen, komischen Städten. Aber man hatte nur selten Zeit, sich darin aufzuhalten; man jagte hindurch und vergaß, von den Stachelbeeren zu essen, weil man immerfort nach Süden, nach Süden schaute.
Und wenn die Erwartung am höchsten gespannt war, dann tauchten weit, weit draußen große, weißgezackte, goldumsäumte Wolken auf – die Alpen mit ihren Perlenkronen aus ewigem Schnee.
Man wanderte zwischen ihnen hin – stieg steile Abhänge hinauf, wo die Alpenrosen im Schatten hoher rauschender Tannen blühten – über Wiesen, die von bunt leuchtenden Blumen wie mit Juwelen übersät waren, und wo die Kühe weideten und mit ihren lustigen Glocken läuteten, an großen Felsenpartien vorüber, wo feine Farnkräuter schwankten, wo blaßrote Linäen standen, die schwedisch aussahen; und drunten lagen tiefe glänzende Seen, die treulich die weißen Berge widerspiegelten.
Mit diesen Alpen konnte man fast nicht fertig werden. Aber bisweilen zog man auch weiter, bis die Alpen weit zurückblieben und sich in sonnenglitzernde Schleier hüllten, und bis man eine Ebene vor sich sah, die ganz der glich, die man auf dem Hügel vor sich hatte, die gerade auch so nebelhaft auf und ab wogte. Und da, ganz draußen am Himmelsrand, zeichnete sich von dem hellen Grund der bläuliche Schattenriß einer großen, wundervoll gewölbten Kuppel ab.
Man rief: »San Pietro! San Pietro!« zusammen mit Mutter, wie sie es einst im Coupé gerufen hatte, als sie sie zum ersten Male sah. Das war Rom mit der Peterskirche, die Stadt der sieben Hügel, nach der sich schon Paulus so viele Jahre lang gesehnt hatte, die ewige Stadt mit ihrer marmornen Herrlichkeit der Kunst und ihrer blutigen Herrlichkeit des Märtyrerglaubens, wo in den stillen Klostergärten die Zitronenblüten duften, wo die Lampen leuchten und die Glocken über der Ruhestätte zweier großer Apostel läuten – –
Ach, es gab so viele Orte, wohin man reisen konnte. Aber dahin, wo man am allermeisten reisen wollte, das war das Land, wohin zu kommen Mutter nie erreicht hatte, das sie nur Tag und Nacht mit geschlossenen Augen sehen konnte, und wohin all ihr Sehnen ging.
Das heilige Land war es – –
»Aber dorthin reist man zu Fuß,« sagte Mutter. Mehrere Jahre hindurch trug sie sich mit dem Gedanken, eine Pilgerfahrt ins Werk zu setzen, von einer großen Schar Gläubiger, die zu Fuß dorthin wandern wollten, und es kam ihr gar nicht so unmöglich vor, wie Vater es sich vorstellte.
Aber von dem Hügel aus unternahm sie diese Reise oft mit ihrem Elsenkind. Sie machten sich auf den Weg wie zwei alte Pilger, jedes mit einem großen Wanderstab, einem breitrandigen Hut und mit einer großen Muschel am Gürtel, die als Trinkgefäß diente bei den Quellen am Wege – sie spähten umher, und so oft die zackigen Umrisse einer Stadt am Horizont auftauchten, fragten sie wie einst die ersten Kreuzfahrer, ob dies noch nicht Jerusalem sei.
Und endlich sah man sie mit ihren Türmen und Zinnen, die Stadt auf dem Berge, die nicht verborgen bleiben konnte; und durchs Jaffator zog man hinein in die engen krummen Gassen, wo man von dem gellenden, bunten Leben ganz verwirrt wurde, und wo Mutter gleich auf der via dolorosa nach der heiligen Grabesstätte gehen wollte.
Aber noch besser war es, wenn man dort auf den Wiesen spazieren ging, wo die Lilien aus dem grünen Gras aufragten, dort wo die Felder im Herbst von der Sonne ganz weiß gebrannt wurden und wo der große See glänzte, dessen Wogenschlag für Mutter der Herzschlag der ganzen Welt war. Galiläa, der sonnigste Name von allen andern dort.
Vater pflegte zu sagen: »Ich glaube, wenn ich Mutter einmal, ganz einerlei zu welcher Stunde der Nacht, aus dem süßesten Schlaf geweckt und gesagt hätte, wir wollen jetzt in das heilige Land reisen, so wäre sie sofort aufgesprungen und hätte gesagt: Ja, ja, komm!«
Vater hörte auch ihr starkes, inniges »Ja, ja!« in ihrer letzten Nacht, wo er sie doch gar nichts gefragt hatte; aber Vater war ganz gewiß, daß da der Ruf an sie ergangen war, aufzustehen und in das heilige Land zu gehen.
– Wenn Else jetzt auf dem Hügel steht und in die öde Schneelandschaft, zu der die weite Welt geworden ist, hineinschaut, dann wünscht sie, daß es ihr möglich wäre, das Spiel aus der Kinderzeit im Ernst aufzunehmen; denn das Leben hier ist nicht mehr zu ertragen, oder besser gesagt, der Mangel an Leben.
Aber nicht einer der alten Orte wäre jetzt das erwünschte Ziel. Keiner von allen birgt das Leben für sie. Und am leersten von allen wäre Mutters blauendes Sehnsuchtsland gegen Osten; der Ort, wo man von einem, der begraben, der nicht mehr da ist, nur die Erinnerung hat – von einem, der das Leben selbst war – der ist doch am ödesten von allen Orten der Welt! Davon hat man genug daheim!
Nein, sie sehnt sich nach einem heiligen Land – wo heilige Füße wandeln – wo das Leben ist – wo der Himmel mit der Erde zusammentrifft. Diesen Punkt hat sie eben doch nicht erreicht; und wenn sie auch meint, es sei der Fall gewesen in jenem einzigen Augenblick, wo sie richtig gelebt hat, so ist er ihr schon lange wieder entwichen.
Könnte man doch nur ausziehen, das heilige Land zu finden! Wäre man doch nicht auf das unbestimmbare »im Geist wandeln« angewiesen!
Nein, gehen, gehen – bis man sich die Füße wund gelaufen hätte, sodaß man seine eigene Sehnsucht mit Händen greifen könnte und die tatsächliche Gewißheit hätte, daß man wirklich auf dem Wege sei …
Und wenn man dann eines Tages dort ankäme – auf einem schmalen, gewundenen Pfad, durch die weißen und schweren Ähren hindurch, von denen die einen dreißigfältige, die andern sechzigfältige und einige hundertfältige Frucht trügen –
Und im flimmernden Sonnenschein vor sich dann ihn selbst sähe – in seinem ungenähten Rock –
Ach, wie unbeschreiblich viel liegt darin! Eine unbeschreibliche Ruhe und Sicherheit in der einen kleinen Sache: »sein Rock war ungenäht.«
Denn alle, alle andern – was sie auch sagen mögen – sie sind zusammengenäht und angesetzt aus so und so vielem Verschiedenem, Zufälligem, Kleinem und Unbedeutendem! Ach, es ist ja doch alles nur zusammengeflickt und -gestopft! Und man selbst besteht auch nur aus kleinen Flicken, die kaum mehr halten wollen.
Aber daß er sein ganzes Leben lang bis an seinen bitteren Tod einen gewirkten, ungenähten Rock trug, den selbst die rohen Männer, die ihm die Nägel eingeschlagen hatten, nicht zu zerschneiden wagten, das macht einen ungeheuren Unterschied.
Und gerade darnach sehnt man sich. Nach einem, der ganz er selber ist, der einem vollen und klaren Bescheid geben kann, die einfache und natürliche Antwort auf alles, die man von den andern nie bekommt, wenn man in seiner Seelenangst fragt und nicht mehr ein und aus weiß. Ob die nicht gerade das brauchen, die draußen, die sich immer selbst zusammenflicken wollen, aber wohl wissen, daß alle Kenntnisse und alle Gelehrsamkeit und alle die Erfahrungen, die sie machen, nur immer mehr Flickwerk wird …
Ach, könnte das nicht einem tiefen, unbewußten Drang entgegenkommen, wenn man jetzt dies an ihn schriebe – nur das und nichts anderes: »Paul, sein Rock war ungenäht.«
Ihr ist, als müßte er das verstehen können, und als sei ihm das Wort ebenso nötig wie ihr. Und er selbst würde die Stelle ja nie finden, denn sie ist in der Bibel gar nicht hervorgehoben, und die Bibel kann er ja auch nicht lesen. Mutter sagte: »Hebräisch muß von rückwärts, die Bibel aber von innen heraus gelesen werden. Wer sie nur äußerlich liest, versteht sie gar nicht.«
Aber es würde natürlich lächerlich aussehen, wenn sie ihm diese Worte schriebe – und es wäre ja auch gar nicht ausführbar.
Und was hilft es [ihr], ob sie auch dies von dem ungenähten Rock weiß, wenn sie ihn trotzdem nicht mit beiden Händen ergreifen kann?
Ach, die lebendige Macht, die die bittere Wirklichkeit des Todes verdrängen kann, die kann sie nicht in ihr Leben hereinbringen! Wenn ihre Hände sich nach oben strecken, faßt sie nur in eine schaudernde Leere – –
Und von dem Hügel führt kein Weg in das heilige Land, nach dem sie sich sehnt – – das Land, wo heilige Füße wandern und wo das Leben ist … Vater will zu Per Olsen gehen und fragt Else, ob sie mitkomme. Per hat sich den Fuß verstaucht und muß das Zimmer ein paar Tage hüten. Und nun will Vater ein wenig mit ihm reden, »denn des Mannes Herz ist unruhig geworden,« sagt er. »Und es könnte ja sein, daß dies die Stunde der persönlichen Begegnung mit dem Heiland für ihn wäre.«
Vater legt besonderen Nachdruck auf diese letzten Worte. Er weiß wohl, daß Else die ihrige auch noch nicht gehabt hat, aber seit jenem Tag hat er nicht wieder mit ihr davon gesprochen.
Es ist wundervolles Frostwetter, Ohren und Nase prickeln einem ordentlich. Aber die weiße Landschaft ist prachtvoll und sieht ruhig und vergnügt aus, als befinde sie sich bei dem toten Dasein ganz wohl.
»Per liest jetzt in der Bibel,« sagt Vater; »aber er sagt, er habe das Gefühl, als bleibe doch alles ebenso weit entfernt von ihm.«
Else erwidert nichts, und Vater fährt fort: »Ich mußte an etwas denken, was deine Mutter über jene Geschichte von Augustinus gesagt hat, der in der Zeit seiner Bekehrung eine Stimme gehört haben soll, die gesagt habe: Nimm und lies! ›Aber derer sind es gewiß nur wenige, die sich zum Herrn hinlesen können‹, sagte sie.«
Mutter – ja ganz richtig, sie sagte, da könne man sich eher zu ihm hin bekennen. Aber Else erinnert sich wohl noch, wie es Mutter selbst gegangen war. Damals, wo Großmutter starb, da war es ihr gewesen, als stürze alles um sie her zusammen. Sie sehnte sich nach einem persönlichen Glaubensverhältnis; aber so viel sie auch betete und las, es half alles nichts.
Da fand sie eines Tages einen kleinen Jungen am Wegrand vor Großvaters Landhaus, der bitterlich weinte, weil er sich den Fuß an einem Stein verletzt hatte. Mutter trug ihn hinein, wusch und verband ihm den Fuß, und als sie dies getan hatte und sich umwandte – da – da – stand er da – leibhaftig.
Und Mutter fügte hinzu: »Seither weiß ich auch, wo man ihn treffen kann; aber ich bin deshalb doch jedesmal wieder aufs neue erstaunt, so oft es geschieht, denn ich vergesse es doch immer wieder.«
Ja, das war Mutters Art, dahin zu gelangen, aber Elses kann sie darum doch nicht werden. Mutter war immer ganz dabei in den geringsten Liebeswerken; aber Else weiß gut, daß sie diese nur nebenher tut, deshalb wird dies für sie nie der Weg zum Ziele werden.
Vater ist bei Per drinnen, und Else sitzt bei Ane in der vorderen Stube. Ane ist glücklich, weil der Herr Pfarrer mit Per spricht; denn man könne ja nie wissen, wie bald der Tod den Menschen anfalle, und man müsse doch vorher zur Klarheit gelangen. Sie wärmt Else eine Tasse Kaffee und bietet ihr Apfelküchlein von gestern an. Aber Else nimmt nur den Kaffee an, er wärmt ihr das Näschen so gut nach dem kalten Gang.
Dann ertönt Vaters Stimme drinnen bei Per. »Jawohl, Per, aber an einem Ort hast du ihn nicht gesucht, und da ist er gerade, da, wo du als ein armer verlorener Sünder hinkommst. Da steht er und wartet auf dich, um dich zu retten; aber diesen einen Punkt, die Sündenerkenntnis, umgehst du immer.«
Spricht Vater ihretwegen so laut? Sie weiß ja wohl, daß sie nicht vollkommen ist, durchaus nicht, aber diese fürchterliche Sündhaftigkeit fühlen zu müssen – auf diesen Punkt, nein, dahin kann sie wohl auch nicht gelangen.
Auf dem Heimweg sind beide schweigsam. Erst als sie sich der Heimat nähern, sagt sie: »Es ist ja auch schwer, wenn man sich so ungeheuer sündhaft fühlen soll.«
»O ja, aber noch viel schlimmer ist es, so zu sein – wie wir alle es sind – und es nicht zu fühlen. In dem Augenblick, wo man es erkennt, ist die Hilfe nahe. Per weiß recht gut, daß er diesen Weg gehen muß, um zum Herrn zu kommen, aber er sträubt sich – wie wir uns alle vor dem entscheidenden Schritt sträuben.«
Vor dem Pfarrhaus bleiben sie stehen. Über den bläulich-weißen Schneefeldern im Westen ist der Himmel in eine tiefe, rotgoldene Glut getaucht. Und hoch oben an dem klaren Himmelsraum glänzt des Neumonds silberhelle Sichel.
Dann sagt Vater – es klingt ganz abgerissen, aber ist es doch, als folge er einem ganz bestimmten Gedankengang, während er den Sonnenuntergang betrachtet – und es ist einer seiner ihm eigenen schweigsamen Aussprüche, von denen man nachher nicht weiß, ob er sie getan hat oder nicht:
»Da, wo du ihm dein Herz gibst, da ist er.«
Vor dem Fenster ihres Schlafstübchens breitet sich eine große, sternflimmernde Nacht aus. Eine weiße Erde und ein unermeßlicher Sternenhimmel …
Das Zimmerchen ist geheizt und behaglich warm. Sie hat ihr langes, blondes Haar gelöst, und die Hände im Schoß sitzt sie in tiefe Gedanken versunken da.
Ihr Herz – ihr menschliches Herz, wie Mutter sagte.
Das ist nicht schwer zu finden, es ist die Liebe zu Paul, bis an den Rand voll davon. An jenem Tag im Haselnußgang, wo er es nahm – aus ihrer offenen, opferwilligen Hand – da füllte er ihr Herz.
Könnte sie denn da drinnen irgend eine Liebe fühlen, die größer und stärker wäre, als die zu ihm? Hat sie noch ein Herz zu geben?
Möchte sie nicht deshalb so gerne nach dem heiligen Lande gehen – mit wunden Füßen dort ankommen – mit ausgestreckten Händen ergreifen – weil sie weiß, daß sie nicht mit ihrem Herzen kommt, und vor sich verbergen will, daß sie dies nur umgehen möchte?
Sie fühlt sich hilflos und arm, nackt und allein. Der Glaube ihrer Kindheit ist ein schöner Traum außerhalb der Wirklichkeit, mit dem sie sich nicht mehr begnügen kann. Sie muß etwas ganz anderes in ihr Leben hereinbekommen, die lebendige Macht! Aber sie hält ihr Herz zurück, deshalb kann ihre persönliche Begegnung nicht stattfinden.
»Wo du ihm dein Herz gibst, da ist er.«
Ja, aber wie kann sie das? Sein Herz geben, heißt seine Liebe geben, ach, wo sollte sie eine Liebe hernehmen, die größer wäre als ihre Liebe zu Paul!
Mit langsamen, zögernden Fingern flicht sie ihr Haar; und als dies getan ist, versinkt sie wieder in Gedanken.
Jetzt steht sie auf und tritt ans Fenster, sie öffnet es und schaut hinaus in die flimmernde stille Nacht. Selbst die Kälte ist so still, daß man sie kaum fühlt.
Irgendwo ertönen Hufschläge und das Rollen eines Wagens. Ein Hund bellt ein paarmal dazu.
Dann ertönt ein einsamer Schritt auf der Landstraße. Auf dem harten Boden, durch die frosthelle Luft ist er deutlich vernehmbar.
O dieser einsame, heimatlose Schritt, dem sie ihre Tür nicht auftun darf! – aber ihr Herz nimmt ihn auf. Ihr Herz hat nichts weiter als die Heimat für diesen Wanderer. Nie, nie wird sie es zu etwas anderem machen können. Niemals!
»Nein – aber so wie es ist, Liebe zu Paul, bis an den Rand voll davon, so wie es ist, kannst du es geben.«
Woher kam das? Hat jemand es ausgesprochen?
Mit einem Schauder schließt sie das Fenster und wendet sich ab. Sie kreuzt die Arme über der Brust. Nein, nein, nein – ihre Liebe zu Paul, – die muß sie behalten – für sich ganz allein.
Ihr Glück, ihr Leben hat sie ausgeliefert – zum Begräbnis. Ihre Liebe muß sie ganz für sich behalten, um mit ihr zusammen zu leben und zu sterben.
Außerdem ist es ein ganz unnatürlicher Gedanke, der ihr da eingefallen ist. Alle andern würden ihr sagen können, daß es durchaus nicht das ist, was sie tun muß. Das war es auch nicht, was Vater mit ihrem Herzen gemeint hatte.
Aber hat sie denn etwas anderes?
Und wenn – wenn es nun so wäre, daß jedes Menschenkind seinen eigenen geheimen Weg zum Herrn hätte, gerade wie sein eigenes Gebet auch? Aber ach, was könnte diese Erkenntnis ihr helfen, wenn die andern es nicht auch einsähen; denn auf ihrem Wege, dem Wege der andern, könnte sie alsdann ja gar nicht hingelangen!
Nein – nein, das könnte sie nicht.
Sie möchte – ach so gern möchte sie zu ihm kommen und bei ihm Schutz finden, bei ihm, mit dem ungenähten Rocke – hilflos, arm, nackt, wie sie ist! Aber sie kann ihm ihr Herz nicht geben – denn das ist voll von Liebe zu Paul –
Sie hat sich entkleidet. Beten – nein, wenn sie doch weiß, daß sie ihm ihr Herz vorenthält: »Dieses Volk ehrt mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir.« Nur mit den Lippen ehren, das ist nichts, ist weniger als nichts.
O ja, das Vaterunser kann sie beten – Hand in Hand mit den vielen andern. Jene Hände werden die ihrigen mit aufheben.
»Unser Vater« – die Kette schließt sich um die ganze Erde herum – –
»Amen« – Jetzt steht sie allein da.
Und sie weiß, ein Ohr ist da, das auf ihr eigenes Flüstern wartet – um es zu erhören, ein Herz, das auf das ihrige wartet, um es zu erretten vom Tod.
Und sie gibt – gibt das Geheimnis ihres Lebens, gibt ihr Herz mitsamt der Liebe, von der es bis an den Rand voll ist, gibt es in das Herz – –
– »Unsere Füße stehen vor deinen Toren, Jerusalem!«