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Die Zeit vergeht! –

Die Zeit wird schon herumgehen, pflegt Dorthe in drohendem Ton an den Tagen zu sagen, wo sie meint, es sei ihr mehr Arbeit auferlegt, als sie ausführen könne, und es ist eines der weisen Worte, die unvermeidlich zutreffen. Die Zeit vergeht, und man vergeht mit ihr, allerdings lange nachher – aber doch mit ihr.

Die großen Tage, wo der Kummer der feierliche Alleinherrscher war, verwandeln sich in arbeitsvolle Werktage, in ein Leben, in dem nur der Werktag zurückgeblieben, das Leben selbst aber verschwunden ist. Man schläft und steht auf, tut, was gerade sein muß, obgleich man am liebsten mit den Händen im Schoß müßig dasitzen möchte, weil es einem viel weher tut, sich bewegen, eine Arbeit vornehmen, sich dabei zerstreuen – und dann unwillkürlich wieder denken zu müssen.

Vater ist erstaunlich stark gewesen. Er hat in den schweren Tagen alles gekonnt und hat Worte gesprochen, die niemand wieder vergessen kann. Aber jetzt, nachher, ist er todmüde bis in die tiefste Seele hinein und will Ruhe haben, nur Ruhe. Er sagt, er müsse sich etwas erwerben und in etwas hineindringen.

Die Erinnerungen an Mutter, sie sind es nicht, diesen weicht er eher aus. Es ist merkwürdig, so oft Else sagt: »Ach, weißt du, wie Mutter darüber lachte? – Weißt du, wie Mutter diesen oder jenen nannte? – Weißt du, wie Mutter den Lavendelduft liebte und keinen im Garten pflanzte, damit sie etwas hätte, von dem sie träumen könnte?« dann geht Vater darüber weg, als ob er sich nichts daraus machte, es zu hören. Else selbst aber sammelt alles zusammen, denn sie hat ja jetzt nichts mehr, als diese Brosamen, die vom Tische des Reichen fallen.

Es ist merkwürdig, aber eines Tages entschlüpft Vater das Wort: »Mutter ist ja in nichts mehr von all dem, sie hat es längst hinter sich gelassen. Ich kann mir nicht daran genügen lassen, wie Mutter war, ich muß sie so haben, wie sie ist.« Ja, da versteht man erst, daß es Treue gegen Mutter ist, wenn Vater sie ganz anders wirklich als in den Erinnerungen besitzen will, und daß diese ihn nur stören und zerstreuen. Else kann nicht von der Mutter hier auf Erden wegkommen, Mutter im Garten, Mutter in den Zimmern, im Walde, überall, wo sie die Spuren ihrer Ringelschnallenschuhe hinterlassen hat. Aber Vater will noch Schritt mit ihr halten. Das, das will er erringen, deshalb soll alles andere ruhen.

Dann kommt Julius dazu. Julius ist im Juni heimgekehrt, er hat natürlich I a gemacht und ist jetzt auf ein halbes Jahr daheim, weil der Arzt ihm geraten hat, sich in der Landluft auszuruhen und erst nach Neujahr in das Predigerseminar einzutreten. Else ist es gleichgültig, wie alles andere auch; aber allmählich ist es doch gut, daß er da ist und bittet, als ein unordinierter Hilfsgeistlicher betrachtet zu werden, solange Vater ihn gebrauchen könne. Und er kann bei vielem helfen, sogar beim Predigen. Das heißt, Julius ist auf dem Standpunkt, wo er die ganze Bibel und außerdem noch alles zwischen Himmel und Erde in jede Predigt hineinbringen will, durch die dann mindestens zwei bis drei durchschlagende Bekehrungen bewirkt werden sollen. Vater sagt, in dieser Periode solle man lieber schweigen; deshalb läßt er Julius auch nur an ein oder zwei Sonntagen predigen, wo er sich ganz besonders matt fühlt. Aber außerdem gibt es so vieles, was er tun kann.

Und Else wäre nie zu einem Spaziergang gekommen, wenn Julius sie nicht dazu aufgefordert hätte, weil er sich selbst recht viel Bewegung in der frischen Luft machen soll.

Die Zeit geht ihren Gang. Der Sommer ist warm und strahlend schön, und Julius geht mit Else spazieren. Einmal in der Woche gehen sie mit einander ins Armenhaus und lesen und singen den alten Leuten etwas vor. Julius richtet auch einen Kindergottesdienst ein, und Else muß ihm dabei helfen.

Else ist der Gedanke an irgend eine Wirksamkeit außer dem Hause unerträglich gewesen. Was kann das nützen, wenn Mutter nicht mehr da ist? Mutter schlug ihre überreiche Liebe wie einen großen warmen Mantel um die ganze Gemeinde; sie krochen alle darunter und wärmten sich. Sie, das Kind, kann es nicht hindern, daß sie jetzt allein sind und frieren – das tut sie selbst auch – und das Heimweh wird nur noch brennender, wenn sie etwas zu tun versucht, wozu ihre Kräfte nicht ausreichen.

Aber Julius' Art ist ganz und gar nicht wie Mutters, deshalb kann sie schon mitgehen. Seine Art ist etwas mager, etwas sehr gewissenhaft; sie entspringt gleichsam mehr seiner Überzeugung als seinem Herzen, kann aber deshalb vielleicht doch etwas Gutes wirken, und es ist Else doch eine Linderung, an andere zu denken, wenn es auch Überwindung kostet.

Die Zeit geht ihren Gang. Der Herbst bricht an mit langen, trüben Abenden. Julius kommt bei jedem Wetter, liest Else vor und bittet sie, Lieder mit ihm auf dem Harmonium einzuüben. Sein Gehör sei nicht ganz sicher, und er möchte sich daran gewöhnen, in der Kirche die Liturgie zu singen. Gewöhnlich will er auch Vaters Ansicht über irgend eine dogmatische oder exegetische Frage hören. Julius ist Vater nicht sehr unterhaltend, aber es interessiert ihn, einen jüngeren Kollegen zu beraten. In seinem Herzen meint Julius zwar kaum, daß er einer Leitung bedürfe, und er fragt wohl hauptsächlich um Vaters willen: aber er weiß auch, wenn Vater einmal von einer Frage angeregt ist, fallen manche Bemerkungen, die ihm nützlich sein können.

Else gewöhnt sich so an Julius, daß es ganz natürlich klingt, als sie eines Tages zu ihm sagt: »Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, wenn du in Kopenhagen bist. Jetzt haben wir uns so gut zusammen eingelebt.«

»Ja, es geht mir gerade so,« erwiderte er. »Aber wir werden schon wieder zusammen kommen, Else, da wir beide dasselbe Gefühl hegen.« Er sagt diesmal nicht mehr; aber später fügt er noch dies und jenes hinzu, sodaß es ihr eines Tages beim Nachdenken fast ist, als sei sie halb und halb auf etwas eingegangen, das er und die andern schon als etwas Selbstverständliches betrachten.

Sie merkt, daß auch Vater es denkt und daß für ihn eine Art ruhiger Erleichterung in dem Gedanken liegt. Es ist wie ein Schicksal, das alle gemeinsam für sie geschaffen haben. An und für sich wäre es ja auch natürlich, wenn Julius – und niemand anders – nun einmal da ist und es auf dieser Welt mit Hochzeit auf immer vorbei ist. Es könnte vielleicht auch ein ganz ruhiges und angenehmes Dasein werden, wenn nicht – wenn nur etwas nicht gewesen wäre.

Denn es hat sich allmählich etwas zwischen sie hineingeschlichen. Man sollte meinen, bei Julius sollte das ganz vermieden werden können. Aber nein, es ist da – lauernd, beängstigend. Schon als ganz kleines Mädchen ist dies ihr geheimer Schrecken gewesen, ob sie es nun in grober Gestalt zwischen Knechten und Mägden, oder in feinerer Weise zwischen gebildeten Verlobten gesehen hat. Sie schaudert zusammen, wenn sie nur Pächters Hansine mit ihrem salbungsvollen Schullehrersohn, der Missionar werden will, zusammen steht! Uha! – sie hat die beiden einmal auf einer Bank im Garten überrascht. Und wenn sie nur einen Schimmer davon in dem Gesicht eines Menschen sieht, das den Augen einen besonderen Ausdruck gibt, wie zum Beispiel bei dem Sohn des Amtmanns, da überläuft sie kaltes Entsetzen.

Julius ist sehr gut, gar nicht so; sie kann sich nicht über das geringste beklagen. Nur einmal hat er ihre Hand in der seinigen behalten, als wolle er etwas damit; aber als es ihr wie vor Angst ganz heiß wurde, ließ er sie wieder los, als könne er das rechte Wort nicht finden, oder als bedächte er sich und wolle lieber warten. Und eines Abends, als sie beim Dunkelwerden mit einander auf einem sehr schlechten Weg gingen, nahm er ihren Arm, obgleich sie sagte, es sei durchaus nicht nötig. Das alles ist ja nichts Schlimmes, aber es wird es für sie, weil jenes dahinter ist und sie erschreckt. Sie sieht es hervorkriechen wie das Tier, vor dem sie am allermeisten Angst hat, wie einen Regenwurm – und das wirkt so auf sie, daß sie eine ganz andere wird. Sie kennt sich selbst nicht mehr; wenn sie jetzt mit Julius spricht, hat sie Hintergedanken, sie wird gewandt, Ausflüchte zu ersinnen, um nicht allein mit ihm zu sein. Alles, was sie früher so gut und ausgezeichnet an ihm gefunden hat, sieht sie jetzt gar nicht mehr; es ist von dem einen Gefühl, daß er der geworden ist, der ihr zu Leibe will, verschlungen.

Als er nach Kopenhagen abgereist ist, kann sie ihn wieder recht gut leiden, und es ist ganz natürlich, daß er ihr schreibt. Es wäre doch unrecht, wenn sie ihm sagte, sie mache sich nichts daraus, von ihm zu hören. Aber so oft er in den Ferien nach Hause kommt und im Pfarrhaus aus- und eingeht, ist es ihr peinlich.

Richtig verliebt in sie ist Julius gewiß auch nicht, aber er hat sie gern, und meint natürlich, da sie so ein kleines Heimchen und überdies jetzt immer betrübt sei, passe sie gut zu ihm. Verliebt sein – das gehörte ja auch zu der frohen Welt, die vorüber ist. Aber warum kann denn das nicht auf einmal vorbei sein? Hat es etwas mit gegenseitiger Hilfe und Vertrauen und Achtung zu tun? Es wäre viel angenehmer, wenn man ohne das lieben und heiraten könnte, denn dann hätte man einander viel lieber und fühlte sich nicht gezwungen und verlegen. Es ist unbegreiflich, daß das dazu gehören soll – auch zwischen christlichen Leuten.

Die Zeit geht ihren Gang. Die Sonne scheint, und es ist Sommer – der zweite, der auf Mutters Grab blüht. Mathilde ist im Pfarrhaus zu Gast. Das ganze erste Jahr hat Else alle Einladungen von Onkel Rektors ausgeschlagen – sie wolle Vater nicht allein lassen und es sei so lebhaft dort vom frühen Morgen an – aber sie wolle gerne eines von ihnen bei sich haben.

Mathilde ist so schön und fröhlich, so fest entschlossen, sich das Glück nicht entwischen zu lassen, so sicher in ihrer eigenen Lebensweisheit und ganz erfüllt von Lebenslust!

»Du sollst ja den I a-Mann haben,« sagt sie.

Sie meint Julius.

»Da weiß ich nichts davon.« Else sagt es ziemlich bestimmt.

»Ich hoffe, er bekommt bald eine Stelle,« fährt Mathilde ganz unangefochten fort, »daß ihr gleich heiraten könntet und euch nicht noch lang zu verstellen braucht. Das Verlobtsein ist nichts als eine Art Verstellung, ein Zustand, der gar keinen Sinn hat.«

»Ja, das ist gewiß wahr,« denkt Else, »und es gibt nur eins, was noch weniger Sinn hat, das Heiraten nämlich, denn dann kann man ja nicht vermeiden, mit einander allein zu sein, und dann muß man sich darein finden.«

»Für Männer wenigstens hat eine Verlobung gar keinen Sinn. Aber du kennst ja keine Männer.«

»Doch, einige – und im übrigen kann man die andern nach sich selber beurteilen.«

»Nein, das genügt nicht. Es gibt nichts, worüber sich die Männer so lustig machen, wie über die Vorstellungen, die die Frauen von ihnen haben, und diese sind auch recht dumm. Die Männer muß man in der Wirklichkeit haben, wo anders hin gehören sie gar nicht. Na, der I a-Mann sieht freilich recht unwirklich aus – sonst könnte man es auch nicht verantworten, daß du dich auf etwas einlässest, von dem du keine Ahnung hast. Aber es ist trotzdem verkehrt, denn in einem Punkt ist er natürlich wirklich genug. Du wirst sehen, seine Frau bekommt zwölf Kinder.«

»Aber ich will ihn ja gar nicht.« Else weist es mit einem erhöhten Entsetzen zurück, das Mathilde zum Lachen bringt.

»Du wirst ihn schon nehmen, wenn du dir nicht rasch einen andern aussuchen kannst – das ist der Welt Lauf. Aber du verstehst ja nichts davon. Tante Elsbeth war entzückend und voller Lebenslust und wirklich genug. Aber so, wie sie dich erzogen hat, gehörst du in die Sonne und in den Mond. Ja, ich weiß ja wohl, daß du den Talmud gelesen hast und ins Armenhaus gegangen bist. Du bist richtig höher und tiefer gewesen als wir; aber das Leben ist ein Mittelding – ja ein Mittelding – und davon hast du keine Ahnung. Auch Paul sagt: ›Sie ist ganz ohne alle Begriffe.‹«

»Woher weiß er das?« fragt sie atemlos, schnell.

»Er merkte es sogleich. Aber er fügte allerdings hinzu: ›Deshalb kann man etwas von ihr lernen.‹ Und von allen Wickelkindern bist du auch das süßeste, das ich kenne.«

Mathilde legt ihr den Arm um den Hals. »Kleine Schwägerin,« sagt sie.

Else fährt zurück – feuerrot, entsetzt.

»Aber liebstes Kind, was hast du denn? Herr Julius hat doch einen Bruder, wußtest du das nicht?«

Ach freilich, Fritz ist in Mathilde verliebt, wie er es in alle andern auch gewesen ist. Er ist auch zu verschwenderisch mit seinen Gefühlen gewesen, um irgend jemand noch mehr geben zu können; aber Mathilde ist so energisch in ihn verliebt, daß vielleicht doch etwas daraus werden wird.

»Ich habe meine liebe Not mit Vater,« sagt Mathilde. »Mutter ist elastisch, sie geht auf alles ein, aber Vater ist bockbeinig, geistig gesprochen. Er ist förmlich in Altmodischkeit festgefahren und will alle Menschen moralisch haben – das ist übrigens gar nicht altmodisch, denn in den alten Tagen war man ja so unmoralisch, daß wir die reinen Waisenkinder daneben sind. Vater ist aus seinem eigenen Jahrhundert, da ist alles gradlinig, und das sollen alle andern auch sein. Jetzt meint er, er könne mich kurieren, wenn er mir allerlei Geschichten von Fritz auftischt.«

»Die vielleicht nicht einmal wahr sind,« wirft Else teilnehmend ein.

»Natürlich sind sie wahr – aber das hilft ihm nichts, denn ich weiß ja noch viel mehr von ihm, ich kenne ihn selbst in- und auswendig, und wenn ich ihn trotzdem haben will – vielleicht weil ich die einzige bin, die ihn ein wenig im Zaum halten kann – dann kann Vater es nicht verhindern! Aber es ist ärgerlich, wenn man warten soll, bis man mündig ist, oder Skandal machen muß.«

»Hat er eigentlich um dich angehalten?« Dies ist für Else der entscheidende Punkt, vor dem sie sich fast bis zum Krankwerden fürchtet.

»Ja … nein … Das heißt, Fritz würde sogleich sagen, daß er es getan habe, wenn ich es behauptete – aber ich will es doch noch von seiner Seite ein wenig richtiger haben. Deshalb bin ich hauptsächlich gekommen. Vater ist glücklicherweise mit seinem Jugendfreund in den Harz gereist. Jetzt sitzt er auf dem Blocksberg und ich hier, und dann kann er mir in seinem nächsten Brief gern verbieten, hierher zu reisen. Vorläufig kann ich Fritz sehen, wenn es auch nachher noch so schlimm wird.«

»Ja, wir werden oft nach Skovholm eingeladen, und sie kommen auch hierher.« Else ist doch ein wenig erstaunt über Mathildens Reden.

»O, ich kann es auch anders einrichten. Jetzt sind ja die hellen Abende und Jasminduft und blühende Rosen überall … Da wird Fritz die Zeit gewiß nicht ohne einige Stelldichein vergehen lassen. In diesem Jahr kann er sie nun mit mir halten.«

»Mit dir!« Für Else gehören heimliche Zusammenkünfte unter die Rubrik »sündhafte Liebe«.

»Meinst du, er solle sie lieber mit andern halten?« fragt Mathilde etwas scharf. »Was sagst du? Am liebsten gar nicht? Ja, er wird es wohl bleiben lassen, weil du es gerne möchtest. Das ist eine einfache Art, sich die andern so vorzustellen, wie man sie gerne haben möchte, und dann die Augen vor der Wirklichkeit zu schließen. Mit dieser dummen Anständigkeit kommt man nicht weit.«

Als Fritz Mathilde bei so vielen Gelegenheiten, die ihn in Spannung versetzen, sieht – bei Ausritten, Radtouren, Mondscheinspaziergängen usw. – erreicht seine Verliebtheit einen solchen Höhepunkt, daß er gleich bereit ist, sich fürs ganze Leben zu binden. Mathilde entfaltet die volle Pracht ihres Äußeren und ihrer hellen Sommertoiletten, während Else in ihrem schwarzen Trauerkleid sich selbst wie der Schatten vorkommt, der der Sonne nachschleicht.

Julius ist in diesen Sommerferien glücklicherweise nicht daheim, sonst wäre sie ihm rettungslos verfallen gewesen, da die beiden andern mehr darauf aus sind, allein mit einander zu sein. Er hält mit einem andern Pfarrer religiöse Versammlungen in Jütland. Dort ist ein besserer Boden für seine Worte als in der Heimat. Auf seine Nächsten kann man ja beinahe nie einwirken, und ausgenommen bei Fräulein Mörk, die ihm pflichtschuldigst zuhört, findet er nicht viele willige Ohren auf Skovholm.

Mathilde hat mit Fritz sehr viel zu besprechen, was sie ihm nicht sagen kann, während andere zuhören. Er muß am Abend herauskommen und heimlich mit ihr im Garten lustwandeln. Glücklicherweise nicht im Haselnußgang; sie wählen die Seite nach dem Kirchhof, wo die kleine Laube steht, und lassen sich durch den Garten der Toten durchaus nicht beunruhigen. Und jedesmal sind sie eben wieder nicht fertig geworden, Fritz muß noch einmal kommen, und Else dem Vater abermals mit schlechtem Gewissen erklären, daß Mathilde mit ihren »eigenen Gedanken« allein spazieren gehe.

»Hat sie denn welche, mit denen sie gehen kann?« fragt Vater. »Ich glaubte, sie spreche sie alle aus.«

Unglücklicherweise macht dies ihm selbst auch Lust, mit seinen eigenen Gedanken spazieren zu gehen und die führen ihn allmählich nach der Laube, aus der Mathilde, etwas aus der Fassung gebracht, herauskommt, während Fritz mit seinem gewinnendsten Lächeln hervortritt und Vater erklärt, er habe, als er hier vorbeigeritten sei, ins Gartenzimmer hineinsehen wollen, und gemeint, es sei klein Else, die da im Garten spazieren gehe.

»In einem hellblauen Kleid?« bemerkt Vater.

»Ja – ach nein, das Kleid sah ich erst später.«

Vater fordert ihn auf, zum Abendbrot mit hereinzukommen. »Und zur Abendandacht«, fügt Fritz selbst hinzu, um Vater zu entwaffnen. Er singt seine Verse laut und schön mit; aber Vater ist nicht entwaffnet, und als Fritz gegangen ist, sagt er so ruhig wie immer: »Liebe Mathilde, ich bin etwas bedenklich geworden, dich zu bitten, deinen Aufenthalt hier zu verlängern.«

Sie stellt sich gerade vor ihn hin und ist so schön mit ihren glühenden Wangen zu dem hellblauen Kleid, daß es selbst Vater ausfällt.

»Hast du etwas dagegen, Onkel Jakob, daß man versucht, einen Menschen zu bessern?«

»So, das also ist dein Bestreben?« Vater spricht in dem langsamen Ton, der so aufregend wirkt. »Nein, an und für sich habe ich nichts dagegen, ich bin nur nicht sicher, ob deine Art die richtige ist.«

»Meine Art – ich will ihn heiraten.«

»Ja natürlich, die meisten Mädchen träumen davon, einen Don Juan oder am liebsten einen Nero zu heiraten, und zwar aus demselben edlen Grund. Man hat bloß nie gesehen, daß dieser schöne Vorsatz im Ehestand zur Ausführung kam. Ich habe im Gegenteil öfters eine entgegengesetzte Wirkung wahrgenommen; der Teil, dem aufgeholfen werden sollte, ist nicht gebessert worden, wohl aber der andere heruntergezogen, und zwar in ganz bedeutendem Grad.«

»O, ich kann diesen Edelmut auch gerne fahren lassen, denn man soll sich nicht besser machen, als man ist, und ich denke nicht so sehr an ihn, als an mich selbst. Ich will mein Glück haben, Onkel Jakob, ich will mein Leben leben – das habt ihr andern auch gewollt – und ich will es nehmen, wo es sich mir bietet.«

»Ja, wo sonst. Aber bist du auch ganz gewiß, daß du selbst sehen kannst, wo es sich bietet?«

»Jedenfalls könnt ihr andern es nicht für mich sehen.«

»Ach nein, ein Blinder kann keinen Blinden leiten, das will ich zugeben. Oft haben Eltern für ihre Kinder falsch gesehen. Aber es gibt eine höhere Entscheidung, die man suchen kann.«

»Ganz gewiß, Onkel Jakob, und eins ist mir sonnenklar: es war kein Zufall, daß ich Fritz so lieben gelernt habe.«

»Nein – vielleicht nicht – aber auf Fritz' Gefühl kann man dieses Wort gewiß anwenden, ohne fürchten zu müssen, inkorrekt zu sein.«

»Wohl möglich!« Mathildens Wangen werden noch röter, und sie wird noch schöner. »Denn seine Natur ist nun einmal so. Er kann vielleicht gar nie eine andere Art von Gefühl bekommen – wenn ich aber aus Zufall etwas Gutes für uns beide zu stande bringe – dann habe ich doch das Recht auf meiner Seite – nicht wahr?«

Vater legt ihr die Hände auf die Schultern: »Du hast doch einen guten Kern,« sagt er. »Wenn du ihn nur nicht verschwendest, mein Kind.«

Mathilde küßt ihn plötzlich, was ihn ein wenig überwältigt, und sie sagt: »Du hast mehr Verstand als Vater daheim. Aber ich werde abreisen – um dich und das Pfarrhaus nicht in schlechten Ruf zu bringen. Jetzt ist auch alles klipp und klar zwischen Fritz und mir.«

Mathilde reist ab – und mit ihr geht ein gut Teil Jugend, in der sich Else gesonnt hatte. Die Rosenblätter fallen, und die Störche fliegen von ihrem Nest auf dem Dache des Pfarrhauses fort. Der Sommer breitet die Schwingen aus, wie um mit ihnen fortzufliegen. Die Zeit – ja, sie wird schon ihren Gang gehen. –


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