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Den Haselnußgang hinab in fliegender Eile, Diana an den Fersen, und Mutters fröhliches Lachen hinter sich – –
Ein atemloses Anhalten auf dem Hügel – aber Diana ist in zu großer Eile, sie rennt Hals über Kopf auf die Wiese hinunter. Da steht sie, ein kurzes ungeduldiges Bellen dringt zu einem herauf: Kommst du denn nicht? soll es heißen.
»Else, Else – jetzt sitzt Vater wieder bei ›Sören‹ – wir können die Stunde im Haselnußgang halten.«
Ein Fach muß noch gelernt werden. Es gehört nicht zu dem trockenen Unterricht, auch nicht zu dem Pensum der frommen alten italienischen Priester. Und man rechnet es zu dem Vergnügen, wenn es auch etwas Anstrengung kostet.
»Eins, zwei, drei! Fuchtle nicht mit den Armen in der Luft! Nimm dein Kleid hübsch auf, dann sind sie versorgt. Den Kopf gerade!«
Mutter chassiert mit den klirrenden Schnallenschuhen den Weg herauf.
»Jetzt du – das war recht. Heute probieren wir eine Polka.«
Mutter singt dazu. »Wir können uns bald vor Vater sehen lassen. Er soll nur einmal versuchen, zu leugnen, daß David vor der Bundeslade hergetanzt sei, oder daß in dem Hause des verlorenen Sohnes ein Reigen gespielt wurde.«
Ein Walzer ist nicht so leicht. Man ist schwerfällig, aber schließlich geht einem doch ein Licht auf, und dann tanzt man ihn mit seinem kleinen Fuß, der ebenso hoch gewölbt ist wie Mutters, beinahe am hübschesten.
»Vater muß uns einmal dazu spielen, das wird ihn ärgern.«
Eines Tages werden die Möbel im Wohnzimmer zusammengerückt und die Tür zum Studierzimmer aufgemacht.
»Willst du nicht sehen, welche Schandtaten in deinem rechtschaffenen Pfarrhause vor sich gehen?« sagt Mutter.
Sie singt: »An der schönen blauen Donau«, und schwebt im Walzer mit ihrem Elsenkind durchs Zimmer.
»Das nächstemal spielst du dazu, Jakob, nicht wahr?«
Vater bleibt ganz ruhig und muß weder an David noch an den verlorenen Sohn erinnert werden. Er sagt nur, wenn sich das Kind auch ferner an dem Kavalier genügen lassen wolle, habe er nichts gegen diese Schandtaten, wenn er sie auch für überflüssig halte, da Else ja nicht auf Bälle komme.
» Begnügen! sagtest du, begnügen!« Mutter lacht zu Vater hinüber.
Sonst betreibt man stillere Vergnügen.
Auf der Höhe sitzt man und schaut in die weite Welt hinein. Bisweilen liest man – aber Bücher haben eben doch immer etwas Steifes und Unbewegliches, das auf all das Schöne, was darin stehen mag, einwirkt. Schon daß es in einer ganz bestimmten Weise dasteht, die jedesmal ganz dieselbe ist, und daß die Bücher ihren bestimmten Platz im Spind haben, nimmt ihnen etwas von dem Geheimnisvollen und Träumerischen, etwas von dem, was die Gedanken in Schwingung versetzt.
Lange will man immer nur Mutter erzählen hören.
Im Sommer auf dem Hügel, im Winter in der Dämmerung des behaglichen Wohnzimmers, und meistens am Sonnabend, wo man Vaters wegen mäuschenstill sein soll.
Mutter erzählt einem so ziemlich den ganzen Bücherschrank durch, das heißt, ihren eigenen, nicht den von Vater, der außer den vielen Bücherständern auch noch einen eigenen hat. »Gott behüte uns davor!« sagt Mutter selbst. Sie schreckt zwar nicht vor Goethes Faust oder Dantes Göttlicher Komödie zurück, und alle Bücher, die Mutter erzählt, sind dann keine Bücher mehr, sie werden zu lauter Märchen. Märchen aber stehen nicht an einem bestimmten Ort – sie sind lebendig. Woher kommen sie? Man weiß es nicht. Von hohen glänzenden Berggipfeln herab, aus jenen Wäldern heraus, jenen tiefen rauschenden Wäldern, die der Urwald heißen, ziehen sie mit leichten Tanzschritten über die weite Welt hin; sie können nicht festgehalten noch eingebunden werden – und sind in keines Menschen Gedanken und in keinem Schrank daheim. So oft man sie hervorholt – jung, warm, biegsam – richten sie sich nach der Stimmung des einzelnen, kommen immer mit ganz neuen Worten, die einem in dem Augenblick am meisten zusagen.
Richtige Märchen erzählt Mutter auch, die herrlichen dänischen und die französischen aus ihrem eigenen Kinderbuch, das schon alt war, als sie es bekam, und das nun so ehrwürdig ist, daß es aussieht, als sei Kaffee darüber gegossen worden. »Der blaue Vogel«, »die Schöne und das Tier«, »die Eselshaut«, »die Prinzessin, die spann«, alle tragen sich auf dem Hügel, im Haselnußgang und auf der Wiese zu.
Nachher spielt Huldfriede alle Prinzessinnen – mit ihren unbeweglichen blauen Augen – aber in Huldfriede hinein hat man sein eigenes, kleines menschliches Herz gesteckt, und dieses erlebt nun alle die Widerwärtigkeiten und das wunderbare Glück aller der Schönen. Man hat auch Spielkameradinnen, denn Vater sagt, man werde verschroben, wenn man immer allein sei; aber man macht sich nicht viel aus ihnen.
Eine von ihnen ist Pächters Hansine, die auf dem Hofe wohnt. Sie hat auch eine Puppe mit einem schwarzhaarigen Porzellankopf und steifen Gliedern aus Leder; diese bringt sie mit, und es soll Vater, Mutter und Kinder gespielt werden; das ist ihr einziger beständiger Vorschlag. Else soll der Vater sein, trotz der Unbeholfenheit, mit der man sich dabei benimmt – Hansine die Mutter, und die beiden Puppen die Mädchen, mit denen sich zwei Dinge immer wiederholen. Erstens muß man ihnen die Nase putzen, und zweitens sollen sie Schläge bekommen.
Aber Huldfriede hat keine so niedrigen Bedürfnisse und ist auch an keine so empörende Behandlung gewöhnt; deshalb wird sie Hansine entrissen, und es endigt mit einem heftigen Wortstreit zwischen Vater und Mutter.
In den Sommerferien kommen Henny und Mathilde, und wenn Tante Lulle und der Onkel Rektor auch mitkommen, dann kann man im ganzen Hause sein eigenes Wort nicht mehr verstehen, und Vater späht verschiedenemal am Tage nach einem kleinen Mauseloch, worin er sich verstecken könnte.
Onkels Schuld ist es nicht, aber Henny und Mathilde sind wie die Tante und die Tante wie Mutter. Das heißt, sie ist doch ganz anders. Wo Mutter ist, da ist Leben, aber wo Tante hinkommt, ist Lärm. Sie plaudert, lacht und spielt in einem fort Klavier. Aber sie hat ja auch nicht Vater zum Mann bekommen, sondern den Onkel Rektor, deshalb ist sie vielleicht »durchgegangen«.
Paul ist beinahe nie dabei, obgleich ihn Mutter immer ausdrücklich einladet. »Aber gottlob! lebt seine alte saure Großmutter noch, und sie will ihn in allen Ferien bei sich haben,« sagte Tante. Paul ist der Sohn des Onkels aus der Zeit, wo er noch nicht mit Tante Lulle verheiratet war, sondern eine andere Frau hatte, die seine erste gewesen ist.
Sie sei sehr schön und unliebenswürdig gewesen, das ist alles, was Tante von ihr weiß. Und Paul schlage ihr nach, denn er sei unliebenswürdig, aber nicht schön. »Begabt ist er allerdings, das muß man ihm lassen, und er weiß es auch,« sagte Tante. »Aber er hört ja nie etwas anderes von der ganzen gottlosen Familie, die die Begabung über alles andere stellt.«
Paul ist auch ganze zwölf Jahre älter als man selbst ist; es wäre also nicht einmal erfreulich, wenn er mitkäme.
Henny und Mathilde spielen sehr gern Krocket, Salz und Brot, Federball, und fahren für ihr Leben gern auf Heuwagen. Wenn die Jungen des Jägermeisters und die vier Kinder des Bezirksarztes dabei sind, dann geht es lustig zu.
Das heißt, Jägermeisters Julius kriecht nur zwischen Vaters Bücherständer hinein. Er ist nicht gern mit Mädchen zusammen, weil sie nichts ordentlich könnten, und beim Spielen langweilt er sich. Fritz sagt, man soll den »Seminaristen« nur trutzen lassen, er sehe ja doch schon wie ein langer, spindeldürrer Dorfschulmeister aus, und es sei kein Hochgenuß, wenn er dabei sei. Aber Fritz spielt selbst für zwei und bringt alle aus Rand und Band. Selbst die kleinen, artig geflochtenen Zöpfe der kleinen Else gehen auf, und ihre Wangen werden purpurrot. Und welche von den Mädchen Fritz fängt, die will er immer küssen – das ist einem gräßlich.
»Er kann es eben nicht lassen,« sagt Mutter und schüttelt bedenklich den Kopf.
Fritz verfällt noch auf vieles andere, als er mit Julius auf die Lateinschule in die Stadt kommt. Wenn er sich mit seinen Kameraden amüsieren will, dann schreibt er um Geld zu Büchern nach Hause. Wenn es herauskommt, wird der Jägermeister wütend, und man hat für Fritz furchtbar Angst auf die Ferien, denn der Jägermeister kann ordentlich wettern. Aber wenn dann Fritz ankommt und sagt: »Ich glaube auch, daß ich der größte Esel im Königreich Dänemark mitsamt Schleswig-Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Lauenburg bin,« dann widerspricht ihm der Jägermeister sogleich mit den Worten: »Na, na, so schlimm ist es denn doch noch nicht.«
In dem Sommer, wo Fritz als Student heimkommt – mit einem mageren Examen, bei dem es, wie er selbst sagt, am Durchfallen herumgegangen sei, wovor er sich nur dadurch gerettet habe, daß er den Professoren so viel vorgeflunkert, bis sie selbst nicht mehr aus noch ein gewußt hätten – sind alle geradezu vernarrt in ihn. Aber da ist er selbst in Mutter verliebt. Er sagt, nur die reife Frau verstehe die Gefühle eines Mannes, und sie sei unwiderstehlich, wenn sie mit den koketten Klirrschnallen an den Schuhen herumschwebe. Mutter lacht darüber und sagt, wenn Fritzens Verliebtheit sich nur nicht auf andere werfe; wenn er Hansine in die Wangen kneife, so sei das schlimmer.
Julius ist schon ein Jahr früher Student geworden, und ist so »langweilig« gewesen, I a zu machen. Aber da er Theologie studieren will, paßt es ja schon für ihn. Fritz soll jetzt auf die landwirtschaftliche Schule und dann Gutsbesitzer werden wie sein Vater.
Im Herbst kommen Fritz und Julius zur Haselnußernte ins Pfarrhaus, und da geht die wilde Jagd durch den Haselnußgang. Das Herz krampft sich einem ein wenig zusammen, denn die eigenen heimeligen Plätze werden durchsucht und zertreten. Die schlanken Stämmchen werden niedergebogen, und bisweilen bricht ein Zweig mit lautem Krachen ab, trotz Vaters strengen Ermahnungen zur Vorsicht.
Da ist Julius auch immer der eifrigste dabei; er füllt sich die Taschen und knackt vom ersten Augenblick an los, sodaß man sich wirklich wundern muß, wie viele Nüsse doch in einem so dünnen Körper Platz haben.
Der Winter ist da. Bisweilen ist er weiß und lustig, daß man Schlittenfahren kann und Schlittschuhlaufen und im Hof mit Hansine Schneeballen werfen, manchmal ist es auch trüb und unfreundlich, und dann muß man in Galoschen im Schmutz herumwaten.
Aber die Abende sind immer sehr gemütlich. Mit dicken wollenen Gardinen schließt man die große schwarze kalte Nacht hinaus, zündet die freundliche Lampe an und hört den Sturm ums Haus herumfegen, gerade als ob er nach einem Spalt suchte, durch den er hereinschlüpfen könnte. Und sein gedämpftes enttäuschtes Heulen vermischt sich mit dem Zischen der Äpfel in der Bratkachel, wo sie langsam schmoren und dazwischen mit einem Knall zerplatzen.
Man bekommt seine Puppenstube und darf im Eßzimmer auf seinem eigenen kleinen Herd kochen. Mutter will alles versuchen, so schlecht es auch geraten sein mag. Sie lacht und sagt, es sei nur gut, daß man auf dieser Wett auch noch etwas anderes werden könne als eine Köchin.
Vater liest vor – Geschichten aus der Mission. Manchmal ist es ganz unterhaltend, von den fernen, fernen Ländern zu hören, zum Beispiel von Indien, wo man einen Sonnenstich bekommt, wenn man im Freien nur einmal den Hut abnimmt, wo jedes Jahr zwanzigtausend Menschen an dem Biß der Kobraschlange sterben und wo der Tiger in den Dschungeln lauert, oder von Afrika, wo der Löwe brüllt und wo die mohammedanischen Sklavenhändler ihre geplagte Beute in langen unheimlichen Zügen vor sich hertreiben, oder von den Inseln des Stillen Ozeans, wo die Menschenfresser wohnen. –
Alle diese Orte, vor denen es einem graust, haben die Missionare aufgesucht, weil sie den einen Namen mehr lieben als ihr eigenes Leben und ihn den armen nackten Heiden bringen wollen …
Vater nimmt wohl auch seine Geige zur Hand – zwar fast ein wenig widerwillig, Mutter muß erst eine Weile am Klavier sitzen und ihn locken. Aber wenn er dann einmal zu spielen angefangen hat, kann er gar nicht mehr aufhören.
Man hört zu …. Wieder tauchen ferne, ferne Länder vor einem auf. Nicht Indien, nicht Afrika, nur ferne Länder – die weite Welt. –
Wenn der Winter am allerdunkelsten ist, dann wird er plötzlich strahlend hell – Weihnachten ist da!
Zuerst kommen die Vorbereitungen. Es wird gekocht und gebacken, und man denkt mehr an andere Menschen als je zuvor, Mutter gönnt sich weder zum Essen noch zum Schlafen Ruh und Rast. Dann beginnt die Festzeit.
Glockengeläute – das wie ein Freudenschall über den glitzernden Schnee hintönt. Hell erleuchtete Kirchenfenster, ein riesengroßer Baum drinnen, Tannenzweige überall, und im Talar Vater, der von den Tagen, jenen wunderbaren Tagen, wo Kaiser Augustus in Rom herrschte, liest: es begab sich – –
All die fröhlichen heimlichen Vorbereitungen werden im Glanz des märchenhaften Baumes enthüllt, den Mutter immer auf ihre Weise schmückt, nur mit Blumen, die sie selbst verfertigt hat, mit feinen glänzenden Blumen, damit man gleich sehen könne, daß der Baum im Pfarrhaus von der schönen Küste komme, wo das Paradies einst lag – –
Und der warme Tannenduft, besonders von dem Zweig, der immer schon mitten im ersten Weihnachtslied Feuer fängt, wodurch Vater jedes Jahr zu der Erklärung veranlaßt wird, er hätte eben die Lichter selbst auf den Zweigen anbringen müssen, denn es gebe Dinge, die die Frauen absolut nicht verstünden.
Jedesmal meint man, das kleine Geschenk, das man für Mutter gearbeitet hat, sei recht ärmlich und dumm gewählt, und erst im Lichte des Weihnachtsbaumes entdeckt man immer eine Menge andere Sachen, die man hätte wählen können. Aber Mutter sieht wohl, wie gewissenhaft die kleinen langsamen Fingerchen gewesen sind, und zieht gerade das rührende kleine Ding allem andern vor.
Mutters Talent, herauszufinden, was sich jedes im stillen gewünscht hat, und es dann herbeizuschaffen, ist ganz erstaunlich. Selbst Vater sagt jeden Augenblick: »Aber liebe Elsbeth!« Und Mutter lacht …
Die Tage werden länger, und der Winter strenger – aber allmählich muß er sich ergeben, überall sprießt es aus dem schwarzen Erdreich hervor, und die Frühlingsfreude zieht heran.
An Ostern ist es oft recht schwer, draußen etwas zu finden, womit man die Kirche schmücken könnte. Aber dann hat man Mutters weiße Hyazinthen und Osterlilien, und an Pfingsten macht man die Kirche zu einer wahren Laubhütte.
Jede Jahreszeit hat ihre Freude, und jeder Tag die seinige. »Und das ist gut,« sagt Mutter, »denn in der Kindheit soll man so viel Freude als möglich haben. Von dieser zehrt man dann in den Jahren, die nachkommen.«