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Das Laub fällt – die Blätter, die nichts anderes zu tun haben, fallen – fallen – wirbeln ein paarmal herum und rollen sich sterbend auf dem Weg zusammen – Herbst – Winter! Der Kirchhof schreitet heran – er dehnt sich über die ganze Welt aus.
Hat es wirklich einmal eine Hochzeitswelt gegeben? Eine Wiese voll Sonnenschein, wo die Blumen lachten und mit den Vögeln um die Wette sangen, und wo man Herzensfreuden pflücken konnte – einen Hügel mit einer weißen träumerischen Welt ringsumher, die herbeikam und sich fangen ließ – einen Haselnußgang mit einer flaumweichen, durchsichtigen Dämmerung, wo einem frohe bebende Ahnungen die Wange fächelten, einem ins Ohr flüsterten und ihre ganze Erfüllung gleich in sich trugen?
Vielleicht, vielleicht –
Aber jetzt ist die Hochzeitswelt begraben, begraben unter verwelktem Laub, unter weißem, weißem Schnee.
Und diesesmal ersteht sie nicht wieder. Das ist der Unterschied zwischen früher und jetzt. Der Tod ist ja schon einmal dagewesen und hat ein Leben mitgenommen – das Leben, das war – und der Kirchhof ist durch dies eine Grab so groß geworden, daß man um sich nichts anderes mehr zu sehen vermochte als dieses eine Grab. Aber jetzt hat der Tod das Leben genommen, das kommt – und der Kirchhof hat sich bis ans Ende der Welt ausgebreitet. Nichts anderes wird mehr kommen als tote Tage, die eingesargt sind, ehe sie erstehen, die ganze Zukunft selbst ist tot und begraben.
Nichts glänzt da draußen – ausgenommen der weiße Schnee, der in diesem Jahr sehr frühzeitig und sehr reichlich fiel, und nichts singt, als die Glocke auf dem Kirchturm, die den Morgen und den Abend verkündigt, die zu allen Sonntagsgottesdiensten läutet und manchmal auch im Lauf der Woche, wenn es Hochzeit oder Begräbnis heißt.
Aber es ist einerlei, was es heißt, es ist immer nur dasselbe, ein Läuten, das den Tod verkündigt.
Es ist der Glockenton, den die weißen Leichenträger drunten im Süden erklingen lassen, der Ton, der aus der Welt hinausläutet. Wie so ein vermummter Leichenträger steht er ja selbst da, der weiße Kirchturm mit seinen kleinen schwarzen Gucklöchern oben, wo die kleine Glocke hin und her schwankt und den Tagen und den Menschen zum Tode läutet.
War also die Ideenverbindung, die einem als Kind so viel Freude machte, doch nicht ganz richtig gewesen? Die Verbindung zwischen der hellen Seite des Lebens und dem einen Namen?
Ach nein, da niemand anders sie sehen kann, existiert sie wohl auch nicht. Oder besser gesagt, sie hat existiert, aber jetzt ist es vorbei mit ihr.
Es gab einmal – weit, weit weg von hier und vor langen, langen Zeiten – eine strahlende Hochzeitswelt, wo es um Mitternacht bei den Hirten auf dem Felde so hell war wie am Tage – wo es Vögel unter dem Himmel und Lilien auf dem Felde gab – wo es Blinde gab, die verwundert die Augen aufmachten, und Stumme, die sangen, und Lahme, die aufstanden und gingen, und Hochzeit, die nie ein Ende nahm, und Begräbnis, das in Leben und Freude verwandelt wurde. Damals wurden die, die sich um den einen Namen scharten, Hochzeitsleute genannt; und »können die Hochzeitsleute sorgen?« hieß es. Aber es wurde hinzugefügt: »Die Zeit wird kommen, wo der Bräutigam von ihnen genommen wird, dann werden sie Leid tragen.«
Und diese Zeit, sie ist jetzt.
Die Verbindung mit der Kirchhofseite ist die einzige, die einem noch geblieben ist. Der Name, der die Pforten des Todes sprengte, wird jetzt gebraucht, um allen lebendigen Hoffnungen des Herzens zu Grabe zu läuten.
Ach, jeder neue Tag hat etwas Unnatürliches und Anspruchsvolles! Denn jeder verlangt, daß man aufstehen und sich etwas vornehmen und mit einer Menge Sachen zu tun haben soll, die einem ganz gleichgültig scheinen, oder sich zwischen Menschen bewegen, mit denen man nur ganz mechanisch spricht.
Da ist der Tag, der zur Ruhe geht, doch freundlicher und teilnehmender; er erlaubt einem, selbst zur Ruhe zu gehen. Den ganzen Tag hindurch sehnt sich Else nach dem Augenblick, wo sie droben in ihrem weißen Stübchen sitzt und mit aufgelöstem Haar hinauslauscht – nach den einzelnen Tönen, die verstummen, einer nach dem andern, nach der Stille da draußen, nach dem leisen geisterhaften Sausen des Nachtwinds zwischen den entlaubten Bäumen des Gartens.
Aber mit dem Nachtwind kehrt die alte Vorstellung von dem ewigen Juden wieder, der in tiefer Nacht unter den großen kalten Sternen dahinschreitet. Und jetzt ist es ihr, als ob jeder seiner einzelnen Schritte über ihr Herz ginge. Sie weiß – sie weiß, wer er ist, der ewige Jude, der ruhelos und heimatlos draußen wandert …
Antwortet Jungfrau Else:
Ich mach nicht auf die Tür,
Eh du kannst …
Der Widerhall der einsamen Schritte nimmt ihr die Ruhe – die Ruhe, nach der sie sich den ganzen Tag hindurch gesehnt hat.
Vater kommt im Lauf des Tages oft zu Else herein, und abends will er sie immer bei sich im Zimmer haben. Er lehrt sie Schach spielen und liest die deutschen Klassiker mit ihr. Bisweilen schlägt er ihr auch vor, ein Duo mit ihm zu spielen. Aber sie weiß, daß es ihm schwer wird, mit der Geige in der Hand dazustehen und eine andere als Mutter am Klavier sitzen zu sehen, deshalb geht sie nur selten darauf ein.
Wenn Vater spazieren geht oder Krankenbesuche macht, nimmt er sie meist mit. In jeder Woche einmal gehen sie mit einander ins Armenhaus.
Das ist lauter Fürsorge für seine Tochter. Vater will zweierlei damit bezwecken. Erstens soll sie nicht so viel allein sein, und zweitens will er vorbeugen, daß Julius in seinen nächsten Ferien so viel Gelegenheit habe, mit ihr allein zu sein.
Else begreift dies wohl; sie ist ihm auch dankbar für all die Mühe, die er sich ihretwegen macht; aber schon, daß sie seine Gedanken durchschaut, nimmt etwas von der Hilfe weg. Es fehlt ihr das Unerwartete, die Erfindungskraft der Liebe, die wie eine Überraschung plötzlich ans Herz greift, und darnach dürstet sie so sehr.
Aber Vater weiß das nicht; sie gleicht ihm so sehr in seinem verschlossenen Wesen, daß er unwillkürlich denkt, die Ähnlichkeit zwischen ihnen sei noch tiefer, und es gehe ihr gerade wie ihm. Aber sie hat die heiße wallende Sehnsucht und das lebendige Verlangen der Mutter in sich, trotzdem sie nur so ruhige Ausdrücke dafür findet, daß er es sich anders kaum vorstellen kann. Mutter hatte es verstanden und manchmal gesagt: »Das Elsenkind gleicht uns beiden in recht komischer Mischung, sie ist wie eine kleine Mutter in einem kleinen Vater drin.«
Als Julius nach Skovholm über die Weihnachtsferien heimkommt, will Vater durchaus sogleich über einige neue deutsche apologetische Schriften mit ihm sprechen, und das Resultat dieser Unterredung ist, daß Julius gegen Else ganz wie früher ist, ausgenommen in einem, das jetzt nicht mehr da ist, weder offen noch versteckt.
Vater hat nichts verraten, dessen ist Else ganz sicher, er hat wahrscheinlich Julius nur den Rat gegeben, »diese Gedanken vorläufig ruhen zu lassen«. Ob Julius sie ganz aufgegeben hat oder nur warten will, kann Else nicht ausfindig machen. Aber sie ertappt sich auf einem sehr häufig wiederkehrenden Ärger über ihn, und so unfaßlich es ihr selbst ist; sie weiß, sie ärgert sich, weil sich das nie mehr zeigt, weil er sich niemals auch nur eine Sekunde lang ihr gegenüber vergißt, weil er jetzt ihre Hand immer ebenso unbewegt wieder losläßt, wie er sie erfaßt hat. Ist es denn so leicht, mit ihr fertig zu werden? Ist eine Neigung für sie etwas so Mattes und Schlaffes, daß sie einem Menschen nie den Atem benehmen und ihn nie ganz hinreißen kann?
Mit steigender Verwunderung fühlt sie eine wahrhaft boshafte Lust in sich aufsteigen, etwas aus Julius herauszulocken, was er so sorgfältig drunten zu halten sich bemüht. Und daß sie eine solche Lust verspürt, das ärgert sie noch am allermeisten. Sie ist aber auch gar nicht mehr die Else von früher. Wenn einem immerfort das Herz weh tut, regt sich so vieles in einem, was nicht vom Guten ist.
Vater wünscht, sie solle sich mehr unter die andern jungen Leute mischen. Sie soll an Weihnachten zu Oberförsters, nach Egevang und zu einer Gesellschaft nach Skovholm, wo getanzt wird. Sie könne ja jetzt gut in Weiß gehen, sagt er, aber dazu kann sie sich nicht entschließen. So oft sie die weiße Taille mit all den Hochzeitsblumen, die Mutters Hände gestickt haben, betrachtet, bricht sie in einen unaufhaltsamen Tränenstrom aus. Ach, die Hände und die Blumen – – begraben, begraben!
Onkel Rektors haben sie in diesem Winter wiederholt eingeladen; doch da redet Vater ihr nicht zu, obgleich sie selbst brennend gern Ja sagen würde. Aber sie weiß, daß sie Paul weder verhindern darf, nach Hause zu kommen, noch ihn der Möglichkeit eines Zusammentreffens mit ihr aussetzen, und deshalb schreibt sie: »Nein, ich danke.«
Mathilde wendet all ihre Überredungskunst an, sie zum Kommen zu bewegen, hauptsächlich weil Else ein Bindeglied zwischen ihr und Skovholm ist. Übrigens unterhält Mathilde eine sehr eifrige direkte Verbindung mit Fritz und ist überaus frohgemut in Beziehung auf die Zukunft.
»Mutter gebraucht dieselbe Taktik,« schreibt sie, »wie jener alte gescheite Kerl irgendwo in der Weltgeschichte, der immer wiederholte: Ich meine eben, Karthago müsse zerstört werden. Sie sagt unaufhörlich: ›Was kann es nützen, Laurids? Besonders in unsern Tagen?‹ sodaß Vater jetzt nächstens einsieht, daß aller Widerstand vergeblich ist.
Mutter ist vernünftig, sie begreift, daß Fritz, wenn es so geht wie bei den Buddhisten, die jetzt so Mode sind, in seiner neunten oder zehnten Reinkarnation Asket werden kann, was aber auf diesem Erdball und in diesem Dasein gewiß nicht geschieht; deshalb wäre es wirklich verrückt, darauf zu warten, wenn man doch seine Töchter gern verheiratete, und Mutter ist wirklich so engelslieb, dies zu wünschen. Vater dagegen meint, weil er selbst längst verheiratet und versorgt ist und dies längst satt hat, es müsse allen andern – und seinen Töchtern in erster Linie – in diesem Punkt gerade so gehen. Er kann nun einmal nicht weiter sehen als seine eigene Nase, und obgleich diese lang genug ist – so daß ich meinem Schöpfer danke, der mich mit diesem Erbstück verschont hat – ist sie als Aussicht doch etwas zu kurz und zu beschränkt.
Es gehen ja aber zwei Männer auf eine ganz gewöhnliche Frau, und hier stehen zwei ungewöhnliche Frauen einem armen törichten Rektor gegenüber, deshalb ist das Resultat zum voraus sicher; Mutter und ich bereiten auch allmählich alles vor, und ich hoffe, daß ich am ›Johannistag, mit Reigen und fröhlich Gelag‹ Hochzeit habe, und nicht etwa mit Dr. Vang oder Adjunkt Müller vorlieb nehmen muß, die wahrscheinlich ihr Leben lang um meinetwillen einen Trauerflor tragen werden. Weißt du, daß sich der I a-Mann um die ledige Kaplanstelle hier gemeldet hat? Es kann ja recht nett werden, wenn er sie bekommt.«
Else ertappt sich auf dem Gedanken, Onkel Rektor habe vielleicht nicht so ganz unrecht. Warum sollen die andern Hochzeit feiern mit »Reigen und fröhlich Gelag«? Dazu ist gar kein Grund vorhanden. Aber Grund genug, in Beziehung auf Fritz bedenklich zu sein. Soll das Vorleben des Mannes nicht ein Ehehindernis für die Frau sein? Und ein viel mächtigeres, als was er glaubt oder nicht glaubt?
Else erkennt das jetzt viel deutlicher als früher. Wenn Fritz in dieser Zeit, wo seine Liebe zu Mathilde doch auf ihrem Höhepunkt sein sollte, derart ist, daß das kleine schwarzlockige Zimmermädchen auf Skovholm rasch verabschiedet werden mußte, worauf soll man da noch bauen können?
Else verstand recht gut, warum Fräulein Mörk so heftig den Kopf schüttelte, wie wenn sie ihr schwarzes Spitzenhäubchen herunterschütteln wollte, als sie sagte: »Es war für alle Teile am besten, daß Anna fortkam,« während der Jägermeister mit unartikuliertem Brummen im Zimmer auf und ab lief. Und als sie dann mit Fritz wieder zusammentraf, bot ihr dieser sogleich an, wegen dem bißchen Distraktion Anna gegenüber Rede zu stehen, denn es sei nichts anderes gewesen, als die Sehnsucht nach Mathilde, die sich habe Luft machen müssen.
Er war so lächelnd offenherzig, daß Else sich seine Vertraulichkeit verbat, denn sie war gewiß, er wäre dabei nur zu aufrichtig gewesen; es ist ihr zu schmerzlich, daß Fritz Mathilde trotzdem bekommen wird und Onkel Rektor seinen Widerstand selbstverständlich aufgeben muß.
Und wenn Mathilde Fritz nicht bekommt, so gibt es ja andere – aber das mit Herrn Müller bildet sich Mathilde natürlich nur ein, denn er hatte doch damals Else seinen Strauß gegeben und ihre deutsche Aussprache über Mathildens gestellt.
Ach, wie gleichgültig ist ihr im Grund dies alles! Alles, was sie berührt, kommt ihr hohl und leer und unwirklich vor. Das einzige, was wirklich ist, sind die einsamen Schritte draußen in der Nacht, die sie in ihrem Stübchen hören kann, und deren Widerhall ihr so schwer aufs Herz fällt. Und das einzige, was sich nicht erschöpfen läßt, ist die Liebe, die sie in sich trägt, und die leben wird, bis sie selbst tot ist.
Aber – wenn diese Liebe nun doch sterben könnte! Sie hält es für unmöglich, und doch verfolgt sie die Angst davor unaufhörlich. Wenn der Kirchhof sich nicht nur ausbreitete, wenn er schließlich von ihrem Herzen, ihrem eigenen Herzen Besitz ergriffe! Else weiß, wie sehr alle andern Gefühle in ihr abgestumpft und ertötet sind. Selbst der Kinderglaube von ihrem eigenen Gebet, ja ihre eigene Bibel versteht sie fast nicht mehr.
Sie hat Angst, alle die toten Tage, die die Glocke einläutet, könnten schließlich das Leben ihres Herzens rauben. Sie fürchtet für ihr Leben, wenn sie sich auf dem großen Kirchhof umschaut, der sich schon bis ans Ende der Welt ausgebreitet hat, und sie streckt die Hände nach Hilfe aus, ach, in einen schwindelnd leeren, unendlich öden Raum!