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Du liebes Pfarrhaus in Sprackensehl, ich grüße dich, du Stätte glückseliger Verborgenheit, weitab vom Getümmel der Welt! Deine weißumrahmten, blitzblanken Fensterchen und die immer vergnüglich qualmende Friedenspfeife deines massiven ungeheuren Schornsteins auf dem großmächtigen Sorgendache, dazu die tiefe Stille im Garten und auf dem sauberen Hofe – einen traulicheren Pfarrhof soll man in der Heide schon suchen. Sogar im trübseligen Tauwetter heute blinken die Fenster freundlich durch den Nebel. Ja und doch! Pastor Nöldeke ist unzufrieden. Pastor Adolf Nöldeke hat bereits die dritte Nacht schlecht geschlafen. Und auch Minna, seine Schwester, die schaut blaß und übernächtig darein. Und das in der heiligen Woche, zwei Tage vor Neujahr. Neujahrstag ist noch dazu Nöldekes zehnjähriges Sprackensehler Amtsjubiläum: und deswegen müßte er doch, sollte man meinen, in besonders zufriedener, in erwartungsvoller, festlicher Stimmung sein? Im Gegenteil. Leider. Seit der letzten Predigt, Sonntag Epiphanias, läßt's dem guten Pastor Tag und Nacht keine Ruhe. Ach, die große Neujahrs- und Jubiläumspredigt – wenn sie erst gemacht wäre!
Noch nie hat eine Predigt Nöldeken so schreckliche Geburtsschmerzen gekostet. Dagegen war ja sogar seine 94 Jungfernpredigt, seine allererste Kandidatenpredigt ein Spaß.
Jahrein, jahraus hat er's verschoben, aus Langmut und Güte, die Gemeinde nach einer gewissen Seite hin in öffentlicher Predigt – jawohl von der Kanzel herunter einmal extra moralisch bei den Ohren zu nehmen, und nun aber ist's soweit, es siedet, es läuft über, länger kann's wahrhaftig nicht verschoben werden! Diesmal ist die beste Gelegenheit. Ein neues Jahr, ein neues Amtsjahrzehnt, ein neues Leben, und damit reine Bahn. Würge nur mal einer zehn Jahre durch immer den gleichen Ärger still hinunter: einem überheizten Dampfkessel gleicht schließlich das Herz, und entweder auf das Sicherheitsventil, wenn eins vorhanden ist, oder Krach – Explosion, eins von beiden, einen Mittelweg gibt's da nicht.
Hanne bringt den Nachmittagskaffee auf die Studierstube. Zugleich tritt Minna mit stummem Gruße herein. Nöldeke aber hat keinen Blick weder für den köstlich duftenden Kaffee, noch für die Schwester. Wie ein Wolf in seinem Käfig läuft er in seiner Studierstube ruhelos auf und ab, und die sauber mit Sand überstreuten Dielenbretter knarren unter seinen Tritten. –
Plötzlich schreit er seine Schwester an: »Minna, ha, du weißt, wer an allem schuld ist!« 95
Minna nickt viele Male, still, nachdenklich, stellt darauf geräuschlos die Tassen zurecht, wischt und glättet verlegen am Tischtuch, und endlich schenkt sie ein, und kummervoll flüstert sie nach einer Weile: »Adolf, laß nich kalt werden.«
Eine verächtliche Handbewegung auf die dampfenden Tassen ist die Antwort, und leidenschaftlich Nöldeke darauf: »Was – was ich will, weiß ich. Was aber nützt der schönste Plan – aufs Wie kommt's an: wie's ihm stecken, dem alten Jürgen, in der Predigt! Drei Tage ring' ich nun damit! Großer Gott, wie noch fertig werden bis übermorgen! Und nun laß mich allein, du. Daß mich niemand stört, niemand wird vorgelassen, hörst du, niemand!«
Kaum hat Nöldeke die Feder ergriffen, da kommt Minna wieder hereingeschlüpft, und sie ringt die Hände: »Adolf, Schäfer Frommhagens Großmutter liegt im Sterben – sie schicken her, sollst hin und ihr das heilige Abendmahl reichen, Adolf, heute noch, der Alten.«
Der Pastor schießt empor wie eine Natter. Er steht schier wie im Krampf. Bald aber läßt er schlapp die Schultern fallen, und er antwortet, dumpf: »So gib dem Küster Bescheid, Pflicht bleibt Pflicht.« 96
* * *
Nicht lange und der Pastor macht mit dem Küster sich auf den Weg.
Die Schäferkate liegt eine gute Strecke außerhalb des Dorfes. Völlig dunkel ist's bereits. Küster Piep patscht voran mit einer großen Stallaterne; Nöldeke trippelt vorsichtiglich ihm nach.
Sprühregen. Es taut mit größter Entschiedenheit. Auf dem hohen Damm der Landstraße hat sich der Schnee bereits vollkommen in Schmutz verwandelt. Der Wind durchwühlt die Eichenkronen, er fegt heulend hin über die triefenden Dächer. Des Küsters Laterne wirft phantastische Flackerlichter ins kahle Gezweig der Birken, zu beiden Seiten der Landstraße. Dem guten Pastor wird's umheimlich ums Herz, als hinter dem letzten Gehöft, bei der Windmühle mit ihren gespenstischen Flügeln, das weite, öde Draußen nun sich auftut. Die Windmühle, worin es spukt allnächtlich! Horch – klang's nicht wie ein schauerlich Wimmern eben? Das Klageweib, sicherlich, und schrägüber am Kreuzweg, in den Wacholdern vorm verfallenen, alten Schnuckenstall, da steht es und da reckt es die knochendürren Arme auf die Schäferkate: sterben muß die Großmutter.
Ein streitbarer Gottesmann ohne Furcht und Tadel, ein Eiferer des Guten, in seinen Worten Sonntags auf der Kanzel, ist Adolf Nöldeke, der Mensch, dagegen 97 leider eine etwas furchtsame, eine fast weiblich zart besaitete Natur. Er würde sonst doch wohl den Jürgen Prielop, seinen bockbeinigen alten Kirchenvorsteher, leidlich haben in Schach halten können. Freilich, als seine teure Kamilla noch lebte, ja, da ging alles seinen strammen und aufrechten Gang in der Gemeinde. Gegen die selige Frau Pastorin hätte Jürgen sich nur mal mucksen sollen, das war eine Frau Pastorin, eine heroische Frau Pastorin! Überhaupt, ein theologischer Kandidat sollte politischerweise immer erst in den heiligen Ehestand und danach ins Amt treten! Keine Kirchenvorstandssitzung, wo die selige Frau Pastorin Kamilla Nöldeke nicht mit dabei gewesen wäre, keine Beschlußfassung, die nicht zuvor ihre Billigung gefunden hätte. Doch sie ist tot und Nöldeke ein verlassener Witmann. An Minna, seiner vielgeliebten Zwillingsschwester, ihm fast zum Verwechseln ähnlich, hat er nach außen hin leider keine Stütze. –
Die heilige Handlung in der Schäferkate ist zu Ende und Großmutter Frommhagen für die Reise in den Himmel vorbereitet. Der Pastor und der Küster helfen sich nun gegenseitig in ihre Überzieher hinein, und sie winden sich darauf ihre weißwollenen geistlichen Schals, so lang sie zureichen, um Hals und Brust. Und Nöldeke krempt sich auch noch seine schwarztuchene Pastorenmütze 98 über die Ohren. Und als alle Anstalten noch einmal gründlich nachgeprüft sind, macht man sich mit vielem Pusten und Stöhnen auf den Heimweg. Kämpft jeder still auf eigene Hand sich Bahn durch den Schneematsch.
Endlich ist das Dorf wieder erreicht. Die Landstraße führt mitten hindurch. Schwarz und tot wie Gräber ragen die Gehöfte an beiden Seiten der Straße. Da, linkerhand: der Krug. Vorhin ging's wüst darin her. Vater Jürgens lustiges Lachen war deutlich herauszuhören. Angestoßen wurde und Sauflieder erklangen.
Schon will man sich trennen, an den Ulmen, wo's linkerhand zur Pfarre und rechts zum Schulhause geht, da bleibt Küster Piep plötzlich erschrocken stehen, und er reckt horchend seinen Hals: »Herr Pastohr, hören Se nichts? – War's nich eben wie 'n Stöhnen, Grunzen?«
»Um Gottes willen, Herr Küster, ja, ich hör's auch –!«
»Halt, pst, Herr Pastohr, 's is sicher wieder mal 'n alter Keuler rein, aus 'm Busch, se kommen Winters bei Tauwetter ja öfters ins Dorf.«
Küster und Pastor stehen, die Laterne zu Füßen, und sie lauschen mit angehaltenem Atem.
Als der erste Schreck aus den Gliedern und Küster Piep ganz langsam seine Laterne ein wenig zu heben 99 wagt – horch, da ein Wälzen. Und zugleich ist's wie ein Lallen und Stammeln. Eine schwarze, regellose Masse regt sich vor ihnen, mitten in einer Pfütze. Und nach einer abermaligen Pause frisch erneuten Entsetzens flüstert mutig der Pastor: »Herr Küster, nein, kein wildes Schwein, ich seh's jetzt, ein menschliches ist's! Ein Betrunkener! Schrecklich! Das in meiner Gemeinde! Ja, da haben Sie's! Das ist's ja, mein ständiger Kummer: das Trinken nimmt hier überhand! Aber ich kenne den Verführer, kenne ihn!«
Sie treten näher. Der Küster beleuchtet den Betrunkenen und rüttelt ihn am Arme: »Stahn Sei up! Schäm'n Sei sick wat, Sei oll besapen Swien! Up, marsch, nah Hus! – Herr Pastohr, wer mag's denn woll sein? Die Mütze hat er bis über die Augen runter, er is würklich nich zu kennen. Pfui dich, die ganzen Kledaschen ein Dreck über und über! He, he, wer sünd Sei, wo hürt Sei henn?«
Der Betrunkene regt sich und lallt: »Gr . . . . . oße Walfische – Gott, der Herr, schuf große Wa . . . . walfische –.«
Der Pastor erhebt ernst und würdevoll seine Stimme: »Schweigen Sie, Gotteslästerer!«
»Um Gottes willen, Herr Pastohr, die Stimme,« spricht der Küster und blickt fragend den Pastoren an, 100 und er bückt sich danach von Ärger übermannt und versetzt dem Betrunkenen einen Puff. »Sünn' un Schann', up, segg ick, up, Herr Pastohr is hier!«
Es richtet sich halben Leibes auf, stiernackig, mit breiter Brust, schiebt die Mütze hoch, blickt aus weitaufgerissenen, glasigen Augen um sich, wie ein Frosch im Suppenteller, und lallt:
»Bringt dat Swien nah'n Swienemark henn!
Ho! Ho! Ho!«
»Schrecklich, Jürgen Prielop!« rufen Küster und Pastor zugleich.
»Jawoll – stimmt,« schnaudelt es an der Erde. »Stimmt, wu . . . . . wunnen heww ick – mine Wedde. De söß Buddel. Pahlmann mudd betahlen. Jawoll! – Teihn Johr! Kinners, un nu will ick 'n ok gewähren laten. Nu – nu weit ick Bescheid. Unse P'stohr, K . . . . . Kinners, nu is hei infäuert (eingefahren), hei treckt nu sinen Strang.«
Küster Piep gerät in große Empörung: »Schweigen Se rein still! Halten Se –! Sie, Sie –! Sünn' un Schann', Kirchenvorsteher Jürgen Prielop in Sprackensehl, ich frag', kennen Se uns denn noch ümmer nich?«
»Inschenken, 'n frischen Buddel her – man rut den 101 ollen Proppen – i . . . . . inschenken, unse P'stohr sall lewen – hei is doch 'n mächtig gauden P'stohr – hei verstaht sin Geschäft, heww ick dick dat nich glieks seggt, Pahlmann,« schwatzt der Betrunkene weiter, fuchtelt mit den Armen und gröhlt:
»Als Gott der Herr die Welt geschaffen,
Schuf er Minschen, Sweine, Affen –
Pahlmann, wat büst du?«
Der Pastor und der Küster stehen da und ringen stumm die Hände, und Nöldeke seufzt aus tiefbekümmertem Herzen: »Erst lästert er Gott allein, und jetzt auch noch mich, Gottes Diener.«
Endlich obsiegt in ihnen aber doch die christliche Barmherzigkeit und Nächstenliebe, und so fassen sie zu, sie bringen ihren eigenen betrunkenen Kirchenvorsteher mit vieler Mühe auf die Beine und schaffen ihn nach Hause.
* * *
Sie lügen, die grallen Pfarrfenster: Pastor Nöldeke ist jetzt richtig in Verzweiflung, und Minna auch, natürlich, und das am Sylvestertage!
Gerungen hat Nöldeke, die Nacht durch und weiter den ganzen Vormittag, wahrhaftig, schier wie Jakob nach dem Traum von der Himmelsleiter. Und jetzt aber ist's Zeit zum Lichtanzünden, und noch ist die 102 Predigt nicht fertig, die Predigt für morgen, die Neujahrs- – die Jubiläumspredigt! Nicht fertig, was sag' ich: kaum begonnen ist sie. Das scheußliche Erlebnis gestern hat Nöldeken vollständig das Konzept verdorben.
»Minna, was soll daraus werden? Barmherziger Gott, die Gemeinde, ach, sie geht aus den Fugen, der Antichrist reckt die Krallen nach ihr, betrunken liegen sie hier auf der Landstraße herum, Kirchenvorsteher, in meiner Gemeinde, oh!«
Minna schlägt die rotgeweinten Augen auf und blickt ihren armen Pastorbruder innig an, von schwesterlichem Mitgefühl durchweicht: »Adolf, ach, du nimmst 's auch gar zu ernst!«
»Minna, ich bin der Seelensorger hier; ich habe vor Gottes Thron Rechenschaft zu geben dermaleinst, daß der mir anvertrauten Seelen in der Gemeinde keine verderbe. Doch nun siehst du's: ich war zu gut, Minna, ich war zu mild, zu nachsichtig! Das hab' ich nun davon. Nun straft mich Gott dafür. Früher, ja, in meinen ersten Amtsjahren, als Kamilla noch lebte! Damals gab's das schreckliche Wirtshauslaufen hier noch nicht, damals ließen sie sich noch warnen, damals war mit 'ner guten Predigt bei ihnen noch was zu wollen, ja damals, damals, als Jürgen selber noch wirtschaftete, 103 als er sich noch nicht dem Müßiggang, der aller Laster Anfang ist, ergeben hatte! Trinken ist doch wirklich das Schrecklichste, nicht? Na, so antworte mir doch, hab' ich recht oder nicht, mir scheint fast, du nimmst Partei für den Jürgen?« fährt der Pastor hitzig fort. »Oh, der Jürgen! Wirklich, in all und jedes steckt er seine Nase! Und seine Freunde, seine Saufkumpane, die auch, der alte Imker Pahlmann und der alte Stünckell. Na, die beiden kriegen morgen auch ihr Fett mit. Hör', du – jawohl, wie der Apostel die Kreter verachtete – ja, ja, die ›faulen Bäuche‹: damit will ich auf sie anspielen morgen. So ungefähr, weißt du, daß man manchmal wirklich glauben könnte, man wär' Pastor bei den Kretern, statt bei den Sprackensehlern. Und das Sprichwort heranziehen: Böse Beispiele verderben gute Sitten, einen Augenblick innehalten und die drei scharf anblicken, den Jürgen, den Pahlmann, den alten Stünckell – ha, man wird mich schon verstehen!«
»Adolf, ach, ich glaub', du siehst zu schwarz, er ist sicher nicht der Schlimmste, der alte Jürgen, Adolf! Ich mein', ein schlechter Mensch kann unmöglich immer so lustig sein wie er, unmöglich, kann sicherlich nicht so herzlich lachen. Wer ihm auch begegnet, Adolf, 's mag der geringste Hütejunge sein, Adolf: ohne einen 104 Spaß zu machen, läßt er keinen vorbei. Sieh, und wie kinderlieb ist er. Alle Taschen hat er dir immer voll Äpfel und Nüsse für die Kinder. Und Adolf, er hat doch früher gewirtschaftet: musterhaft! Und wie gut ist Fritz, sein Ältester eingeschlagen. Doch nicht von selber, den hat er sich doch so erzogen. Adolf und bedenk, Adolf, Jürgen kann sich's leisten – der große Vollmaierhof.«
»Schweig, was verstehst du davon! Das ist's ja gerade: der Mammon! Schrecklich, wie der Alte mit dem Gelde um sich wirft, ein Verschwender ist er! Aber nur an sich, an andere denkt er nicht, der Pastor, der kann darben! Überhaupt immer auf mich hat er's abgesehen und nicht zur Ruhe läßt er mich kommen. Doch nun hört's auf! Betrunkene Kirchenvorsteher – er wird mit Schimpf und Schande abgesetzt! So, du und nun aber geh hinunter, Schwester: daß heute Sylvester ist, daran können wir erst denken, wenn endlich meine Predigt fertig daliegt.« –
Pastor Nöldeke schreitet in seinem Studierzimmer lange auf und ab, immer im Pendel hin und zurück vom Bücherregal am Eckfenster bis an die Kammertür, wo am Pfosten sein schwarzer Talar feierlich herabhängt. Stark arbeitet der theologische Geist in ihm. Seine sonst so sanften Augen funkeln, seine Hände fahren herum. Endlich eilt er an den Schreibtisch, er plumpst sich 105 in den Lutherstuhl, rückt hastig das Tintenfaß zurecht, sticht wild mit der Feder zu und beginnt zu schreiben.
Tiefe Stille umfängt den Schreibenden. Nicht das leiseste Geräusch ist zu hören im ganzen Hause. Als wollte der Sprackensehler Pfarrhof mit dem alten Jahre auch leise so hinsterben und vergehen.
Minna in der Wohnstube, am Fenster, auf dem »Tritt«, vor ihrem Nähtischchen, hat, allmählich etwas beruhigt, nach ihrem Häkelzeug gegriffen, als die wilden Schritte über ihr verstummten. So ein trauriger Sylvester aber auch!
Pastor Nöldeke oben, der ist jetzt im besten Zuge, immer gleichmäßig fort kritzelt seine Feder. Seine lange Pastorenpfeife auf dem Eckbört von hellpoliertem Birnbaumholz mit Zickzackkante in blau und weißer Perlenstickerei, ha, die kann heute auf ihn warten. Es ist das erstemal, daß sie nicht ihr friedlich Teil an der Predigt mitwirkte. Die grünbeschirmte Studierlampe verbreitet ein geheimnisvolles Dämmerlicht im mollig warmen Zimmer. Alles um den Schreibenden ist wie in Spannung getaucht. Die goldenen Titel der dicken, gottesgelahrten Bücher im Regal schielen voller Spannung um die Ecke nach dem Schreibtische. Auf dem Regal der ausgestopfte Birkhahn, in feurig balzender Stellung, der bringt vor Spannung sich fast um. Die 106 beiden holzgeschnitzten Löwenköpfe mit grundgütigem Ausdruck, auf der Rückenlehne des Lutherstuhles, schauen ihrem Herrn voll Spannung über die Schulter. Na, paßt auf, Sprackensehler, morgen steckt er's euch. Das einzige Lebewesen im Pfarrhause mit Sylvestergefühlen ist des Pastors Laubfrosch auf dem Fensterbrett. Den ganzen Tag über saß er regungslos und beschaulich da, und er starrte prophetisch weitgeöffneten Auges die große Quecksilberkugel des alten englischen und höchst unzuverlässigen Barometers im Fensterrahmen an. Kaum, daß die weiße Kehle noch ihr leises Pülslein tupfte. Woher nun plötzlich seine kritische Unruhe, sein Herumturnen auf der Leiter, seine Sprünge – ahnt Meister Quak vielleicht mit dem kommenden neuen Jahre Veränderungen in der Gemeinde? O weh, Prophetenschicksal, gerade will ihm tiefere Erkenntnis aufdämmern, und er fängt darob wohlgemut an zu quaken: da packt sein Glashaus eine ärgerliche Hand und setzt es in die kalte Kammer nebenan, auf den Waschtisch.
* * *
Der Pastor hat bereits die polemisch-kritische Hälfte beendet und den letzten Teil der Predigt begonnen, den zusammenfassenden und moralisch aufbauenden. 107
Plötzlich schrillt die Türschelle durchs Haus.
Stimmengewirr. Und es pocht nun bei ihm an mit Heftigkeit. Nöldeke fährt auf. Minna auf ihn zu: »Du darfst nicht, Adolf, darfst nicht abrechnen mit ihm; Gott er ist ja tot, Jürgen, tot!«
Pastor Nöldeke starrt erschrocken seine Schwester an.
Hinter Minna tritt die Witwe des Bauern ins Zimmer, und sie zieht die blauleinene Schürze von den weinenden Augen: »Tja, Herr P'stohr, Jürn is dod, ick woll Sei dat man glieks mell'n. Och 'ott nee, wo was hei gaud!« – Und nachdem sie sich wieder ausgeweint hat, fährt Mutter Prielopen fort: »Tja, Herr P'stohr, glieks nah'n Kaffe hüt' Morgen, da benaut 't öm mit einmal so. Un unse Fritz, tja, de woll irst henn un den Dokter halen, tja, oder den ollen Aff'theker Fraatz fragen, de de Krankheiten eben so gaud kennt, aewerst Jürn mein', dat söll hei man laten. Herr P'stohr, Jürn woll doch all' sine Lewenstied nicks nich weiten van de Dokters. Tja, Herr P'stohr, süh un da up einmal, da is hei ganz swart, un bautz liggt hei up de Dele un trudelt henn bet an'n Aben (Ofen), un dor bliwwt hei liggen. Un ick mein' irst, hei kriegt de Beswimmnis (Ohnmacht), aewerst nee, de Slag hat'n rögt, dat Hart is'n utenanner klöwt (gespalten). Un hüt Nahmiddag, as de Sünn dahl güng un 't an tau 108 schummern füng, da is hei sacht inslapen. Tja, un dat woll ick Sei man mell'n, Herr P'stohr.«
»Aber, Prielopen, wie ist denn das so schnell gekommen?«
»Tja, Herr P'stohr, süh gistern Abend, as öm dat – dat passiert was, da hat hei sick woll bi verküllt. Un hei kreg't de Nacht noch däge up de Bost, tja, un hei säd tau mick: ›Marieken, min beste Dirn,‹ säd hei, ›süh, ick fäuhl dat, dütmal gaht't scheif mit mick, in mine Bost is dat so anners. Aewerst segg man Keinen dor wat van. Süß kamt sei alle noch her, un de eine hat mick düt noch tau fragen un de anner dat, nah allen dusend Deubel.‹ Tja, Herr P'stohr, un Jürn hat mick upletzt noch allerhand seggt, ok wat van Sei.«
»Aber, Prielopen, um Gottes willen, und da ist er so mitten in seinen Sünden aus der Welt gegangen, ohne Beichte, ohne das heilige Abendmahl?«
»Tja, Herr P'stohr, ick mein' dat irst ok, dat güng nich so, tja, un ick woll Sei halen. Aewerst Jürn woll' nich un hei säd: ›Nee, lat sin, Marieken, nee, nu grad nich, wo't mick so belurt hat, nee, dat wör feige! Petrus will mick woll rinnlaten in 'n Himmel, hei was ja 'n ganzen ollen tüchtigen Kirl un kenn' de Welt. Süh, Marieken, min beste Dirn: Tue recht un scheue niemand, dat was min Leitspruch, da heww ick mick 109 ümmer nah richt.‹ Tja, Herr P'stohr, süh un da heww ick 'n de ganzen Gesänge van ›Trost und Aufmunterung in Todesnöten‹ ut'n Gesangbauk vörlest, alltauhop, nah de Rege, aewerst Jürn drusel sacht dabi in. Un as ick falsch bün daaewer, süh, da klopp hei mick ganz lieseken achter up un säd: ›Wes man nich trurig, wenn ick dod bün, min oll lütt' Prallörschen.‹ Herr P'stohr, so säd hei ümmer tau mick, wenn hei gaud was. ›'t helpt nicks,‹ säd hei, ›upletzt möt wi ja alle 'rann, man müdd dat nehmen, as't kummt, man mudd den leiwen Gott för allens danken, am meisten upletzt för'n selig Starwen!‹«
»Ja aber, Prielopen, ich habe Angst um seine Seele! Er war zu weltlich, sein Herz hing zu sehr am Irdischen. Prielopen, wir sollen uns Schätze sammeln im Himmel, die weder Motten noch Rost fressen. Sein Trinken, seine Geldverschwendung – es wurde doch immer schlimmer damit in den letzten Jahren. Oh, mein Gott, und gestern – schrecklich –!«
»Och, Herr P'stohr, dat was allens man halw so leeg (schlimm). Glöwen Sei mick dat man. Hei namm man ümmer blot bi Gelegenheiten einen, Mark un Tierschau un Schüttengill. Un hei könn ok nich veel verdragen. Mehr as drei P'sto . . . . (Pastor = Weinglas voll Schnaps) ick mein': Gläser trünk hei man selten, bi't Vespern, 110 dat was hei so gewennt (gewohnt). Tja, Herr P'stohr, un gistern, süh, dat kamm Sei so: Jürn harr 'ne Wedde wunnen. Mit'n ollen Imker Pahlmann harr hei weddt, tja, un up Sei, Herr P'stohr.«
»Was – auf mich – gewettet, wie meinen Sie das? Ja, richtig, er sprach in seiner Trunkenheit von einer Wette.«
»Tja, Herr P'stohr, un Jürn harr de söß Buddeln Rotspohn wunnen. Un de hewwt sei dunn ok furns in'n Kraug utdrunken. Süh un dabi hat hei woll 'n Glas tau veel drunken, Jürn, un hei wollt't jüm aewerst nich marken laten un güng alleene nah Hus, tja, Herr P'stohr, un dor is dat denn so kamen.«
»Sprechen Sie, um was handelte sich's bei dieser Wette?«
»Och nee, Herr P'stohr, nee, ich schanir mick doch! – Herr P'stohr, glöwen Sei mick dat man, Jürn mein' dat nich bös. Aewerst dat is woll richtig, hei harr 'n Schelm in Sinn, hei möß ümmer wat tau purren un tau prökeln hewwen, hei könn nich still sitten, hei was so'n richtigen ollen Quirlors. ›Süh, Marieken,‹ säd hei, ›süh, ick bün hier de Hecht in unse Dörp un ümmer achter de ollen fulen Burenkarpen her und pierk sei an, dat sei mit ören Kram van'n Platz kamt un nich an tau stinken fangt. Un wat'n ornlichen Kirl is,‹ säd 111 hei, ›de mudd twischendörch ok mal einen nehmen, dat dat Blaud nich sur ward!‹ Tja, Herr P'stohr, tja, un wat ör Vörgänger was hier in'n Amt, nee, würklich, de was denn ok gar tau fett un bequem un kümmer sick upletzt rein um nicks nich mehr. Tja, Herr P'stohr, un bi Sei dunn, dor säd Jürn – so säd hei: ›Marieken, dor will ick jetzt 'n Sticken bi stäken, säd hei, ick will davör sorgen, dat unse neie P'stohr ümmer wat um de Hand hat. Hei mudd ümmer sinen lütjen Husarger hewwen, dat hei kein Fett nich ansett.‹ Süh, Herr P'stohr, un daup harr Jürn mit'n ollen Imker Pahlmann dunntaumal 'ne Wedde makt, up de Tied van teihn Johr. Tja, Herr P'stohr, un mächtig högt hat Jürn sick oft aewer Sei, am meisten gistern, as hei sine Wedde wunnen harr, un hei säd: ›Sühste woll, Marieken, nu is hei infäuert (eingefahren), unse P'stohr, nu treckt hei sinen Strang, wenn man teihn Johr 'n Minschen kennt, weit man Bescheid. Nu hat't keine Not nich mehr. Un van nu aff will ick 'n ok ümmer ruhig gewähren laten, un de Gemeine sall 'n jetzt ok 'n betern Predigtlohn upsmieten.‹«
Die redselige Bäuerin schweigt und bricht von neuem in Tränen aus.
Auch Minna wischt sich die Augen.
Nöldeke legt sich die schönsten und kräftigsten 112 Trostworte zurecht, Mutter Prielopen aber trocknet sich die Tränen und schneidet ihm das Wort vom Munde ab: »Herr P'stohr, den Dag nah Niejohr möt wi'n woll tau Eer bringen, un nich wohr, Herr P'stohr: 'n rechten schönen Liekentext, mit veele hübsche Liederverse dain.«
»Ja, Prielopen, ich will mein möglichstes tun!«
Die Alte zupft verlegen an ihrem Seelenwärmer: »Och, Herr P'stohr, och, ick heww noch 'ne groote Bidde – wegen den Liekentext. Herr P'stohr, gaht dat woll, dat de Salm mit rinn kummt, wo de Harzebock (Hirsch) in rumhuppt. Nee, holt, täuw, hei hat ja woll Döst, hei blahrt un will supen – frisch Water.«
»So, Sie meinen Psalm 42, Prielopen: ›Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.‹«
»Tja, tja, den mein ick! Herr P'stohr, Jürn harr doch sacht mal 'n Harzebock schaten, jawoll, de Schuß güng den ollen Harzebock dicht an 'n Kopp vörbi. Och, dat hat hei so oft vertellt. Hei was ja so'n bannigen ollen Jäger. Herr P'stohr, ick heww mick dat so dacht.«
»Ja, Prielopen, der Psalm kommt mit hinein. Und nun fassen Sie sich, meine gute Frau. Weinen Sie nicht mehr. Gott der Herr tröste Sie.« –
Als sie allein sind, reichen die Geschwister einander 113 ergriffen die Hände, und Nöldeke spricht: »Alter Jürgen, jetzt seh' ich's ein, du warst gescheiter wie wir alle! Wir sind quitt. Von Herzen sei dir verziehen. Minna, so stirbt ein Philosoph.«
Und darauf tritt er an den Schreibtisch, und er zieht ritschratsch dicke Striche durch die fast vollendete Predigt. »Abrechnen, Minna, morgen, subtrahieren? Nein, zusammenzählen all das Gute in der Gemeinde will ich und Gott dafür danken, daß schließlich hier alles so ist, wie's ist. Sind doch ganze Kerls, unsere Heidjer. Minna, wahrhaftig, wenn draußen mal alles zusammenbrechen sollte, unsere Heidebauern bringen die Welt schon wieder in die Höhe und in Schwung. So, Schwester, und jetzt setz' ich mich hin und mache eine neue Predigt, eine Jubiläumspredigt, eine Lob- und Dankpredigt, und die wird mir schon gelingen. Und du aber gehst hinunter und braust uns einen Sylvesterpunsch, Schwester, einen recht kräftigen, nimm 'ne Flasche extra. Hör', du, und das erste Glas dem alten Jürgen, auf daß er im Himmel dermaleinst selig erwache.« 114