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»Fertig!« Der Zugführer schrillt in drei scharfen Rissen den Abfahrtspfiff. Ohrenbetäubendes Aufzischen, danach Stöhnen, Schnauben: das eiserne Roß legt sich wieder ins Geschirr, holterpolter saust der Zug von dannen. Gleich wird das rote Auge am letzten Wagen im Schneewirbel erloschen sein.
Vor der abgelegenen Heidestation – nur eine Sägemühle und ein Wirtshaus sind da zu sehen –, da bleibt's trotz des Unwetters aber noch lebendig. Sylvesterurlauber sind ausgestiegen.
»Nu kiek, Bärnbasters-Lührs Willem, Minsche, in ein un densülwigen Zug hewwt wi tausamen seten! Den Deuker, wat, nah Berlin bi de Franzer hewwt sei dick hensteken? Äh wat, lat dat Hannühr man blieben, hier in unse Heid sünd wi wedder Buren unner sick. Na, segg, wo gaht't dick denn süs bi'n Kommiß?«
»Wo sallt't gahn, as du sühst: ein Kopp, ein Ors. Aewerst du, Fritz – stah mick bi, Wachtmester bi de Lüneborger Dreiguners, alle Dunner hal!«
Aus dem Wartezimmer kommen jetzt noch andere Urlauber zum Vorschein. Die waren schon vor einer halben Stunde von entgegengesetzter Richtung angekommen. Als sie die Hünengestalt des Wachtmeisters 115 nun erblicken, wird säbelrasselnd Tritt gefaßt und energischen Ruckes die Honneurhand gespitzt. Und gleich erkennt sich alles untereinander wieder. Alle Urlauber, wie sie dastehen, sind stramme, rotbäckige Bauernsöhne aus der Heide. Aus Korten-Stünckells Jehann ist ein schwerer Artillerist geworden und aus Appel-Drallen Christoffer ein hannoverscher Königsulan. Der lütje, nachdenkliche Greven-Piep, der hat's freilich nur bis zum simplen Füsilier bei den Celler Siebenundsiebenzigern gebracht, weshalb man ihn auch ziemlich von oben herunter behandelt. Der krausköpfige Papenschult endlich, wer hätte das von ihm erwartet, Teufel, der steht bei den Goslarer grünen Jägern. »Dat mag dat Lork woll passen,« bemerkt der baumlange Franzergrenadier über ihn.
Ein hastiges Fragen und Erzählen. Keiner läßt den anderen ruhig ausreden. Von all dem, was man aus der Heimat Neues gehört hat, berichtet zunächst jeder, was er weiß. Und aus der Kaserne gibt's aber auch viel zu erzählen. Von den Vorgesetzten – von den verschiedenen guten und bösen »Kapralen«, »Schasanten«, Feldwebeln und Hauptmännern. Doch allemal, wenn der Wachtmeister seinen sonoren Kommandierbaß erhebt, da schweigt alles mitten im vollsten Rawweln und Wichtigtun, wie auf den Mund geschlagen, und das tut 116 sogar der großmäulige Königsulan, dem noch kein Mädchen widerstehen konnte.
Endlich gehen sie in den Wartesaal, an den Schenktisch, und man gießt hier im Stehen ein paar Runden Bier hinunter, und darauf schnallt man die Koppeln und Tornisterriemen um ein Loch enger, schlägt die Mäntelkragen in die Höhe, stimmt das schöne Lied an:
»Protzet ab, ihr Kanonier,
Gebet Feuer, daß es donnert, daß es blitzet!
Viele Bomben geschmissen,
Viele Häuser zerrissen
Mit starker Kanon,
Kommt keiner davon!«
– und bricht auf.
Hat zunächst ein jeder die Ehre seiner Kompagnie im Singen zu verfechten. Kirschrot im Gesicht werden die Urlauber vor Eifer. Schließlich aber geht's wie Kraut und Rüben durcheinander, und es trachtet einer den andern »dahl« zu singen:
»Was soll'n die Soldaten essen,
Kapitän und Leutenant?
Gebrat'ne Fisch mit Kressen,
Das soll'n die Soldaten essen!« 117
»Wo soll'n die Soldaten schlafen,
Kapitän und Leutenant?
Bei ihr'n Geweh'rn und Waffen,
Da soll'n die Soldaten schlafen –«
Durch den fußhohen Schnee wandern die Urlauber in stramm soldatischem Tritt der Heimat entgegen.
Was ein Fichtenhagener Soldatenherz jede trübselige Kasernennacht nur immer Liebstes, Schönstes träumt, das geht in Erfüllung noch heute! Mächtig greifen die Beine aus! Durch den Orreler Balken kommen sie. – Jetzt schon um die Krümme herum! – Jetzt direkt auf den Steinsink zu! In die Heimat geht's ja, die geliebte! Näher rückt sie mit jedem Schritte.
Große Eile tut ja auch not, um zum Sylvesterball noch zurecht zu kommen, zum Fichtenhagener Sylvesterball!
Unter allen Festen im Jahre für die ganze Heidewelt zwischen der Aller und der Marsch, den verschiedenen Jahrmärkten, Schützengilden, Fastelabend- und Pfingstelbieren, freilich, da ist und bleibt der Fichtenhagener Sylvesterball das schönste, herrlichste, und so kann man's den Soldaten nicht verdenken, daß sie immer lieber zu Neujahr statt zu Weihnachten Urlaub nehmen. In berauschenden Farben malen die Urlauber sich aus, was das diesmal für ein Leben werden soll 118 und wie sie selbstverständlich die Hauptpersonen sein werden. Was sind sie aber auch für Kerls! Jeder ist der beste in der Schwadron, Kompagnie! Großartig prall sitzen ihnen die Extrahosen, die Extraröcke, und die mit gedoppeltem Fleiß geputzten Knöpfe – wie sie funkeln! Die Schnurrbärte sind gewichst, gedreht und ausgezogen nach dem Muster des idealen Kaiserschnurrbartes auf dem Öldruckbilde in der Kantine: wahrhaftig, verrückt müssen die Mädchen werden! Nur dann und wann, sacht wie auf Strümpfen, schleicht so von hinten herum auch mal ein Gedanke an den väterlichen Hof sich ein. Was die Pferde wohl machen daheim, der Bleß, Lischen, Lotte, Wittsnut, und die Kühe, und wie viele lebendige Ferkel die prämiierte Sau wohl letztlich wieder geworfen haben mag; und wie hoch die Kartoffeln, der Roggen, Buchweizen zurzeit wohl im Preise stehen mögen, und ob's gut Grütze geschafft hat, und wie weit man wohl mit dem Dreschen sein mag usw. Vater, Mutter, Brüder und Schwestern, das ist gewiß, die findet man im Gasthause »Zum vier Linden« heute abend alle wohlgemut beisammen. Und deshalb wird einstimmig beschlossen, nicht erst nach Hause zu gehen, sondern praktischermaßen gleich den Sylvesterball im Sturm zu nehmen.
Immer gleichmäßig fort schüttet Frau Holle aus. Das 119 Singen verstummt allgemach. Und gegen den Spätnachmittag wird der Wind heftiger. Auch die Unterhaltung verstummt; in beständigem Plänkeln mit dem Wetter bahnt sich jeder schwitzend seinen Weg. –
Nachdem man endlich zum Steinsink glücklich heruntergekommen ist, wo schon die ersten Lichter des Heimatdorfes traulich herübergrüßen, da erwacht die alte Munterkeit wieder. Und der Appel-Dralle stimmt in seiner Vorfreude auf den Sylvesterball das Lied von den schwarzbraunen Mädchen an. Kaum sind jedoch ein paar Töne aus seiner Kehle, da schnauzt ihn der Wachtmeister an: »Halt's Maul, Gefreiter Dralle!« Schnell ist des Wachtmeisters Zorn aber wieder verraucht, und seinen blonden Wachtmeisterbart streichend, spricht er nun weich, gutmütig: »Nich för ungaud, Kam'raden, gaht man vörup, marsch, un täuwt nich up mick – ick kam alleene nah.«
Hm, dem Vorgesetzten hat der Soldat zu gehorchen.
Erst als man sich schleunig über Hörweite entfernt hat, kommt die Unterhaltung flüsternd ins Tröpfeln und allmählich wieder in Fluß. So glupsch Appel-Drallen anzubrüllen, wie einen frischen Rekruten auf dem Kasernenhofe! War er doch erst ein ganz gemeiner (umgänglicher) Mensch, freilich bald danach und überhaupt während der ganzen Wanderung hat er nich gick und 120 gack mehr gesagt. Und der Papenschult rümpft die Nase: »Hei hat 'n grooten Prökel (Stolz). AlleWachtmesters hewwt 'n grooten Prökel.«
»Dat is all bi de Schasanten so,« lispelt der kleine Greven-Piep, von den Celler Siebenundsiebenzigern.
Setzt sich darauf Korten-Stünckells Jehann in Redepositur, und die anderen bleiben stehen und bilden einen Kreis um ihn: »Och Prökel, hat sick wat, hei denkt an de olen Tieden, dat is't. Jeja, ick weit Bescheid, da sünd Geheimnissen hinner, worum hei sick dunntaumal freiwillig annehmen laten dä. Unse Schaper hat mick dat man vertellt. Un de Sak is ok man nich so recht lutwöhrig worr'n. 'n Mäken stickt dahinner. Nachtwächter Druben Jehanne, de.«
»'n Mäken – dat sall woll sin,« nickt der stolze Königsulan und zeigt grinsend die Zähne.
»Un sin Olle,« fährt der Sprecher fort, »de harr ja all längst för'n Fritz eine stahn, 'ne Dirn ut'n grooten Meierhoff, mit 'n bannig grooten Kistenwagen (Heiratsgut). Un Musche Fritz aewerst, de säd: ick will leiwerst van Hus un Hoff, sad hei, as van dat Mäken laten. Och un nu 'n grooten Krach, och leiwe Tied, hat 't sett't! Jeja, jeja, Kinners, de olle Bur, de is ja aewerst ok so'n ganzen ollen Grötschen, so 'n ganzen ollen obsternatschen Sagebock!« 121
»Dat is hei,« bestätigt man ihm.
Der Sprecher weiter im Text: »Un jetzt sidd de Olle mudderseelen alleene in de Olendeilerdönz – nüms mag girn mit öm wat tau daun hewwen – un den Hoff hat hei verpacht. Un wat dat Mäken is, süh, de is justement so lange weg ut'n Dörp, as de Wachtmester ok. Och un sei is 'ne ganze staatschöse Deern, dat kann ick jück versichern! Un mal vertellen sei, sei harr buten wo 'n Profeschonisten freit; dat is aewerst nich an dem.«
Alles sieht sich unwillkürlich noch einmal nach dem Wachtmeister um. Am Steinsink steht er noch immer, regungslos, an einer Wegbirke, und seine Mantelschlippen flattern im Winde. –
Endlich aber spricht der Gefreite Appel-Dralle: »Wat is dabi tau daun – de Hund bliwwt vör'n Stahrt,« und er macht sich stramm und kommandiert: »KehrtMarsch! Gradut, an Fanehl-Heinemanns Gor'n lang, den Karkhoff hendahl und bautz rinn in'n Sylvesterball!«
* * *
Es wühlt in des Wachtmeisters Brust. Das Wiedersehen schon allein der heimatlichen Feldmark, wie's ihm doch das Herz zusammenreißt, er hätt's nimmer 122 gedacht, und heute noch dazu, wo tief alles im Schnee begraben liegt.
Sechs Jahre! Hier am Steinsink sah er Fichtenhagen damals zum letzten Male. Ganz nahe seiner Birke, auf eine Heuhocke hatte er sich gesetzt. Der schöne Blick von hier. Auf die Kirche, die Höfe, die knorrigen Hofeichen.
Ein klarer Septemberabend war's und die Sonne bereits hinab. Überall war schon gemäht, und den Hocken entströmte würziger Duft. Er nahm eine Handvoll Grummet sich mit. In Haß war er gegangen. Um niemals wieder heimzukehren. War doch für ihn nun alles aus daheim. Und die elende erste Zeit darauf, in der Kaserne; aber er hatte sich gut gemacht, und so schnell, wie er, war im Regiment noch keiner aufgerückt. Wer hätte nicht Respekt vorm Wachtmeister Wesemann von der ersten Eskadron! Freilich, zum Teufel wünscht er das Soldatenleben doch auch nachgerade, jawohl, lieber heut' als morgen käme er um seinen Abschied ein. Der freie Bauernsohn der Heide hält auf die Dauer so ein Leben nicht aus, auf den Acker, an den Pflug, an den Erntewagen hat der Herrgott seinen Platz bestimmt, und dahin gehört von Natur und von Rechts wegen auch er. Einmal aber sollen sie ihn doch daheim sehen, in seinem vollen wachtmeisterlichen Glanze, auf dem 123 Sylvesterballe heute und morgen, Neujahrstag, in der Kirche, und ärgern soll sich der Alte.
Der Wachtmeister rafft sich zusammen und folgt nun den anderen Urlaubern langsam nach ins Dorf. –
Im Fichtenhagener Gasthause »Zum vier Linden« – welch eine Neugier da heute und Aufgeregtheit! Natürlich hatten die Urlauber sofort erzählt: Wesemanns Fritz, der Lüneburger Dragonerwachtmeister, wäre auch mitgekommen. Man drängelt und schuppst sich herum. Die Musikanten hatten zwar erst weiterspielen wollen, nach einigen Takten aber hatten sie's aufgegeben und den Tanz abgebrochen; denn nur ein paar eben konfirmierte Hofjungens waren miteinander als blinde Paare herumgesprungen, kein Mädchen hatte gewollt: erst muß man den großartigen Lüneburger Dragonerwachtmeister ordentlich nahebei sich angesehen haben.
»So'n Wachtmester, den Deuker, Kinners, dat is all hoch rup! – Nu kummt hei! Deubel, dat is 'n Kirl! Kiek de Unneform, wat för 'ne schöne hellblage Kallühr, un de gelen Upsläg, de sülwern Tressen da up! Un slohwitte Handschen hat hei an! Nee un sine lange Plempe, wenn hei de mal scharp trecken daht, au, wo de henn haut!« – »Sehr prachtvoll schön!« schwögt sogar Jehann von Ülzen, dem sonst so leicht nichts imponiert. Vergessen sind alle die anderen Urlauber, vollständig an 124 die Wand gedrückt, und das ist sehr unrecht, denn bis auf den kleinen, krummbeinigen Greven-Piep von den Celler Siebenundsiebenzigern sind's doch Kerls, die sich sehen lassen können! Ein Goslarer grüner Jäger, ein schwerer Artillerist, der den Knopf hat, ein Berliner Franzer-Grenadier, ein Gefreiter von den hannoverschen Königsulanen – das ist denn doch wahrhaftig nichts Geringes für Fichtenhagen!
Den Wachtmeister umringt auf Schritt und Tritt ein dichter Schwarm, ihm geht fast der Atem aus.
»Dunner und Deubel noch mal tau,« knarrt Pletten-Düvels Vater, der Schmied, mit seiner Frachtwagenstimme, »ick verstah mick daup as 'n ollen Verdener Hulan: wat so'n richt'gen Wachtmester is van't Pärvolk, Kinners, de kann jück ganz barbarschen wat bi sick laten in sinen langen Lieknahm, ick kenn' dat! Hei hat ja wohrhaftig noch nich Natt un Drög bi uns hat, un ick mein' man ümmer, mit'n leddigen Panzen is slecht danzen.« Und nun will jeder gleich für den Wachtmeister extra einen ausgeben und mit ihm anstoßen. Die Bestellungen hageln nur so auf den Wirt ein. Herrgott und die Mädchen! Ihre Wänglein glühen wie die Feuerlilien, wie die Pfingstrosen, ihre kugelrunden Stauneäuglein funkeln mit des Wachtmeisters Uniformknöpfen um die Wette. »Och Viechen, Dortjen, Stine, 125 Lieschen, Trinlenken, wenn hei doch mit mick ok mal danzen dä!«
Dem Wachtmeister aber ist durchaus nicht fröhlich und eroberungslustig zumute. Er nimmt Anläufe, macht verzweifelte Anstrengungen, jedoch es gelingt ihm nicht, in die richtige Stimmung zu kommen, wie der Sylvesterball sie verlangt. Seine Lustigkeit endlich, die ist gemacht, kommt nicht ehrlich aus dem Herzen. Und zumal zum Tanzen kann er sich lange nicht entschließen. Er muß die Augen immer wieder abwenden von dem Trubel, als die Musikanten jetzt aufwarten mit ihren allerbesten Nummern. Zum Teufel, weg mit den dummen Gedanken!
Der Wachtmeister tritt an die Musikanten hin: »Musikanten, 'ne Extratour! – Pst, du, halt' mir mal meinen Säbel.«
Sofort läßt der angerufene Bauernbursche sein Mädchen fahren, und heroisch steht er mit dem Wachtmeistersäbel da. – Der Wachtmeister aber fliegt gewaltigen Schwunges mit Fanehl-Heinemanns Karline durch den Saal.
So einen wüst lustigen Sylvesterball wie diesen hat man in Fichtenhagen selten erlebt! Grog, Braun- und Lagerbier, Kümmel, alter Refardtscher Korn fließt in Strömen, alles dem Wachtmeister zu Ehren, und mit 126 dem teuren Rotspohn fangen die großen Vollkötner unmoralisch frühzeitig an. Man zeigt sich heute, man läßt was springen.
In wildem Taumel aber schwenkt der Wachtmeister ein Mädchen nach dem anderen, so wie sie ihm in den Griff kommen.
Seinen alten Lieblingstanz: »Lieschen, mak de Dör apen« stimmen die Musikanten an, und der Wachtmeister winkt sich dazu in landesüblicher Weise eine Deern herbei.
Die Tanzpause nun. In der offenen Saaltür – den alten Mann da, im Gedränge der gaffenden Tagelöhnerweiber, den sollte er doch kennen, jawohl, den alten Nachtwächter Drube, ihren Vater! In seinem Schnuckenpelz, die Pudelmütze über den Ohren, Horn und Eichheister in der Hand, so steht Vater Drube da, am Pfosten. Mit sonderbar fragenden Blicken verfolgt er den Wachtmeister, als wollte er mit ihm reden.
Nach guter, alter Fichtenhagener Sitte macht immer der Nachtwächter in der Sylvesternacht, wenn's zwölf geschlagen hat, die Runde im Dorfe, und vor jedem Gehöft, bis zur kleinsten Brink herunter, da singt er:
»Das alte Jahr vergangen ist,
Wir danken dir, Herr Jesu Christ,
Daß du uns in so groß'r Gefahr
Bewahret so viel Zeit und Jahr.« 127
Und ein dreimaliges, kräftiges Tuten bildet den Beschluß. Im Gasthause »Zum vier Linden«, mitten im lautesten Trubel des Sylvesterballes, von einem Schemel herunter, wird seit Menschengedenken der Anfang damit gemacht, das heißt mit dem Tuten, denn das Singen unterbleibt hier, allerdings, von wegen der Profanation, und statt dessen hat der Nachtwächter nur »Prost Neujahr« zu sagen und darauf um so herzhafter zu tuten und sechsmal, statt dreimal.
Es schlägt zwölf. Der Alte macht seine Sache. »Prost Neujahr!« schallt's aus hundert Kehlen zugleich. Es entsteht ein Heidenspektakel. Von Tischen und Stühlen springen sie mit fürchterlichem Gepolter ins neue Jahr hinein. Und die Musikanten spielen vorschriftsmäßig dazu ihren übermütigsten Rutscher. Draußen bollern die Hofjungens aus selbstgemachten Schlüsselbüchsen. Andere laufen herum und schmieren mit Kreide in langstakigen Ziffern die neue Jahreszahl an Haus- und Scheunentüren.
Der Wachtmeister schleicht sich nun heraus aus dem Trubel, er sondert sich ab und setzt sich in ein Fenster. Er fühlt sich schier wie zur Hölle verdammt. Wie die Posaune des Gerichts klang zuletzt ihm das Tuten. Es hämmert ihm in den Schläfen. Luft! Und er öffnet das Fenster und lehnt sich hinaus. Und nun flutet das 128 Sylvestergeläute ihm entgegen, durch die schneehelle Nacht. Deutlich sehen kann man die Kirche, klar zeichnet sich ihr stumpfes Turmdach vom Himmel ab, auch sogar das mittlere, spitzbogige Schalloch im Turm, durch welches man bei Tage die große Glocke schwingen sehen kann, das ist zu erkennen.
Die berühmte Fichtenhagener große Glocke! Oft hat er unter ihr gestanden, da oben im Turm, und sie angestaunt, als Junge, wenn Kantor Conring ihn mit hinaufnahm.
Es hat aufgehört zu schneien, und am Himmel glitzern die Sterne. Im Frieden der Nacht liegen die Gehöfte da, wie kleine, stille Inseln heben die glattkantigen Flächen der Schneedächer sich aus dem Dämmer.
Komm, komm,
Komm herein,
Daheim kehr' ein.
Vergessen, vergeben,
Oh, lern's im Leben.
Im Vaterhaus
Da ruh' du aus –
so singt's ihm unaufhörlich ins Herz, aus den langgezogenen Schlägen der großen und dem eifrigen 129 Zwischengebimmel der kleinen Glocke. Seine Seele erschauert unter den Klängen, und hinaus zieht's den Wachtmeister, er kann nicht widerstehen. –
Auf dem Kirchplatze, unter der winterkahlen Kirchenlinde, so alt wie das Gotteshaus selber, steht lange er da, und er starrt in das Schalloch hinein. Was alles er darinnen sieht! Alle Freuden der Kindheit! Die frühverstorbene Mutter sieht er. Und nun sie, sie. Eilig kommt sie gegangen. Sie will fort von Fichtenhagen. Verhärmt ist ihr Antlitz, vom Schimpf, den sein Vater ihr bereitet hat, sein leiblicher Vater! – Er wendet sich und geht. In die große Dorfstraße biegt er ein. Das Gehöft gleich vornan sollte er kennen. Unwillkürlich bleibt er davor stehen. Da, die Scheuneneinfahrt – der Boltenzaun – die Pappel mit den Sprechenkästen. Unschlüssig steht er da und kaut an seinem Bart. »Ja, ansehen, das schon, hm, nur mal so herumgehen!«
Nichts hat sich geändert. Die Namen seiner Vorfahren überm Torbogen, in blauen und roten, altertümlich verschnörkelten Buchstaben: »Joachim Gabriel Wesemann – Wilhelmine Sophie Dorothee Wesemann, geborene Dreves;« und im Zwickel: »Erbaut mit Gottes hülfe am 28. may 1742.« Und der Hausspruch darüber am Balkenfries: 130
»Mein Kapithal ist arbeit bloß,
Die leg ich in der erde Schooß
In Gottes nahmen nieder.
Dies Kapithal bringt Allemal
Die Zinsen sampt dem Kapithal
Viel Hundertfältig wieder.«
Manchmal hat er als Kind ihn buchstabiert und stolz seine Lesekunst daran bewiesen, daß die Knechte Respekt bekamen. Über der niedrigen Nebentür springt, ganz wie früher, das weiße Sachsenpferd, im himmelblauen Felde, und auch die spindelschlanken Engel rechts und links daneben haben sich nicht verändert. Geschlossen aber sind Tor und Tür. Doch sieh, das Trittüberbrett im Boltenzaun, es ist auch noch da. Und ohne sonderliche Anstrengung gelangt er jetzt auf die innere Hofstatt.
Er steht vor dem verräucherten, alten Bauernhause. Alles ist sich auch hier gleich geblieben, die Geschirrpflöcke im Vorschauer, der Hühnerwiemen und die rotgestrichene Pferdestalltür mit dem Guckschieber. Auch der hohe und mit schweren Steinen befrachtete Ziehbrunnen vorm Hause – alles ganz wie sonst. Aber tot sind Haus und Hof, wie ausgestorben. Eiszapfen, spitz und grimmig wie Drachenzähne, hängen vom Strohdache weit über die kleinen, zugefrorenen Ruten herab. – 131
Das Geläute ist längst verstummt. Die kühle, kirchenstille Schneenacht. Kein Lüftchen regt sich. Nur manchmal ist's, als atme die schlummernde Erde unterm Schnee ganz sachte tiefer auf, wie im Traum. Das Wetter hat sich zum Frost gewendet, und der Schnee knirscht unter seinen Füßen, wie der Wachtmeister nun langsam ums Haus herumgeht. Und sich darauf einem Nebengebäude zuwendend, bleibt er nach ein paar Schritten überrascht stehen: »Woher der Lichtschein – aus der Altenteilerdönz – hm, der Alte – was macht er noch so spät?«
Die Fenster sind frei. Man kann durch die Balsaminen und Geranienstöcke den ganzen Stubenraum ungehindert überblicken.
Der Wachtmeister lehnt sich vor, fährt aber im selben Augenblick erschrocken zurück: »Gott im Himmel, krank! Und ein Mädchen, städtisch gekleidet, gibt ihm zu trinken, pflegt ihn?«
Plötzlich legt sich von hinten eine Hand auf des Wachtmeisters Achsel. Vater Drube steht neben ihm, er hat sein Herumsingen beendet und sich sachte herangeschlichen.
Der Wachtmeister will aufbegehren, er will davon, jedoch tief nieder auf die Brust sinkt ihm das Haupt, 132 und stumm, wie ein hilfloses Kind, läßt der Heimgekehrte sich ins Haus führen.
Die Pflegerin des Vaters – er erkennt sie. Sie aber winkt ihm zu schweigen, und sie deutet auf den schlafenden Kranken.
Und der alte Nachtwächter legt sich nun als Dolmetsch ins Mittel. Schon um Lichtmeß fing der Bauer an zu kränkeln. Ein Quacksalber sollte ihm helfen. Als aber um Jakobi die Füße dick wurden, da sagte dieser: »Dat is leeg, hm, paßt up, nu mudd hei 'rann, nu helpt öm kein Gott un kein Deubel mehr!« Und täglich wurde es darauf schlimmer. Am ersten Adventsonntag ist der Bauer am Stock beim Nachtwächter angehumpelt gekommen, verstört, ganz gebrochen, und er hat gesagt: »Ick weit nu sülwst Bescheid. Bald is dat mit mick vörbi. Un dat woll ick dick man noch seggen, Drube: ick heww jüm beid' unrecht dan, min Kind un din. Dat heww ick, un dat wormt mick, Drube, dat dat so is, un ick kann so nich ruhig starwen. Aewerst ick will öm den Hoff nu doch noch tauschriewen laten, Fritzen, dat will ick.« Und von seiner Tochter erzählt Vater Drube, daß er sie von der Stadt hergerufen habe, als bald danach der Bauer zu liegen gekommen wäre und nun doch richtige Pflege hätte haben müssen.
Der Kranke erwacht, und er richtet sich auf. Er 133 erkennt den heimgekehrten Sohn, und er sieht die Braut an seiner Seite. Über seine harten Züge huscht ein Lächeln, über die Wange rinnt leise sogar ein Träulein. Sie müssen ihm die Hände reichen, und die fügt er ineinander: »Aewer Johr is se afflopen, de Pacht, un denn hürt jück de Hoff, un denn – Kinners, denn gaht man henn un fiert tausam Sylvesterball, Kinners, un – un makt Hochtied, Hochtied.«