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22. Herminia und der Drache

Es lebte einmal ein Kaufmann, der ebenso reich als gut war. Mit Seide, Sammet und anderen kostbaren Stoffen verdiente er viel Geld. Er hatte aber drei Töchter, die ihm manche Sorge machten. Besonders die beiden älteren, die ihr Leben in süßem Nichtstun verbrachten und dabei sehr hochfahrend und verschwenderisch auftraten, worunter die jüngste, die häuslich und arbeitsam war, oft schwer zu leiden hatte. Dazu trafen den Kaufmann große Verluste, so daß er Bankerott machen mußte. Weil er aber allgemein geschätzt und beliebt war, sagten seine Freunde: »Der Ärmste! Wie und wovon soll er nun leben mit so verwöhnten Töchtern?« Sie beschlossen, ihm wieder aufzuhelfen und schickten eine Barke mit allerlei wertvollen Stoffen, um damit aufs neue zu handeln. Allein seine Gläubiger, die es erfuhren, kamen eiligst herbei und entrissen ihm alles. –

»Jetzt bleibt mir«, sprach er, »nichts übrig, als mein Heil draußen in der Welt zu suchen.« Er setzte sich auf einen Esel und ritt in die Ferne. Drei Tage und drei Nächte war er schon unterwegs, ohne Unterkunft und lohnende Beschäftigung zu finden. Endlich, am Morgen des vierten Tages, erblickte er, im Walde irrend, von weitem einen großen Palast, dessen Tür er offen fand. Er klopfte, fragte und rief. Keine Antwort. Er trat ein. In einer Vorratskammer neben der Eingangshalle lag ein großer Haufen Hafer, den der abgemagerte Esel gleich roch und zu verzehren begann. – Auch oben im ersten und zweiten Stock war niemand zu finden, aber auf einem Tische stand ein vorzügliches Frühstück mit Kaffee und Milch zum Zulangen bereit. Der hungrige Kaufmann ließ sich nicht nötigen. Zu Mittag fand er im Speisezimmer eine vollkommene Mahlzeit: Fleisch, Makkaroni, Reis, Obst, Käse und Wein, sowie am Abend ein reichliches Nachtessen. Drei Tage verweilte er und fand immer eine treffliche Kost und ein gutes Bett.

Am nächsten Morgen mußte er abreisen; denn er hatte versprochen, in neun Tagen wieder zurück zu sein, und brauchte drei Tage für den Heimweg. Beim Heruntersteigen gewahrte er auf einem Altan herrliche Blumen. Da dachte er daran, wie ihn Herminia, seine Jüngste, gebeten hatte, ihr ein paar Nelken mitzubringen, während die Schwestern kostbare Geschenke erwarteten. Als er sich aber bückte, die Blumen zu pflücken, schrie plötzlich jemand, der nicht zu sehen war: »Dieb, Räuber, Einbrecher! Ich werde dich ins Gefängnis oder auf die Galeere schaffen lassen.« – »Verzeihung! Erbarmen!« flehte der erschrockene Kaufmann. »Ich wollte nur ein paar Nelken für Herminia, meine Tochter, mitnehmen, weil sie mich darum gebeten hat und ich sonst nichts für sie habe. Mir ist es gar zu traurig ergangen.« Und nun erzählte er dem Unsichtbaren sein Unglück.

»Nun denn,« rief darauf die Stimme, »nimm soviel mit, wie du willst! Komm aber bald wieder und bring Herminia mit!«

Der Kaufmann reiste ab und kehrte bald mit Herminia in den Waldpalast zurück, wo sie jederzeit ihre guten Mahlzeiten und Betten vorfanden, ohne je einen Menschen zu entdecken.

Nach vierzehn Tagen entfernte sich der um seine Familie besorgte Kaufmann heimlich frühmorgens, während Herminia noch schlief. Als sie erwachte, fürchtete sie sich und wollte fliehen. – O weh! Da war die Treppe verschwunden, und vom dritten Stock heil herunterzuspringen, war ganz undenkbar. Nur eine starke Weinrebe rankte sich von der Erde bis zum Fenster empor. Doch daran hinabzuklettern wagte Herminia nicht. Alles Rufen und Schreien verhallte erfolglos.

Nun hatte sie Zeit, sich im Schloß umzusehen und hörte wunderbare Harmonien, ohne jedoch deren Ursprung zu erkennen. Schließlich war sie ganz mit ihrem Schicksal zufrieden.

Als sie nun schon einige Zeit da war, vernahm sie eines Abends eine tiefe, klagende Stimme aus dem Nebenzimmer: »Herminia, Herminia, darf ich dich einmal besuchen?« Sie erschrak und antwortete nicht. »Ich begreife,« fuhr der Besucher fort, »du hast Angst, ich gehe schon wieder.« – Sie eilte ans Fenster und sah an der Rebe einen greulichen Drachen hinabsteigen. Sie schrie und wollte fliehen. Unmöglich! »Fürchte dich nicht,« rief das Ungetüm, »ich meine es gut. Nur anschauen wollte ich dich.«

Nachdem der Drache so mehrere Abende trotz freundlicher Zurede und dringender Bitte vergeblich um Einlaß gefleht, überwand Herminia allmählich ihre Furcht vor ihm, erbarmte sich seiner und duldete, daß er, ihr zu Füßen sitzend, wehmütig zu ihr aufblickte. Ja, seine Gesellschaft war ihr zuletzt ganz willkommen.

Eines Abends begann er mit einem tiefen Seufzer zu fragen: »Herminia, Herminia, willst du mir eine Liebe erweisen?«

»Gern, wenn ich kann!«

»Es ist leicht.« – »Sprich also, was willst du?« – »Gib mir einen Kuß!« – »Dir einen Kuß? Pfui! Das ist unmöglich.«

Da wurde der Drache sehr traurig und kam nur noch selten zum Vorschein.

Nach einiger Zeit sehnte sich Herminia, ihre Eltern und Schwestern wiederzusehen. Sie bat den Drachen um Urlaub. Er steckte einen Ring an ihren Goldfinger und bemerkte dabei: »Sage nur: Ringelein, Ringelein, ich möchte meine Eltern und Schwestern einmal sehen! Und sogleich wirst du dort sein. Bleibe aber keinesfalls länger als drei Tage, drei Stunden und drei Minuten! Dann sagst du: Ringelein, Ringelein, ich will wieder zurück! Und dein Wunsch wird erfüllt.«

Kaum hatte sie nun dem Ringelein ihr Begehren anvertraut, so befand sie sich auch schon daheim bei Eltern und Geschwistern, die sie freudig umarmten und küßten. Und sie war glücklich, wieder einmal bei den Schwestern schlafen zu können.

Als sie nach drei Tagen wieder Abschied nehmen wollte, wurde sie zurückgehalten. Am vierten Tage hatte sie jedoch keine Ruhe mehr und beschloß, heimlich zu entweichen. Und kaum hatte sie sich das vorgenommen und sich ihres Ringes erinnert, so befand sie sich auch schon wieder im Drachenpalast. Der stand aber leer. Da stieg sie hinab in den Garten und sah am Wasser den Drachen in Todeszuckungen liegen. Er stöhnte: »Ach, Herminia, warum bist du so lange geblieben? Nun muß ich sterben. Du konntest mich erlösen. Für alle erwiesene Gastfreundschaft verlangte ich nur einen Kuß. Du hast ihn verweigert. So sterbe ich nun. Leb' wohl!«

Da sprach Herminia, von Schmerz überwältigt: »Armer Freund, verzeihe!« Und sie gab ihm einen Kuß. Da stand an seiner Stelle auf einmal ein wunderschöner Prinz, dessen Gemahlin sie nun wurde. Und fortan lebten sie alle, auch die gedemütigten Schwestern, glücklich und zufrieden.

Die zu allgem. überl. Üb. lautet: » II negoziante colle tre figliuole«. Lokalisiert und in einigen Nebenmot. verändert begegnen wir dem M. in drei oberital. Überlieferungen: 1. einem aus Montale, wo »Bellinda« (= Herminia) die jüngste Tochter eines Kaufmanns ist, erz. von Gh. Nerucci, Pistoia, 1880; 2. » Bellinda e er mostro« (Zanazzo: Novelle, favole, leggende in der Bibliothek zu Bologna); 3. Zelinda e il Mostro (Gh. Nerucci, Firenze 1880).


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