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Spät in der Nacht schrieb Reinhard einen Brief an Doktor Adalbert Reihenmeyer:
»Du bist ein Freund übers Grab und Du bist der einzige noch Lebende, den ich begrüßen will. Ich bin hier und habe das schauerliche Behagen, als ein Gestorbener wieder erschienen zu sein. Während ich hier in stiller Nacht sitze, singen die Burschen durchs Dorf. Es ist mir wie ein Wunder, daß die Lieder noch die alten Töne haben. Die Welt wird immer wieder jung. Ich aber bin alt und müde und ein fester Platz wartet auf mich. Mir wirbelt's im Kopfe von all den Erinnerungen, die mir heute erweckt wurden. Willst Du Dich meiner noch erinnern, so komm.
Woldemar Reinhard.
(Nachschrift.) Es ist so still, ich höre jenen zitternden Klang, jenes flüsternde Knistern, jenes leise Summen in der Luft, das Du einmal den Flügelschlag der Schleiereule Vergänglichkeit und ein andermal ein Austönen von der Bewegung unseres Planeten nanntest . . . . Ach was ist alles! Quacksalberei und endlich Tod. Ich habe mein Leben verfehlt, ich möchte den Rest noch rein abthun. Was ist alle Kunst, alle Selbstbefriedigung, was ist Ehre und Ruhm, wenn das Leben nicht rein? Aber nenne mir einen Künstler, der sein Dasein rein ausgelebt. Vielleicht ist alle Kunst nur Quacksalberei, um den Bruch und Schmerz des Daseins zu vergessen . . . . Ich habe mit grauen Haaren die Studentenkrankheit der Skepsis bekommen, die ist in solchem Alter unheilbar. Ich bin müde und möchte schlafen auf immer. Ich habe nichts mehr von der Welt zu erwarten, nichts mehr in ihr zu suchen.
Du hast ihr ein Grabdenkmal gesetzt. Vor mir liegt eine Nelke, die aus ihrem Grabe entsprossen, und jetzt scheinen die Sterne über dem Hügel. Ich stand auf dem Fleck Erde, den sie für mich bereit gehalten. Wenn Du kannst und willst, so komm zu mir. Ich bedarf keines Menschen, ich bedarf auch Deiner nicht, ich will nichts als ruhig und still einschlafen, sterben. Wenn Du noch der Alte bist, so darf und muß man Dir auch dies alles sagen. Uebelnehmen kennst Du nicht.
Ich werde am Sonntag Dein Waldheiligtum aufsuchen, wo Du damals an unsrem ersten Dorfsonntag so glückselig träumtest und den großen Schmetterling Traumglück aufspießtest.
Wann war das doch?
Ich meine, in Urweltzeiten.
(Letzte Nachschrift.) Eigentlich wollte ich Dir alles, was da steht, nicht schreiben, sondern nur das: Komm zu mir, bleib bei mir, denn es will Abend werden. Komm – schilt mich, aber bleib bei mir. Ich habe einen Plan für unser beider letztes Leben, aber den will ich erst vor Deinen treuen Augen auslegen. Komm zu mir. Ich kann und will nicht nach der Stadt. Komm zu mir.
Du bist der einzige Mensch, der über mich richten darf.
Ich war undankbar gegen Dich.
Ich gedenke jenes Tages, als Du um meinetwillen die Kleidung des Waisenknaben anzogst. Ich kann nicht mehr schreiben. Viva voce will ich Dir alles sagen. Komm zu mir.«
Reinhard starrte lange in das Licht, dann schloß er den Brief, ohne ihn durchzulesen. Er stand auf, verließ das Hans und ging nach dem Bahnhofe, um den Brief in den Schalter zu werfen; dort brannte noch eine Lampe, und der Hund des Bahnwärters knurrte nur verschlafen. Reinhard wanderte noch ruhelos im Felde umher, dann kehrte er ins Dorf zurück, aber nicht durch die Dorfstraße, er ging zwischen den Gartenhecken draußen, und unversehens stand er vor dem Kirchhof. Er schauderte, aber was ist die Nacht anders als der Tag? Was soll der alte kindische Aberglaube? Warum jetzt nicht auf ihr Grab?
Er ging hinter dem Hause Wendelins vorüber, da brannte Licht in der hintern Stube des Erdgeschosses. Er näherte sich dem Fenster, ein dürrer Zweig auf dem Boden knackte unter seinen Füßen. »Wer ist da?« rief eine Frauenstimme. Er antwortete nicht und wollte still davon schleichen, aber schon öffnete sich ein Schiebfensterchen, ein Mädchenkopf erschien darin, und Malva rief: »Der Herr Reinhard!«
»Warum wachst Du noch?«
»Ich hab' gar so schwer denken müssen. Es ist mir, wie wenn die Frau Professorin es in der andern Welt nicht aushalten könnte und jetzt wiederkommen müßte.«
»Du bist ein seltsames Kind. Gut Nacht. Gib mir eine Hand.«
»Ich kann jetzt nicht. Ihr seid doch nicht in der Nacht auf dem Kirchhof gewesen?«
»Nein.«
»Gottlob. Schlafet gut.«
Er fuhr Malva unwillkürlich mit der Hand über das Gesicht, sie küßte seine Hand, er erbebte.
Das Schiebfensterchen wurde geschlossen, das Licht gelöscht. Reinhard ging am Kirchhof vorbei heim in das Wirtshaus zum grünen Baum . . . .
Sensendengeln weckte ihn, als es schon lange Tag war.
Er mußte sich besinnen, wo er war. Was hatte sich alles in dem gestrigen Tag zusammengedrängt! Bald nahm er ein in grau Leinen gebundenes Skizzenbuch heraus, er blätterte darin flüchtig, er schien die Bilder nicht sehen zu wollen.
Das sei das letzte! sagte er vor sich hin und strich mit der Hand über ein leeres Blatt.
Und so ist die Künstlernatur und die Gewöhnung, das Leben im Bilde zu fassen. Reinhard zeichnete einen Mann, der, dem Beschauer abgewendet, vor einem Grabe steht und eine Blume in der Hand hält; so weit das Gesicht sich zeigte, war er selbst unverkennbar. Im Hintergrunde hinter einer Ecke von wilden Rosen sah ein Mädchenkopf lauschend hervor. Jetzt wurde noch mit schnellem Stift ein Flug Raben gezeichnet, der über dem Haupte des Mannes dahinschwebte. Nun noch ein letzter Blick, Datum und Stunde wird an den Rand geschrieben, das Buch fest verschnürt und beiseite gelegt. –
Aus Erlebnis, aus äußerer und innerer Wahrnehmung schafft die Künstlerphantasie ein Gebilde, das unverändert die Geisteszüge des Schöpfers trägt.
Anders wird es, wie er seine Seele auf ein lebendes Wesen wirken läßt, in welchem das Empfangene fort und fort waltet.
Reinhard hatte das Herz Lorles erweckt, es wachte nur in ihm.
Muß es ihn nun hinabziehen in den Tod?
Er hieß den Tod willkommen, wenn er nur rasch kommt. . . .