Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es regnete in Nordstetten, und es regnete droben auf der Hochebene beim Feldberg.
Ivo war voll Unruhe, bis er am Morgen den Knechten und Soldaten, den vielen Taglöhnern und Taglöhnerinnen Beschäftigung unter Dach und Fach angewiesen hatte. Als ihm dies endlich gelungen war, saß er wohlgemut mit der Tochter beim Gastfreunde.
Ein Regentag inmitten der heißen Erntezeit bringt nach Ueberwindung des Mißgefühls über die Störung ein freies Aufatmen und wohliges Zusammensein; ein Stück winterlich stillen Behagens ist in den Sommer versetzt. Ignazia erzählte, daß sie heute schon an den Schuster Hirtz geschrieben habe, und sie fügte hinzu: »Es gibt doch nichts Besseres, als einen rechten Menschen gern haben, und es ist eins, ob er auf dem Schusterschemel oder auf dem Präsidentenstuhl sitzt.« Ivo nahm hiervon Veranlassung, seine warme Verehrung für Abraham Lincoln auszusprechen; er suchte offenbar mit besonderem Nachdruck darzuthun, daß sein Vorurteil gegen Amerika doch nicht so stark sei, um nicht das einfach Edle zu erkennen.
Aloys erzählte von jenem Entsetzen, das alle Menschen erfaßt habe bei der Nachricht von der Ermordung Lincolns, und wie er in so gedrungen innigen Worten sprach, fühlte er den warmen Blick von Vater und Tochter, der auf ihm ruhte.
Ivo fragte nach einem Kameraden aus dem Konvikt, einem großen Volksredner, der in die Revolution verflochten und flüchtig geworden, eine Zeitlang hei Aloys gelebt hatte, bis er im Irrenhause starb.
»Hast du ihn gekannt?«
»Jawohl und an ihm hab' ich zuerst gesehen, was es heißt, Heimweh haben. Mein Vater hat's manchmal auch noch gehabt, aber er kann's bezwingen, und wie er eines Tages die Freiheit lobt, da sagt der traurige Mann: ›Was Freiheit! Wenn ich wieder heim dürfte, ich ließe mir meinetwegen einen Maulkorb anhängen‹ . . . Der arme Mann hat doch in der Fremde sterben müssen.«
Eine Zeitlang saßen die drei still. Endlich sagte Ivo: »Ignazia! Du hast ja dem Vetter Aloys die Geschichte von den Kindern von Erlenbruck erzählen wollen.« Ignazia nahm lebhaft auf:
»Ja, gern. Also vor sieben oder acht Jahren sind zwei junge Eheleute nach Amerika ausgewandert mit einem einzigen bald dreijährigen Kinde, einem Mädchen. Die Eltern des Vaters wohnen da drüben in Erlenbruck, nicht arm, nicht reich, sie bringen sich so durch und der Alte soll in jungen Jahren ein Wilderer gewesen sein, aber sonst ist er brav. Das Enkelchen, ein Mädchen, hatte große Liebe zum Großvater und beim Abschied sagt das Kind: ›Großvater, komm mit!‹ und der Großvater sagt: ›Mariele, bleib da!‹ Das ist dem Kind, wie es mir erzählt hat – es spricht deutsch mit englisch untermischt – im Gedächtnis verblieben. Nun sind die Eltern in Amerika weit nach Westen gezogen, ich weiß augenblicklich den Staat nicht mehr, und vier Jahre drauf, das Mädchen hatte ein Brüderchen bekommen, herrschte eine Epidemie, das Kind nennt es den gelben Tod, wahrscheinlich das gelbe Fieber, daran sind in wenigen Tagen die Eltern gestorben. Die Habe wurde verkauft, und das neunjährige Kind war entschlossen, mit dem Brüderchen zum Großvater heimzukehren. Es scheint, daß weiter keine deutschen Landsleute in der Umgegend waren. Als die Kinder beim Friedensrichter Abschied nahmen, sagte er weiter nicht viel, aber er hing jedem an einer Schnur ein Täfelchen um, darauf war geschrieben: ›Unsere Eltern sind tot. Wir reisen zu den Großeltern nach Deutschland.‹ Die Kinder haben die Täfelchen noch, und ich glaube, das war amerikanisch und gut, daß da keine Bitte beigeschrieben war. Wem diese Thatsache das Herz nicht rührt, bei dem hilft auch eine Bitte nicht.«
Ignazia hielt an, und Ivo sagte lachend: »Nicht wahr, Aloys, so ein Täfelchen wär' auch für dich geschickt gewesen, wenn darauf gestanden hätte: ›Ich bin der Jung Aloys Schorer aus Amerika und bleib so und so lang‹? Da hättest du nicht siebzigmal dasselbe zu sagen gehabt.«
»Jawohl,« entgegnete Aloys schelmisch, »aber so ein Täfelchen, das noch ein bißchen mehr sagt, wäre auch zu anderem gut.«
Ivo sah seine Tochter an, aber diese schlug die Augen nieder und sagte: »Ich will nur weiter erzählen. Gute Menschen halfen den Kindern bis New York, und dort und auf dem Schiffe und von Hamburg bis hierher waren überall gute Menschen, die den Kindern halfen, und sie sind der Trost und das Glück der alten Großeltern. Es ist doch herzerquickend, daß durch die ganze Welt eine Kette von guten Menschen ist. Ich hätte das Mädchen schon gern zu uns ins Haus genommen, aber es geht nicht vom Brüderchen weg. Herr Vetter« – Aloys schaute verwundert auf, sie nannte ihn Herr Vetter und nicht wie gestern nacht: Aloys. Ignazia fuhr ruhig fort:
»Wenn Sie über den Sonntag bleiben, dann lasse ich die Kinder hierher kommen, oder wir gehen miteinander nach Erlenbruck. Als der gute Nazi noch lebte, erzählte er mir, da ich klein war, oft das Märchen vom Brüderchen und Schwesterchen im Walde; ich meine die Geschichte dieser amerikanischen Geschwister wäre noch schöner.«
Aloys sagte, wie er sich darauf freue, diese Geschichte seinem Vater zu erzählen, und wie herrlich es wäre, wenn Ignazia ihm dieselbe erzählen könnte.
Hochrot war das Gesicht von Jung Aloys und auch die Jungfrau errötete schnell. Ivo dagegen sah vor sich nieder; er hatte das Gefühl, daß die beiden allein sein müßten; sein Herz zitterte: ist die Entscheidung über sein Kind gekommen? Er wollte sich entfernen, da hörte man Männerstimmen draußen und herein traten hintereinander drei Männer. Zuerst der Bezirksförster, eine hohe, feste Gestalt, mit etwas trotzigem, vollbärtigem Gesichte, er hieß Stahl und es lag nahe zu sagen, daß in seinem Wesen sich etwas stählern Festes zeigte; hinter ihm der Doktor, ein Mann rötlich blonden Haares, von breiter untersetzter Figur, rundlich und von hellem glattem Antlitze, in dem es flimmerte, denn er trug eine Brille, deren Gläser nicht eingefaßt waren; zuletzt kam der Besitzer der Holzpapierfabrik, ein Mann in den sogenannten besten Jahren, schwarzgekleidet, von fast geistlichem Behaben und Ansehen.
Aloys wurde vorgestellt und drei Hände thaten ihm weh; zuerst die Hand des Forstmeisters, die, breit und knochig, ihn gewaltig drückte, dann die Hand des Holzpapierers, die so kalt war, am wehesten aber that ihm die Hand des Doktors, denn diese wurde gar nicht gereicht; der Doktor putzte seine Brille, setzte sie wieder auf und betrachtete dann den Fremdling scharf.
»Kennen Sie die Geschichte der drei Regenbrüder?« fragte der Förster mit anmutender Kraftstimme; wenn man diese Stimme in vollem Dunkel gehört hätte, so hätte man wissen können, daß sie von einem kräftigen, in sich festen Manne käme.
»Nein.«
»Wohin die kommen, regnet's. Wir drei haben uns aber da getroffen, weil es regnet.« Man lachte und diese erste Ansprache schien Heiterkeit über die Ankömmlinge wie über die Bewohner des Hauses und den Gastfreund zu verbreiten.
Aloys wußte von der Schwester in Nordstetten, daß diese drei Bewerber um Ignazia waren. Besser drei als nur einer, dachte er in sich hinein und schaute mutig umher.
Ignazia war hinausgegangen, sie kam wieder mit einer Magd, die Fleisch und Brot trug, während sie selber Flaschen und Gläser brachte und nun einschenkte. Man stieß stumm an und wer weiß, was jeder dem andere innerlich wünschte, denn alle wußten, daß sie Nebenbuhler und Bewerber um Ignazia waren; vielleicht war Aloys noch der, dem man das Beste wünschte, denn wenn man abgewiesen war, so ist's vielleicht am genehmsten, kein Heimischer gewinnt Ignazia, und sie zieht in die weite Welt auf Nimmerwiedersehen. Sie betrachteten Aloys mit forschenden Blicken; der Bezirksförster spitzte den Mund und pfiff unhörbar. Von diesem Amerikaner ist nichts zu fürchten, er ist zu einfältig für solch ein Mädchen . . . Der Fabrikant rieb sich die allzeit kalten Hände, wie wenn er sich leibhaftig rüste, um mit Aloys, der ihm als Schlaukopf erschien, zu ringen und ihn zu Boden zu werfen; der Doktor sah vielleicht das einzig Richtige, er erkannte in Aloys eine Art von Treuherzigkeit und Geradheit, die just ein vielbedenkendes Mädchen wie Ignazia gewinnt.
Man sprach zunächst durcheinander über den Wegzug Ivos. Der Doktor und der Holzpapierer beklagten, daß der beste Bürger, der Stolz der Gegend, fortkommen würde. Der Bezirksförster allein verlautbarte sich nicht darüber, jeder hatte aber ein besonderes Wort für Ignazia; sie entgegnete jedem unbefangen und frei und setzte sich dann an ihre geräuschlose Nähmaschine am Fenster, des Turnieres gewärtig, das auch nicht lange auf sich warten ließ; denn wo Kampfbereite sind, wird auch das Friedlichste zum Gegenstand des Streites.
Der Bezirksförster sagte, daß er gekommen sei, um Ivo zum Begräbnis des Halbjöchlers abzuholen. Ivo entgegnete, daß er dem Mann einen Nachruf in die landwirtschaftlichen Blätter setzen wolle, und zu Aloys gewendet, berichtete er, daß der Verstorbene seine Zeit und Kraft daran gesetzt habe, um die Zwillingsjoche abzuschaffen, mit denen die Ochsen wohl leichter regiert, aber auch unsäglich geplagt werden. Der Doktor fügte hinzu, daß der physiologische Bau des Ochsen das freie Joch bedinge. Ivo erzählte, wie er vor Zeiten ein Gegner der Tierquälervereine gewesen, weil er in der Zeit der Knechtschaft das für Spielerei gehalten; er bereue das tief, denn zum Guten sei immer Zeit, und er betrachte es jetzt als eine Probe der Religion eines Menschen, wie er sich gegen die Tiere verhalte. Der Holzpapierer nickte sehr beifällig und führte nicht ohne Geschick den Gedanken weiter, daß wer die Tiere schone, nicht nur einen äußeren Wertgegenstand wahre, sondern auch seinen eigenen, inneren menschlichen Wert erhöhe.
Mit heftig zusammengezogenen Brauen fuhr der Bezirksförster dazwischen, daß man die Weichlichkeit, die ohnedies schon groß genug sei, nicht weiter ausdehnen solle.
»Sie kennen den Herrn Forstmeister nicht,« fiel Ignazia ein, zu Aloys gewendet, »glauben Sie mir, er ist weichherziger, als er bekennen mag. Wenn einem seiner Hunde was fehlt, ist er lauter Barmherzigkeit.«
»Es freut mich, wenn Fräulein Ignazia meine Gedanken kennt, die ich nicht ausspreche,« sagte der Forstmeister mit einer Grazie, die man ihm nicht zugetraut hätte, und doch errötete der starke Mann dabei wie ein schüchternes Mädchen.
Die Männer schauten einander an. Was ist das? Will die Umworbene, daß der Bezirksförster gerecht erkannt werde, oder ist ihr besonders daran gelegen, daß der Amerikaner von allen richtig denke? Für welchen von beiden liegt darin eine Entscheidung? Es kam zu keiner Gewißheit.
»Wie spannt man denn bei euch die Ochsen ein?« fragte Ivo den Aloys.
»Auch mit einem Doppeljoch, aber gar nicht am Kopf, sondern mit einer Art Kummet um die Brust, aus verschiebbarem Hickoryholz. Ich glaube nicht, daß wir das Halbjoch einführen können; wir spannen auf den Wagen, die wir uns selbst herrichten müssen, oft zwanzig, dreißig Ochsen ein und die muß ein einziger Mann lenken können. Wir haben nicht Menschen genug. Unsere Einspannung ist ungefähr so!«
Er zeichnete schnell mit Bleistift auf ein Papier und Ignazia sagte: »Lassen Sie mich auch sehen.« Während er das Blatt darreichte, sagte er:
»Mir fällt eben ein, daß wir von einem Tiere nie sagen, wie ich hier gehört habe: es ist krepiert oder verreckt, wir sagen he died, es ist gestorben, wie von einem Menschen.«
»Das ist schön und fein,« sagte Ignazia, »und Sie zeichnen ja ganz fertig.«
»Wir Amerikaner müssen von allem etwas können. Auch bin ich Zimmermann und Schreiner und muß ein bißchen zeichnen können.«
Der Holzpapierer rief spöttisch: »Da erfahren wir doch einmal aus dem Lande, wo König Dollar regiert, etwas Anmutiges.«
Aloys war's, wie wenn aus warmer Luft plötzlich ein eisiger Sturm ihm ins Gesicht bliese, da der Papierer sich in heftigen Ausfällen gegen Amerika erging.
Aloys sah auf Ivo, ob er als Hausherr nicht für ihn antworten wolle, aber nicht Ivo, sondern der Bezirksförster nahm das Wort und sagte, wie er es bewundre, daß Aloys die neckische Art des Holzpapierers erkenne und darum nicht antworte. Der Herr spreche im ernstesten Tone immer scherzhaft.
Verwundert blickten die Einheimischen einander an, da der Bezirksförster so sprach, denn der Papierer vermied jeden Scherz auf das gewissenhafteste. An der Nähmaschine Ignazias riß der Faden ab und sie suchte mit niedergebeugtem Antlitze denselben wiederzufinden. Der Bezirksförster aber fuhr fort, Aloys zu erklären, daß der Herr Papierer vielleicht den Herrn Ivo nicht verstanden habe; dieser arbeite gegen die Auswanderung, aber er achte mit ihm die Größe und Unabhängigkeit Amerikas und alle Einsichtigen erkennen vollkommen die Solidarität der Völker im Fortschritt zur Freiheit, für welche Amerika Unvergängliches geleistet habe und noch leisten werde. Er schloß mit den Worten: »Morgen ist der vierte Juli. Machen Sie mir die Freude, Sie bei mir zu begrüßen, und wir trinken eine Flasche zur Feier Ihres großen Nationalfestes.«
Noch nie hatte man den Bezirksförster so reden hören, und als eben Ivo beistimmend begann, kam ein Eilbote an den Doktor, er möge sofort nach Erlenbruck kommen, wo es gestern bei der Hochzeit zu Raufhändeln mit Messerstichen gekommen sei.
»Und da hörten wir in der linden Nacht Musik,« sagte Ignazia, und Ivo rief:
»Da haben wir's! Die Raufhändel mit Messerstichen haben entsetzlich überhand genommen. Der Krieg hat unser Volk verwildert, wie ihr Amerikaner noch unter den Folgen des Südkrieges steht. Wir haben einander nichts vorzuwerfen.«
Der Arzt forderte Aloys auf, sich auch ein Pferd zu satteln und mit ihm zu reiten; der Bezirksförster wollte, daß er mit ihm und Ivo gehe. Ignazia beugte sich auf ihren Tisch nieder, um das Lächeln zu verbergen, keiner wollte Aloys allein bei ihr lassen, sie sagte, als Aloys eben vorüber ging, leise und rasch: »Gehen Sie mit niemand, bleiben Sie hier.«