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Zehntes Kapitel. Alte und neue Gleise.

Singen die Lerchen nur in der deutschen Heimat so wonnig? Duftet nur hier das Heu so würzig und ist die Luft voll kühlenden Taues?

So fragte sich's in der Seele Reinhards, als er zwischen den Gartenhecken und durch die Wiesen dahinschritt.

Die Tiefe eines Elends vollkommen kennen, ist auch Befreiung. Reinhard kannte nun ganz, was er verwüstet und verloren; er wollte still tragen und seinem neuen Grundsatze treu bleiben.

Am Hügel blinkte eine Sense, Reinhard ahnte nicht, daß dort Malva war, die ihm so Schweres berichtet hatte und mit jedem Atemzuge an ihn und die Verstorbene gedachte.

Er schritt weiter, jeder Baum, jede Hecke sprach mit ihm, sie erzählten von vergangenen Tagen, sie schauten ihn an mit dem Blicke jenes Auges, das nun geschlossen war.

War es immer so, daß sich um diese Jahreszeit so die Sommerfaden ins Gesicht legen? Reinhard fuhr sich oft mit der Hand über das Gesicht und wischte sie ab.

Das ist doch der rechte Weg nach der Hohlmühle, den sind wir damals miteinander gegangen, und ihr Vater und der Kollaborator war dabei. Aber der Wald ist weiter zurückgewichen, da, wo er sich noch in die Thalsohle erstreckte, ist er in Wiese verwandelt und nur einzelne Tannen am Mühlbache zeigen, daß hier ehemals Wald gestanden.

»Ich bin so grau, ich bin so alt,
Sah den Berg sechsmal als Wiese und sechsmal als Wald«

Dieser Spruch eines alten Berggeistes tauchte in der Erinnerung Reinhards auf.

Ein neues Wehr braust dort an der Sägmühle, und ein Schienenstrang ist bis dahin gezogen.

Dort wo die schöne Ahorngruppe gestanden hatte, die Reinhard in verschiedenem Lichte und von verschiedenen Seiten aufgenommen und zum Hintergrund von manchen Bildern verwendet hatte, dort stand jetzt ein helles nach dem Muster des Bahnhofes gebautes Häuschen mit einem Gärtchen voll Gemüse und Blumen.

Eine stattliche junge Frau, die mit einem Kinde auf dem Arme am Zaune stand, grüßte und brach ihm eine volle Rose ab.

»Wer seid Ihr?«

»Eine Enkelin von des Lorles Bärbel, des Martins Tochter.«

»Ich dank' Euch. Auf Wiedersehen.«

Auf einem Baumstumpf an einer Lichtung des Waldes saß Reinhard und schaute in die Landschaft hinein; er sah die hellen Wiesen mit dem leuchtenden Grün und die tiefblauen Schatten der Schluchten und Waldeinschnitte. Das ist nicht das helle Licht Italiens mit seinem strahlenden Glanze, nicht die leichte wellenförmige Gebirgskette der Campagna, aber der Sommertag stufte die Uebergänge sanft ab, der Horizont war durchsichtig, die Ferne klar.

Wenn du noch malen würdest, du würdest den Landschaftscharakter der Heimat neu erfassen.

Weiter schritt er. Es stehen nur noch wenig alte Stämme, aber wie ist der Jungwald so frisch gediehen, ja die Natur ist stetig, aber wer weiß, wie viel Kämpfe auch der Pflanze beschieden sind, und wie auch eine der andern ihr Wachstum verkümmert, ihr Licht und Luft verschränkt, so daß sie verkommt.

Wie vor seinen eigenen Gedanken fliehend, beschleunigte Reinhard seine Schritte und schon von ferne rief er dem Alten, der mit einem kleinen Knaben im Schatten des Felsens vor der Mühle saß, laut entgegen:

»Grüß Gott, Hohlmüller!«

»Herr Reinhard! Herr Reinhard!« rief es ihm entgegen, »hab' schon gehört, daß Ihr kommen seid. Ist brav, daß Ihr mich gleich aufsuchet. Aber allein? Wo ist die Frau? Wo ist das Lorle? Ist sie noch krank? Freilich jetzt, der Schreck! Aber sie wird schon wieder gesund werden, sie hat das zähe Leben von ihrem Vater.«

Reinhard konnte nur stumm die Hände des Alten fassen, der nun sagte:

»Ihr sehet noch ganz aus wie vor Zeiten. Ja, Ihr seid weit in der Welt herumgekommen, und ich bin da wie die Felswand, hier am selben Fleck zu finden. Da laufen Wagen, auf denen steht Paris, Wien, Berlin, Zürich – die ganze Welt rennt da auf der Eisenbahn an mir vorüber und ich halte still. Der Nußbaum, wo Ihr Euren Namen eingeschnitten habt, der ist nimmer da; die Eisenbahn hat ihn weggenommen, aber der schön geschnitzte Schrank und der Tisch in Eurem Haus, den hat das Lorle aus dem Stamm machen lassen.

»Das ist mein Urenkelchen, das Lorle hat Gevatter bei ihm gestanden und er heißt wie Ihr, Woldemar. Woldemar! gib dem Herrn die Hand, das ist dein Gevatter und Großonkel. So, jetzt geh, ich hab' mit dem Herrn zu reden. Setzet Euch zu mir.«

Der Knabe ging, und Reinhard saß bei dem Alten.

Nachdem der Alte von seinen Leiden erzählt und wie die Doktoren alle nichts verstehen, fragte er Reinhard, ob er glaube, daß der Kaiser über den Papst Meister werde.

Reinhard schaute verwundert drein, wie weit die politische und kirchliche Bewegung gedrungen, aber er war der Antwort überhoben, denn der Hohlmüller fragte und wartete keine Antwort ab; er erklärte vielmehr, daß er die Aufhebung aller Klöster noch zu erleben hoffe, und daß dann auch seines Bruders Tochter wieder käme, die statt zu heiraten mit ihrem großen Besitztum ins Kloster gegangen sei.

»Ihr müsset Euch noch des verstorbenen Pfarrers erinnern, der schon damals immer dran gewesen ist, ein Kloster zu errichten. Er hat's richtig fertig gebracht. Der Wald da droben, dort von der Buche an bis zu dem Tobel, der gehört jetzt dem Kloster in Weyhern drüben,« sagte er mit geballter Faust hinweisend.

Er setzte hinzu, Lorle solle sich bald wieder gesund machen und Reinhard müsse schon zugeben, daß sie ihm wieder die Zeitung vorlese, sie lege alles so gut aus.

»Es ist freilich spät, daß der Herr Reinhard wiederkommen ist,« sagte er, »aber noch nicht zu spät. Daß er wieder zu seiner Frau kommen ist, ist brav und rechtschaffen, und daß er seine alten Tage bei uns bleibt, ist gescheit. Die Menschen sind gut. Wisset Ihr, worin sich das zeigt?«

»Was meint Ihr?«

»Wenn sie einen alten Mann nicht links liegen lassen. Es vergeht kein Tag, wo nicht eins zu mir kommt. Das ist's eben. Man muß mit denen alt sein, mit denen man jung gewesen ist.«

Reinhard sah verwirrt drein, da der Mann fortwährend so sprach, als ob Lorle noch lebte. Es legte sich wie ein Schleier vor seine Augen und ringsum war Nacht.


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