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Der volle Morgentau lag noch auf Wiese und Wald, von der Kapelle auf dem Berge läutete das helle Glöckchen, als Reinhard still und gedankenvoll dahin wanderte. Ueber alles Schwere hinüber hastete die Erinnerung, daß der Hohlmüller und Vroni so gut von Malva gesprochen und deren Versorgung ihm ans Herz gelegt. Meinte er nur, das früher gedacht zu haben, oder fiel's ihm erst ein, da er jetzt die helle Gestalt vom Kapellenberge herabkommen sah? Es war Malva. Sie stutzte, da sie ihn sah, hielt an und schritt dann rasch bergab. Reinhard sah die Gestalt in ihren frischen Formen und in ihren festen Bewegungen, sie hatte die alte Volkstracht nicht mehr, vielmehr ein eng anliegendes, einfaches blaues Kattunkleid, nur der Hut, den sie am Arme trug, war noch der aus der alten Zeit, und die mächtigen roten Zöpfe, die am Werktag den Rücken hinab hingen, waren zum Sonntag aufgesteckt und umkränzten die weiße Stirn.
Reinhard griff an die Brusttasche, als wollte er sein Skizzenbuch herausnehmen, aber er verwarf nicht nur die alte Künstlerneigung, sondern vielleicht noch etwas andres.
Malva kam näher und rief: »Guten Morgen, Herr Reinhard. Das ist ein echter Sonntag.«
»Und du siehst aus wie der leibhaftige Sonntag,« erwiderte er, »und jetzt eben wird mir's deutlich, dich versteh' ich jedes Wort, sonst bin ich nicht mehr an die hiesige Sprache gewöhnt. Ich verstehe meinen Schwager und den Bärbelmartin nur halb und den Hohlmüller noch viel weniger.«
Er sagte das, während sich sein Blick mit künstlerischem Wohlgefallen in diese Erscheinung versenkte; dieses reine Ebenmaß der Glieder, die bläulichen Schatten um Schläfe und Hals, diese schön geschwungenen, dichten dunkelroten Brauen über den hellbraunen Augen. »Du siehst aus wie der leibhaftige Sonntag,« wiederholte er.
»Der Sonntag, dem ich gleichen soll, ist aber rot angestrichen,« entgegnete Malva und lachte hell auf.
»Wenn ich noch malen würde, dich würde ich abmalen,« sagte er, indem er dachte, wie diese Gestalt sich in braunem Samt oder roter Seide ausnehmen würde.
»Wegen meiner roten Haare?«
»Just deswegen.«
Malva lachte; eine mutige, ja übermütige Seele lachte ihr aus den Augen und sie rief:
»Jetzt ist's gut. Ich hab' immer denken müssen, wenn nur der Herr Reinhard sich das Herz nicht zu schwer macht. Jetzt ist's aber gut. Ihr sehet so heiter aus und ich – das Lorle hat mir oft gesagt: du stammst aus der lustigen Armutei. Das Kleid, was ich da anhab', ist noch das letzte, was sie mir geschenkt hat, und sie hat's selber genäht.«
»Hast du auch die silberne Kapsel, die da an deinem Hals hängt, von ihr?«
»Nein, die ist von meinem Schatz.«
»So? Du hast einen Schatz?«
»Ja, aber schon wieder keinen mehr.«
»Wer war es denn?«
»Ein Kamerad von meinem Bruder, der hier Waldhüter geworden ist.«
»Ist noch jemand in der Kapsel?«
»Freilich.«
»Und da drin im Herzen auch?«
»Natürlich.«
»Wie heißt er?«
»Joseph.«
»Wo ist er?«
»Beim Lorle.« Sie that das Halsband ab, öffnete die Kapsel und zeigte eine kleine Photographie. »Das ist mein Bruder, der bei Champigny vor Paris gefallen ist. Sein Name steht mit goldenen Buchstaben auf der Tafel an der Kirch'. Nicht wahr, ein schöner Mensch? Und er ist noch braver gewesen als schön. Es war mein einziger rechter Bruder; einen Stiefbruder habe ich noch.«
Reinhard gab die Kapsel mit dem Bilde zurück; er fühlte wiederum, wie bis in die weitesten Kreise hinein der Kampf ums Vaterland gegriffen hatte, derweil er in der Fremde war.
»Darf ich mit dir gehen?«
»Warum nicht? Es wird mir eine große Ehre sein.«
»Woher kommst du schon so früh?«
»Aus der Frühmesse. Ich muß zur Kirche nachher daheim bleiben, der Vater geht und die Stiefmutter ist bettlägerig. Der Doktor sagt, sie steht nimmer auf, und sie ist gar wunderlich. Aber ich will Euch den schönen Sonntagmorgen nicht mit meinen Geschichten verderben. Darf ich den Herrn Reinhard an etwas mahnen?«
»Gewiß.«
»So besuchet jetzt meinen Vater, er sitzt im Garten bei den Bienen, es kränkt ihn, Ihr seid gestern zum Hohlmüller hinaus, ich hab' Euch auch gesehen von da drüben, wo ich Klee geholt habe. Mein Vater meint sonst, Euer Schwager, der Stephan, hab' Euch gegen ihn aufgestiftet, und der Vater ist am Sonntag immer besonders verdrießlich; er hat sich's verschworen, dem Stephan je ins Haus zu gehen, und das ist doch das einzige rechte Wirtshaus, und da weiß er nicht, wo er sich hinthun soll. Gehet voraus, ich will da heim Bäck Weißbrot mitnehmen.«
Sie ging behend davon. Reinhard schaute ihr noch nach und ging zu Wendelin. Er erinnerte ihn an die Zeit, wo er ihn als Hirtenknaben abgemalt hatte.
»Jetzt ist nichts mehr an mir abzumalen als ein Häuflein Elend,« klagte Wendelin. »Mein bestes Kind hat mir der Franzos totgeschossen.«
»Ist denn die Malva nicht auch brav?«
»Wohl! wohl! aber sie ist eben doch nur ein Mädle. Ja, wenn die ein Bub wäre, die könnte der Welt was aufzuraten geben; sie ist schneidig und scharf wie der Tag. Ein lindes Herz hat sie, das haben meine Kinder alle, sie haben's nicht gestohlen.«
»In drei Monaten will ich Euch was sagen,« erwiderte Reinhard; er dachte daran, daß er dem Gebote des Hohlmüllers gemäß erst später Wendelin mit einer Summe aufhelfen wolle.
»In drei Monaten!« wiederholte Wendelin und that die Pfeife aus dem Munde. »In drei Monaten kann man sich viel besinnen.« Es blitzte etwas auf in seinen verfallenen Zügen. Als Reinhard eben weggehen wollte, kam ein kräftiger junger Mann in der Uniform des Bahnwärters; es war unverkennbar der Bruder Wendelins.
»Mich kennt der Herr Reinhard natürlich nicht mehr,« sagte der Mann, »und er hat mich doch viel angesehen. Ja, ich bin das Kind gewesen, das Euer Lorle damals auf dem Schoß gehabt hat. Es hat mir gottlob nichts geschadet, ich hab' ja nicht gewußt, was man mit mir thut. Sie heißen mich im Dorf das Christkindle. Der Pfarrer hat's verboten, sie sagen's aber doch,« schloß der starke Mann lachend.
Reinhard ließ sich berichten: der Mann war Bahnwärter und wohnte in jenem Häuschen am Wege zum Hohlmüller; jetzt am Sonntag konnte er zwischen dem Güterzug thalauf und dem Personenzug thalab in die Kirche gehen und den älteren Bruder abholen. Der Mann hatte bereits zwei Kinder, seine Frau war eine Tochter Martins, eine Enkelin der Bärbel.
Reinhard ging bald davon, er wollte nach dem Walde, dort, wo der Kollaborator damals am Sonntag bei seinem sogenannten Waldheiligtum geruht hatte.