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Dem Fremden, der nach Morsum auf Sylt kommt, fällt zunächst die Bedeutungslosigkeit dieses im Wasser schwimmenden Scheibchens Erde gegenüber der unendlichen Weite des Himmels auf. Danach, daß man hier kaum von einer hohen Himmelswölbung, einer Himmelskuppel sprechen kann. Sondern an den meisten Tagen des Jahres liegen schwere Wolken tief und flach auf den dunklen Rohrdächern der niedrigen Insulanerhäuser.
So sah diese Landschaft auch jener Fremde, der in den ersten herben Vorfrühlingstagen des Jahres 1922 die breite Dorfstraße von der Kirche zum Pfarrhaus hinaufschritt, sah, wie auch das Pfarrhaus selbst mit seinen sturmzerzausten Sträuchern sich unterm grauen Himmel duckte, während der alte Birnbaum, der östlich neben ihm sich aufreckte, in der Höhe des Dachfirstes schnurgerade abgenagt erschien. »Mag hier viel Wind geben«, dachte der Fremde, indem er den schmalen Gartenpfad entlang auf die offenstehende Haustür zuschritt.
Im Flur trat ihm eine starkknochige Frau entgegen in einer farb- und formlosen Gewandung, die er unter andern Umständen für einen Malerkittel gehalten haben würde. Da er sich über ihre Eigenschaft als Familienangehörige oder Angestellte des pfarrherrlichen Haushaltes nicht sogleich klar zu werden vermochte, wählte er eine unpersönliche Anrede:
»Ist Herr Pastor Bun zu sprechen?«
»Mein Vater muß schon auf dem Heimwege sein; wenn Sie einen Augenblick warten wollen?« meinte die Frau und setzte dann trocken hinzu: »Übrigens heißt er nicht Bun, sondern Eschels.«
Sie ging zur Gartenpforte und schaute, die Augen mit der Hand beschattend, angestrengt nach Osten aus.
»Ich werde ihn nicht lange aufhalten«, sagte der Gast, der ihr langsamer folgte, »möchte nur die Bestätigung einer Unterschrift von ihm erbitten. Ich war schon beim Gemeindevorsteher; der war verreist. Dort wies man mich an Herrn Pastor – Bun.«
Das starkknochige Weib schnob verächtlich durch die Nase. »So war's nicht. Man sagte: Gehen Sie nur zu Peter Bleik Bun, der ist jetzt unser Pastor.«
Der Gast mußte lachen. »Genau so!«
Sie verzog keine Miene. »Was wollen Sie überhaupt in Morsum? Ein Badegast in dieser Jahreszeit –?«
»Ich komme als Vorläufer des Dammbaus, Fräulein Bun.«
»Eschels«, verbesserte sie wiederum. »Wenn Sie zum Dammbau gehören, werden Sie noch öfter mit den Syltern zu tun bekommen. Wenn Sie noch öfter mit den Syltern verkehren müssen, können Sie nicht früh genug über ihre Eigentümlichkeiten aufgeklärt werden. Der Sylter hat drei Namen. Man muß unterscheiden lernen zwischen dem, wie er sich selbst nennt, wie er im Dorf genannt wird und wie er standesamtlich heißt. Mein Vater heißt Peter Boy Eschels. Das Dorf nennt ihn aber Peter Bleik Bun nach seinem Oheim Bleik Bunje, der ihn studieren ließ – dort kommt er übrigens.«
Von einem flüchtigen Sonnenstrahl berührt, tauchte in geringer Entfernung aus dem grauen Bodendunst ein Mann auf, den der Fremde eher für einen Morsumer Bauern als für einen studierten Pastor gehalten hätte: kurz war der Mann, derb, breitschultrig, in hohen Stiefeln und gelber Leinenjacke, einen Rechen über der Schulter, die kleine Pfeife schief im Munde.
»Baumeister Bremer vom Dammbau?« fragte Pastor Eschels, als der Fremde auch ihm sein Begehren kundgetan und sich dabei in aller Form vorgestellt hatte. »Fein! Bringe uns ein Glas Rüdesheimer vor die Tür, Gondel, wir wollen den Damm begießen.«
An der Südwand des Hauses war vom kalten Nordwind nichts zu spüren, und die Wolken schoben sich jetzt auseinander, so daß die Sonne den Platz schnell wärmen würde. Trotzdem zögerte die Tochter.
»Wollt ihr nicht lieber hereinkommen?«
»Ah wat«, gab der Vater derb zurück und lehnte den Rechen an die Hauswand. »Laß die Morsumesen doch denken, was sie wollen.«
»Wir können auch wohl ohne Wein einen Augenblick in der Sonne sitzen«, meinte Baumeister Bremer lächelnd, »wenn es Ihre Gemeinde stört –«
»Es ist nicht der Wein, der sie stört«, entgegnete die Tochter spöttisch, »sondern daß Sie als Vertreter des Dammbaus hier mit meinem Vater auf einer Bank sitzen. Denn der Damm ist ein Werk des Teufels, mein Vater hingegen Gottes Stellvertreter in Morsum.«
Ihr Gesicht blieb dabei unbeweglich, so wußte der Baumeister nicht, ob er lachen durfte oder ihre Worte ernst nehmen sollte.
»Ein Werk des Teufels?« wiederholte er fragend.
»Des Satans!« bekräftigte der Alte gemütlich und zog seinen Gast auf die behagliche Gartenbank. »Nun erzählen Sie mir, was Sie drüben auf dem Festland schon schafften. Hannes-Hannes habe ich schon kennengelernt, als er hier mit seinen Vermessungsapparaten herumlief. Ich stellte mich dumm. Photographieren Sie? fragte ich. Da wurde er zugänglich. – Uff, diese alten Knochen! Aber was soll man machen? Der letzte Winter hat uns viel Tang aufs Vorland geschwemmt, und daß ich ihn durch einen Arbeitsmann wegharken ließe, wirft mein Gehalt in diesen Zeiten nicht mehr ab.«
Dem Baumeister war unterdes ein Lichtlein aufgegangen, daß er unter Hannes-Hannes wohl seinen Techniker Scholz verstehen mußte, der mit Vornamen Hans hieß und freilich ein wenig stotterte. So bequemte er sich dem Dorfgebrauch – um so lieber, als der Wein, den die Tochter des Hauses den Herren nun bot, ihn durch seine Güte angenehm überraschte.
»Ja, ja, man hat noch so seine Quellen«, schmunzelte der Pastor, da er das Erstaunen seines Gastes bemerkte, und dann fragte er ihn aus mit einer Sachkenntnis, die Baumeister Bremer nicht weniger in Verwunderung setzte als der köstliche Tropfen Wein, der ihm auf der Zunge zerging.
»Also die Bahnstrecke Niebüll-Klanxbüll ist fertiggestellt –«
»Weiß ich, weiß ich, mein werter Herr Baumeister. Habe neulich dort die Kohlenberge am Lagerplatz bewundert. Wenn Kohle nicht gerade solch ungeeigneter Artikel fürs Stehlen wäre, hätte ich meiner Tochter ein Köfferchen voll mitgebracht. Prost, Gondel! Aber sagen Sie mir: wollen Sie wirklich den Damm nur auf eingespülten Buschwänden aufbauen?«
Der Baumeister sah ihn verwundert an. Woher diese Frage?
»In der Zuidersee –« begann er, doch wieder unterbrach ihn der Pastor:
»Ich weiß, ich weiß, aber unser Watt ist nicht die Zuidersee.«
»Halten Sie dies Watt für gefährlicher?« fragte Baumeister Bremer, und seiner Frage war eine starke Dosis Spott beigemischt.
»Ich kenne die Zuidersee nicht«, antwortete Pastor Eschels, »aber man sagt mir, daß sie dort mergeligen Ton haben. Auch die Strömungen werden dort anders liegen – doch Sie haben recht –«, und ein herzliches Lächeln ging über seine verwitterten Züge: »Was man nicht weiß, soll man besser Schweigen. Sie werden meinem Interesse an Ihrem Werk noch manch dumme Frage zugute halten müssen, wenn Sie – wie ich hoffe! – bei späterem längerem Aufenthalt auf der Insel mein Haus als Ihre Zufluchtsstätte ansehen lernen.«