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77

Als Peter Boy Eschels von dieser Reise wieder heimgekehrt war, sagte er zu seiner Tochter:

»Der Bischof war noch krank; er war verärgert, erregt, gereizt, er war mir kein guter Richter. Am Anfang sagte er: ›Sollte es wirklich zum Ärgsten kommen müssen‹, würde ich später noch Gelegenheit zur Verteidigung erhalten. Zum Schluß: ›Sie werden Gelegenheit erhalten‹ – er beabsichtigt also, mir den Prozeß zu machen. So will ich ihm zuvorkommen, indem ich meinen Abschied einreiche. Ich stelle ihm damit gewissermaßen die Vertrauensfrage –«

Gondelina antwortete nicht. Elisabeth hatte ganz recht empfunden: sie war nicht mehr zuversichtlich!

Peter Boy Eschels reichte seinen Abschied ein. Danach ging er nicht mehr ins Dorf, ohne daß er besonders gerufen wäre; ging nicht mehr auf den Damm, in die Arbeiterbaracken oder den Lesesaal; und auch nicht einmal mehr zur »Hohen Heide« hinauf, um mit den Herren vom Bau gemütlich zu sein. Er saß zu Hause, kramte in seinen Büchern, ordnete seine Schriften. Als Rasmus Claasen kam, zu hören, was an den im Dorf umlaufenden Gerüchten Wahres wäre, holte er ein altes, zerlesenes Bändchen hervor.

»Dies fiel mir neulich in die Hände. Der alte Christian Jappen war doch nicht nur ein guter Schulmeister, sondern auch ein trefflicher Wahrsager –, und las: »Was nun speziell das ältere Geschlecht der Sylter anbetrifft, so war es ähnlich seiner abbröckelnden Heimat, seit langem schon zum Untergange reif. War gleichsam versteinert in alten, zum Teil rohen Sitten. War versumpft in Ansichten und Grundsätzen des Aberglaubens. Versank immer mehr in Dummheit, endlich Trägheit. Wäre mithin ohne Zweifel dem moralischen Verderben, dem geistigen Tod verfallen, wenn nicht der Weltlenker den Kindern dieses Geschlechtes andere Wege gewiesen, sie in den großen Krieg geschickt und ihnen den Damm nach dem Festland gebaut hätte.«

Rasmus Claasen nahm das Buch auf, das Pastor Eschels lachend auf den Tisch geworfen. »Ah so – es handelt sich hier um die Hörnumer vor hundert Jahren und darum, daß der Sand sie von Hörnum trieb und sie sich in Rantum und Westerland ansiedeln mußten. Den Krieg und den Dammbau hast du hinzugedichtet. So freilich ist leicht prophezeien! Du bist jetzt bitter feind auf uns zu sprechen, Pastor-Ohm, weshalb aber willst du uns das Alte auch nicht lassen? Es hatte auch sein Gutes!«

»Das hatte es«, erwiderte der Oheim ernstlich, »und du hast recht, ich sollte nicht bitter werden. Nimm Platz, Erasmus, ich muß noch einmal in Ruhe mit dir reden – wer weiß, ob es sonst noch dazu kommt. Du sollst nicht den Eindruck zurückbehalten, als hätte ich das Alte je mißachtet. Ich habe nicht umsonst in deinem Elternhause verkehrt diese dreizehn Jahre hindurch! Und doch hat Christian Jappen recht: wer dem Neuen widersteht aus keinem andern Grunde, als weil es eben das Alte nicht mehr ist, der verfällt dem Schicksal der alten Hörnumer, versteinert, versumpft; versinkt in Dummheit, endlich in Trägheit.«

»Und doch will mir nicht zusagen, das Neue wahllos hinzunehmen.«

»Wahllos? Wer spricht davon? Ich nicht! Annehmen sollst du das Neue, weil es das Kommende ist und nicht mehr aufzuhalten. Dann aber es selbst in beide Hände fassen und es formen nach deinem Verstande. Bisher war deine Mutter es, die in eurem Hause Altes und Neues zu harmonischem Einklang zu bringen wußte. Die neue Zeit aber, die kommen wird, da der Damm nun steht, die wird zu schnell für sie sein. Um die zu meistern, dazu ist sie schon zu müde.«

»Und wenn es so wäre – so würde ich sie doch zu sehr achten, als sie das merken zu lassen –«

»– und würdest damit schwer Unrecht tun gegen deine Kinder! Bedenke das wohl: deine Kinder müssen später in der andern Welt leben, davor kannst du sie nun und nimmermehr behüten. Sie wachsen in eine ganz neue Freiheit hinein. Eine Freiheit, die leicht zur Zuchtlosigkeit werden kann. Je freier der Mensch ist, desto fester muß er sich selbst binden, soll er nicht entgleisen. Das aber lehrst du sie nicht, indem du sie deinerseits zu binden versuchst. Wo der Punkt liegt, der nicht überschritten werden darf, das kann jeder nur aus dem eigenen Gewissen beantworten.«

Rasmus Claasen schob unmutig seinen Stuhl zurück und ging im Zimmer auf und ab.

»Ich habe nicht genug Phantasie, mir die Zeit und die neue Freiheit vorzustellen, in die meine Kinder hineinwachsen sollen«, sagte er nach einer guten Weile.

»Du hast aber den Verstand dazu, dir eine Kenntnis von beidem zu erwerben. Ich kann dir Bücher schicken. Nun der Damm vollendet ist, wird es kaum wieder Winterarbeit für dich geben. Dann hast du stille Zeit. Die nutze. Geik ist nicht in dem Maße fähig wie du, Verantwortung zu tragen. Er hat nicht deinen Verstand, und hat auch nicht deine Stetigkeit. Er hätte zur See gehen sollen, und wenn du Einfluß über ihn gewinnen kannst, so sorge dafür, daß er seinen Ältesten hernach zur See schickt. Auf dir ruht, was aus euren Familien in Zukunft werden soll. Du mußt das Zünglein an der Waage sein, und die beiden Schalen, auf denen Altes und Neues, Vergangenheit und Zukunft liegen, im rechten Gleichgewicht zu halten suchen. Daß du aufrecht stehst, daran hängt alles.«

Rasmus Claasen kam langsam an den Tisch zurück und nahm seinen vorigen Platz wieder ein.

»Ich möchte dir widersprechen und kann es nicht«, sagte er mit Überwindung, »ich erkenne wohl, daß du recht hast. So geht es mir oft mit dir. Doch wenn ich dann sehen muß, wie du dich mit den Arbeitern verbrüderst und sogar einer Paula Borre das Wort redest, dann wird mir die neue Welt, von der du sprichst, verdächtig.«

Dieser Angriff kam Peter Boy Eschels unerwartet.

»Es ist meines Amtes –« begann er, doch dann unterbrach er sich selbst: »Nein, auch persönlich stehe ich zu ihnen. Gewiß ist der Arbeiter oft hemmungslos dem Neuen gegenüber, und läßt sich treiben, wie Abrumeit meint, weil ihm die lebendige Tradition fehlt, die alte Kultur, die deine Mutter euch bewahrt hat. Es gibt aber dennoch manche auch unter den Arbeitern, die wohl sich selbst zu binden fähig sind. Und Paula Borre? Sie ist nicht schlecht, sie ist schwach. Und die Schwiegermutter hat dem Kinde ein schweres Unrecht angetan, als sie Paula verbot, es selbst zu nähren. Trotzdem – sie sind einmal da, und wir sollten sie zu fördern versuchen, ehe wir etwas von ihnen zu fordern uns berechtigt fühlen dürften. Ich sage dies aus Gerechtigkeit, nicht aus eigenem Gefühl zu ihnen, denn auch ich bin Morsumer und kann solche dumpfen Stellen im Dorfleben nicht ohne Abneigung sehen. Ja, es ist schwer, zu lösen, ohne doch aufzulösen!«

Er nahm seine kurze Pfeife vom Bort und schob auch dem Neffen den Tabakskasten zu, und sie rauchten eine Weile schweigend, ehe sie Paula Borre und ihren Sohn Peter III. ganz verdaut hatten. Dann sagte Rasmus Claasen fragend:

»Ist noch nicht ganz sicher, daß dir der Abschied gegeben wird?«

»Wird doch wohl kommen.«

»Und dann? Engeline Claasens Bruder will sein Haus in Keitum verkaufen.«

»Was sollte ich wohl damit?«

»Hm – wenn die neue Zeit nun kommt – du könntest manchem von uns noch einen Rat geben –«

Peter Boy Eschels qualmte mächtig.

»Ich werde dir etwas sagen, Erasmus: läßt die Behörde mich fallen, so zerstört mir das jedes Zutrauen der Arbeiter und der Besten unter euch.«

»Die Arbeiter werden bald abziehen und wir könnten einen Führer wohl brauchen.«

»Meistere dein eigenes Leben. Wenn andere das sehen, werden sie dich zum Führer berufen. Ich hätte mehr Erfahrung? Erlebe sie, so erwirbst du sie dir selbst. Dir ist besser, du bleibst niemand verhaftet als deinem eigenen Gewissen. Das ist klar und gesund. Das wird dir sagen, wie du recht handeln sollst vor deinen Eltern, vor deinen Kindern. Mehr kann ich dir niemals sagen, denn ich bin kein Bauer mehr, das fühle ich täglich hier als Mangel. Ich bin halb, ich will das eine und will auch das andere. Sei du, was du bist, ganz und ungeteilt. Lebe der Gegenwart, so stehst du aufrecht zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wenn du den Augenblick recht erfaßt, so dienst du der Ewigkeit. Wer die Fähigkeit hat, Verantwortung zu tragen, hat auch die Pflicht, sie freiwillig auf sich zu nehmen.«

»Ich sehe nicht, was ich tun könnte –«

»Du brauchst nichts zu tun. Es wird von selbst auf dich zukommen«, unterbrach ihn der Alte. »Der Damm steht, Erasmus!« – und sein Herz brannte: »Der Damm steht, ohne daß du daran schuldig geworden wärest! Ich aber bin es, und soweit ich es bin, werde ich auch darum büßen müssen. Doch wünsche ich wohl, daß du einst rechtfertigen mögest, daß ich die neue Zeit rief!«


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