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Heinrich Bremer war allein. Gedankenlos blickte er den abziehenden Arbeitern nach, und das halbe Hundert stämmiger Männer schien ihm im treibenden Sturm nicht anders, denn ein Wirbel welker Blätter; ehe sie den leeren Lorenzug noch erreicht hatten, waren sie ihm schon außer Sicht gekommen, so tief hingen die Wolken.
»Kriegsende!« dachte Heinrich Bremer. Es war jetzt, in diesem Augenblick, der Wind nicht einmal so sehr stark, aber die Luft so schwer, daß er sich auf einen vorstehenden Balken setzte, weil er glaubte, die Last nicht mehr tragen zu können. Doch dann kam von Westen her ein heulender Ton übers Wasser, der ihm einen Schauer durch sein krankes Herz jagte, und ihn wieder auftrieb. Er durfte hier nicht bleiben. Ihm wäre nicht leid gewesen, wenn die Wellen ihn mitnähmen, aber er war doch nicht der Mann dazu, wissentlich Selbstmord zu begehen – und Selbstmord wäre, wenn er hier noch länger säumte.
Nun wieder Stille – doppelt beängstigend, so daß er sich unwillkürlich nach menschlicher Nähe umschaute. Aber er war allein, und nichts verband ihn mehr mit seinen Mitmenschen als dieser Damm, sein Werk, das sich nun gegen einen anstürmenden Feind bewähren sollte.
Da er sich umsah, bemerkte er, daß der westliche Horizont sich gelb färbte. Was bedeutete dies? In Westerland mußte jetzt doch schon beinah Hochwasser sein. Hellte der Himmel sich dort auf? Würde die schlimmste Gefahr damit schon vorübergezogen sein? Doch wieder kam der heulende Ton, der ihn so erschreckte. Der klang nicht, als käme die Flut im Westen schon zum Stehen. Er raffte sich auf und schritt so schnell aus, wie er es auf dem unsicheren Boden vermochte. Nach zehn Minuten etwa sah er sich wieder um. Da hatte die gelbe Färbung des Himmels schon das Watt erreicht, wie kochende Erbsensuppe sah das Osterley aus; dahinter war es unsichtiger noch als vordem. Dies war nicht aufklärender Himmel, dies war Hagel – Hagel im August? Bedeutete das nicht wieder, daß die Luft elektrisch geladen war?
Nun schlug der Hagel auf ihn herab. Nicht gefährlich, denn die gelbe Wolke zog nördlicher an ihm vorbei. Aber es prasselte auf der Wasserfläche ringsum, als würde mit Maschinengewehren geschossen. Danach, als die Wolke abgezogen war, stürzte sich der Sturm mit Gewalt auf ihn, wie ein Raubvogel auf eine wehrlose Beute. Er stemmte den Schlickstock mit dem breiten Korkstück am untern Ende fest gegen den weichen Boden, und indem er es tat, dachte er mit Schrecken: »Dies alles ist ja viel zu weich, ist weichlich, wie Deutschland in seinen vierzig Friedensjahren geworden war – wie soll dieser Damm dem Sturm widerstehen?« Freilich bildeten die Buschdämme im Innern ein zähes Geflecht, und was an der Außenseite abgespült würde, das konnten der Bagger Loki und sein treuer Spüler wohl bald wieder ersetzen. Wie aber, wenn nicht nur die Außenseite abgespült werden würde? Wenn das Geflecht selbst riß? Wie war es denn mit Deutschland? Hielt das zähe Geflecht im Innersten zusammen? »Oder sind, darauf wir stehen, nur noch nutzlose Trümmerreste?« Heinrich Bremer fragte es laut, er war wie im Fieber –
Denn dies war nun wirklich Sturm, der hinter der gelben Hagelwolke gesessen – jetzt verstand er auch, weshalb die Sylter noch nicht einmal dies Wort auf die Luftbewegungen des letzten Winters und des heurigen gewitterreichen Sommers angewandt hatten! Als der graue Riese, der ihm im Nacken saß, ihm eine Atempause gönnte, blieb er noch einmal stehen und blickte sich scheu um. Der Regen flutete jetzt hernieder, doch der Sturm trug ihn waagrecht übers Watt, und was Bremers Gesicht traf, schmeckte ihm salzig, wie die Brandung am Westerländer Strande. Heulend hatte der Sturm sein Lied begonnen. Pfeifend blies er den Wassern zum Tanz, und sie folgten ihm, wie das Ungeziefer einst dem Rattenfänger von Hameln. Die Wellen tanzten züngelnd um die noch so flache Kuppe des Dammes, bald würden sie darüber hinausgreifen – Bremer schritt schneller wieder aus, er hatte nicht die Absicht, sich von der Flut mitnehmen zu lassen. Immer weicher wurde der Boden unter ihm, als söge er selbst schon Wasser. Doch der Sturm war hinter ihm drein, schob und trieb ihn – er brauchte nur gegenan zu halten.
Als er schon über dem festen Vorland war, fühlte er, daß er vom Deich her beobachtet wurde. So blieb er noch einmal stehen, bückte sich, prüfte mit dem Stock die Festigkeit der Dammsohle nach Süden zu, dann die der weniger gefährdeten Nordseite, wo die Wasserfläche immer noch ruhig blieb, nur schnell und gleichmäßig steigend.
In der Ecke, da sein Damm auf den Festlandsdeich stieß, fand er ein Dutzend Arbeiter, die hier unter Windschutz sich zusammengeballt hatten und in das Wetter hinausschauten. Es waren einige von der Wiedingharde, ein paar Sylter und der lange Zimmermann aus Husum, der Quartalssäufer, der aber heute so nüchtern war, wie nur einer von ihnen. Bremer sprang zu ihnen hinunter.
»Ist das Motorboot auch weit genug aufs Vorland gezogen?« fragte er, nur um etwas zu sagen, und ein paar der Männer trabten ab, danach zu sehen. Er schickte einen Jungen zum Kantinenwirt, daß er ihm ein paar Butterbrote holte.
»Fehlt noch eine gute Stunde bis Hochwasser, Herr Baumeister«, stotterte Max Milian Meiners gutmütig, »Sie können noch in Ruhe Mittag essen, ehe das Schlimmste kommt.«
»Kein guter Trost, Meiners, daß Sie noch Schlimmeres erwarten. Kann doch auch manchmal das Bessere eintreffen, nämlich, daß die Flut vor Hochwasser schon zum Stehen kommt.«
Niemand antwortete. Es war klar, daß keiner unter diesen Männern das heute mehr hoffte. Heinrich Bremer aß seine Butterbrote und wartete. Alle warteten, und er schickte sie auch nicht an ihre Arbeit.
Der lange Husumer schien Augen zu haben, die durch die Regenwand hindurchsehen konnten.
»Der Loki treibt«, sagte er nach einer Weile, und jeder wußte, daß auch die Spüler und Schuten zu treiben begännen, wenn des großen Baggers vierfache Anker nicht mehr standhielten in dem weichen Wattenboden.
»Jetzt macht er Dampf auf« – und auch Bremer wußte, daß der lange Zimmermann damit den Schlepper meinte, der sich hinter den Damm verkrochen hatte, und nun doch wieder ausfuhr, den Loki vielleicht noch nach Munkmarsch zu bringen.
Längst lag der Damm unter Wasser, aber die blanke Linie, die seinen Verlauf anzeigte, war immer noch klar und ungebrochen. Wenn das Wasser nun zum Stehen käme und danach wieder abzöge –
Doch es kam nicht zum Stehen. Bremer hielt seine Uhr in der Hand, äußerlich ruhig, innerlich krank vom Warten. Die Stunde des Hochwasserstandes kam und ging vorüber – das Wasser stieg dennoch weiter, stieg den Festlandsdeich empor, trieb die Männer einen Schritt um den andern hinauf. Die blanke Linie des Dammes wurde undeutlicher.
Und dann kam, worauf sie, ohne es selbst zu wissen, alle gewartet hatten: stand weit im Süden mitten aus der unruhigen Wasserfläche eine graue Wand auf, eine wälzende Woge, und gleichzeitig sprang der Wind, der bisher aus Westen gekommen, nun auf Südwest zurück und stürzte mit der springenden Flut zugleich sich auf Damm und Deich. Ein Donnern, Krachen, Brausen füllte die Luft – nicht aber ebbte die Welle dann wieder zurück, sondern blieb auf gleicher Höhe, jede folgende überrannte sie noch, sprühte auf gegen die Kuppe des hohen Deiches, brandete rückflutend auf die nächste – ein schäumender Wirbel entstand, wie Heinrich Bremer ihn bisher nur am Westerländer Strande gesehen, eine Brandung der ganzen Länge des Deiches entlang, die seine Kuppe in Gischt hüllte.
Die Leute griffen nach Stangen und Bootshaken, und Bremer griff auch zu, denn es begann zu treiben, was dem Deich gefährlich werden konnte: Balken und Pfähle, die von der Flut gestoßen, dem Deich Wunden verursachen konnten; losgerissene Boote, die geborgen werden mußten; Strandkörbe, vielleicht von Föhr; ein Baum mit grüner Krone und dicken Ballen von Erde im Wurzelwerk; totes Vieh; Schollen von Rasenland, Tang, Algen und Seegras – ganze Inseln von Heu – zerrissene Netze –
Stunde um Stunde arbeiteten sie so, ohne daß doch die Höhe des Wasserstandes oder die Stärke des Sturmes irgend nachgelassen hätten –
»Denn dies ist doch Sturm?« schrie Heinrich Bremer seinem Nebenmann zu.
»Windstärke zehn«, antwortete der trocken.
Rasmus Claasen, der etwas vor und unter ihnen stand, wandte sich um.
»Die Böen elf«, sagte er mit schmalen Lippen. Ihm gehörte tiefliegendes Land im Südosten der Morsumer Marsch. Da gingen im Sommer seine Kühe. Da war auch sein Vater ertrunken, als er – zu spät – sein Vieh retten wollte. Ob die Frauen es heute wohl früh genug heimgeholt hatten?
Die Dämmerung machte die Arbeit schwierig. Die Dunkelheit würde sie bald unmöglich machen – da schrie der Husumer Zimmermann laut brüllend auf, daß die andern es durch das Donnern des Sturmes hindurch hörten – deutete mit langen Armen in die Dunkelheit hinaus – wo ein schwarzer Körper sich formlos vom südlichen Westhimmel abriß.
Ein Schiff –? ein Wrack –? Bis der Zimmermann selbst als erster die Lösung fand:
»Eine dachlose Wohnschute vom Husumer Wasserbauamt!«
Sie stiegen fast bis an die Brust ins Wasser hinab, als sie nun der Schute entgegengingen, um sie mit Stangen und Haken abzufangen. Bremer, der auf der Deichkuppe stehengeblieben war, weil er sich zu diesem schwierigen Unternehmen nicht sicher genug fühlte, sah, daß auch die Wände der Schute eingedrückt waren und daß sich oben in dem Gebälk noch ein dunkler Klumpen Menschen eingehängt hatte. Und er ging den Männern nach, bis sie weiter nördlich die Schute am Deich verankern konnten. Als er sie wieder erreichte, hörte er die laute und muntere Stimme des Hans Schmidt aus Morsum:
»All vier noch am Leben –« und als Antwort darauf eine matte Frage:
»Nur vier? Wir waren sechs.«
Plötzlich aber sah er, wie das Wasser fiel – fiel ruckweise unter seinen Füßen die Dammböschung hinab, und während er noch an eine Täuschung seiner müden Sinne glauben wollte, hob unter ihm ein Wiedingharder das Gesicht gegen Nordost, und da war etwas wie Furcht in den harten Zügen des Mannes:
»Deichbruch!« und Bremer fühlte, was der Wiedingharder nicht aussprach: »Geb's Gott, nicht bei uns daheim!« Las die Worte aus dem Blick, der gegen Nordost durch die Dunkelheit hindurch den eigenen Hof zu erspähen trachtete.