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Wie Heinrich Bremer hiernach heim und in sein Bett gekommen war, wußte er anderntags nicht mehr. Er schlief in dieser Nacht, wie damals als H. Riebeck in dem kleinen Hotel. Er wachte aus diesem Schlaf auf – wußte wieder, wer er war – wußte wieder, was geschehen – in seinem Kopf hämmerte wieder die Angst vor dem Wahnsinn.
»Nicht denken und grübeln jetzt, nur handeln!«
Als er aus seiner Baracke heraustrat, um zur Kantine hinüberzugehen, war die Luft still und lau. Durch einen bläßlich blauen Himmel strahlte eine matte Sonne. Eine Lerche mit versetzten Frühlingsgefühlen trillerte hoch über ihm. Wo aber war die Kantine? Er stand und starrte auf das Bild vor ihm, das nur zu deutlich die Spuren des gestrigen Sturmes zeigte. Die Frau des Wirtes trat ihm entgegen – war er gesprächig, war sie geschwätzig. »Findet sich schon alles wieder, Herr Baumeister, und bei dem schönen Wetter können Sie wohl auch in freier Luft frühstücken, gelle? Ja, das war ein Angehen, als uns das Dach davonne flog und der Regen mir in die Kochtöpfe schlug – gut, daß Mittag vorbei war! Nach dem ersten Schrecken konnten wir wohl wieder lachen, und geschlafen haben wir drüben im Kohlenschuppen bei unserm Holz – nur der arme Miersch! Ob der je wieder lachen wird?«
Miersch war einer der Techniker.
»Was ist mit ihm?« fragte Bremer schwerfällig.
Die Frau schlug die Hände zusammen: »Das wissen Sie nicht? Dort hinten schlug unser Dach zu Boden und gerade auf den Miersch und hat ihm die Schädeldecke aufgerissen, und der Scholz und Kunje Bossen haben ihn doch in der Nacht noch im Auto nach Flensburg gebracht –«
»Halt den Herrn Baumeister nicht auf, Frau«, tönte die Stimme ihres Mannes aus irgendeinem Trümmerhaufen hervor.
»Gewiß weiß er, hat doch selbst Herrn Scholz mit ihm weggeschickt –« und kroch, ein teilweiser Schornsteinfeger, unter Balken heraus. »Jee, Herr Baumeister, retten konnte ich mein Dach nicht mehr –«
Er lachte und die Frau lachte auch, aber Heinrich Bremer fühlte wieder das Grauen vor dem Versagen seines Gedächtnisses und wandte sich ab.
»Wo kann ich Kaffee trinken?« und saß bald an seinem gewohnten Frühstücksplatz in der Kantine, nur daß er kein Dach überm Kopf hatte und die Mädchen ihm das Geschirr einfach durch die eingedrückte Küchenwand hinausreichten. Während er noch dasaß, kam Rasmus Claasen:
»Nun haben wir das Flachboot klar.«
Bremer sah ihn erstaunt an.
»Was soll damit?«
»Weil das Motorboot doch abgetrieben ist und der Maschinenmeister den Arm gebrochen hat –«, sagte Claasen unsicher.
»Gut, gut, ich komme!«
»Vor einer knappen halben Stunde wird noch kaum genug Wasser sein, Herr Baumeister, wir haben es ans Dammende gebracht –«
Heinrich Bremer winkte ihm, zu gehen, und blieb dann allein in dem dachlosen und teilweise auch wandlosen Raum, der ihn doch immerhin vor neugierigen Blicken schützte. Er stützte den schmerzenden Kopf in die Hand und suchte sich über die Vorgänge des gestrigen Spätabends klarzuwerden, aber das Letzte, darauf er sich besinnen konnte, war die Bergung der vier Mann aus der angetriebenen Wohnschute. Einen Augenblick lang schlief er wieder, dann schreckte er auf in dem Gefühl, daß Rasmus Claasen ihn erwartete. »Am Dammende«, hatte der gesagt. So stand der Damm also noch?
Aber als Heinrich Bremer sich nun aufraffte, den Lagerplatz, der nur mehr ein Trümmerfeld war, überquerte, und dann den Deich erstieg, von dessen Kuppe er das Watt überschauen konnte, fand er nicht den Mut, auch nur den Kopf zu heben. Über das feste Vorland lief der Kleidamm und dann noch etwa hundert Meter weit ins Watt hinaus. Danach?
Er stieg über Balken und Pfähle, geriet in Seetang und Wiesenheu, das, von der salzigen Flut geschwärzt, hier in dicken Ballen umherlag. Er ging den Kleidamm entlang, auf dem das kleine Gleis der Lorenbahn noch lag, aber verschoben und verbogen, zum Teil in der Luft schwebend, weil die Erde darunter weggespült war; teilweise geknickt und zusammengesackt, ohne daß Bremer doch erkennen konnte, ob es in der Dammsohle noch einen Halt fände.
Am Ende dieses Kleidamms lag das Sylter Flachboot, in dem die beiden Claasen und Meiners ihn erwarteten. Er grüßte sie freundlich, stieg zu ihnen ein und schaute gleich ihnen schweigsam auf die graue Schlickfläche hinaus, durchsetzt und überrieselt schon von unzähligen silbernen Wasserschlangen, die schnell näherkrochen. Das Boot lag in einer dunkleren Ader, die sich eher füllte als ihre Umgebung. Als es sich dann allmählich hob, stakten die Männer los, zunächst den Windungen der Wasserader folgend etwas nach Süden hinaus – nun einer andern folgend wieder zum Damm zurück.
Niemand sprach. Kein Geräusch ringsum als das gleichmäßig leise Rieseln und Rinnen der steigenden Flut und das taktmäßige Ansetzen und wieder Einziehen der stakenden Stangen. Bald trug die Dünung das Boot über die eben noch trockenen Stellen des Watts – nun konnten sie schon ohne Rücksicht auf die Wasseradern oder Prielen geradeaus gen Westen fahren, an den Erhöhungen entlang, die kennzeichneten, was gestern Heinrich Bremers Damm gewesen.
Die Männer wandten ihm, stakend, den Rücken. Er ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich, kühl prüfend die Strecke zu überblicken. Soweit der Kleidamm über das feste Vorland noch lief, war der untere Teil der Böschung gepflastert, und hier hatte er nicht mehr gelitten als jeder neue und noch weiche Deich bei einer solchen Flut naturgemäß leiden mußte. Darüber hinaus aber hatten die härter aufschlagenden Wellen den Belag aus Grassoden abgerissen, hatten sich in den nackten Dammkörper eingewühlt – soweit er aus trocken gefördertem Klei bestand, hatte er dennoch zusammengehalten –
Danach aber kamen die Buschdämme und Faschinen, die nur mit dem durch den Loki gewonnenen Baggergut eingespült waren, und dies Gemisch von gespültem Klei und feinstem Sande war von den strömenden Fluten einfach wieder mitgenommen worden. Streckenweise hielt das Geflecht noch in sich, hielt auch noch Inseln von Baggergut zusammen – als Ganzes genommen war der Damm vernichtet. Was aber noch vorhanden war, das hatte treibenden Auswurf der See aufgefangen: Wracktrümmer, Buhnenpfähle, zerschlagene Boote, Seegras, Algen, Wiesenheu – alles aber durchsetzt und verfilzt von den Buschwänden, die nicht standgehalten, sondern von der Flut des gestrigen Nachmittages ausgegraben waren. Kurz vorm Osterley lag der kleine Eimerbagger, der nun in der Föhr-Dagebüller Fahrtrinne beschäftigt gewesen, mitten im Spülfeld. Als das Sylter Boot vorüberstakte, hob sich eine Luke, ein Gesicht schaute heraus und verschwand wieder.
Im Osterley selbst sah es am wüstesten aus: in dem schlechten Ankergrund hatten die Anker der sämtlichen Geräte nicht gehalten; Trossen und Ketten waren gerissen. Spüler, Bagger, Dampfer, Spül- und Transportschuten waren nach Norden abgetrieben und hatten, treibend, die starken Dukdalben und Spülgerüste zerknickt, die Rohrleitungen durchbrochen. Die Spülleitungen waren in ihrer ganzen Länge, über einen Kilometer weit, vernichtet. Die Rohre zum größten Teil ganz weggespült.
An dem Trümmerfeld auf dem Lagerplatz hinterm Deich hatte Heinrich Bremer die Gewalt des gestrigen Sturmes ermessen können; hier an der Liegestelle der schwimmenden Güter gewann er den Blick für die Kraft erregter Wasserfluten. »Wer nicht beten kann, soll zur See gehen« – wer hatte das doch gestern noch zu ihm gesagt?
Barthels Kuhfenne, die Sandbank hinterm Osterley, aber zeigte sich heute wieder als eine gleichmäßig graue Wasserfläche, eine tanzende und hüpfende graue Fläche, aus der vereinzelt kleine und eine größere Insel herausragten. Ohne zu fragen, hielten die Leute auf diese größere Insel zu. Die große Ramme hatte sich hier kopfüber in den Damm eingebohrt, hatte ihn erhalten, indem sie mancherlei Treibgut auffing und um sich sammelte. Ein halbes Rohrdach hatte als aufrechte Wand gegen Süden den Ansturm der Wellen gehemmt, das Abfließen des leichten Spülgemischs verhindert.
»Solche Wand hätten wir vor dem ganzen Damm haben müssen«, brummte Geik Claasen. Es war das erste Wort, das fiel, und auch hierauf antworteten die andern Sylter nicht. Heinrich Bremer empfand, daß es aus Rücksicht auf ihn geschah, und so sagte er selbst:
»Da haben Sie recht, Claasen, und wenn wir Proviant mitgenommen hätten, würde ich gern über Hochwasser hier bleiben, um die Wirkung der Flut an dieser Wand zu beobachten.«
Es hatten aber die Brüder Claasen Brot und Kaffee mitgenommen und zeigten sich bereit, Meiners und den Baumeister daran teilnehmen zu lassen. So machten sie an der Insel fest, und nachdem sie gegessen, stieg Bremer aus, um, auf der großen Ramme stehend, über die senkrechte Wand hinweg das weitere Steigen der Flut zu beobachten. Die Sylter streckten sich inzwischen im Boot aus. Sie waren wohl eines Steinwurfs Weite von ihm entfernt, aber die Stille hier draußen so, daß Bremer jedes Wort verstehen konnte, als Gleik Claasen, ehe er einschlief, noch lachend zu Meiners sagte:
»Hast du nun immer noch Mut zu diesem Werk?«
Vielleicht dachte er, Bremer würde seinen Spott nicht hören. Vielleicht aber auch war ihm das Subordinationsgefühl, das dem Sylter überhaupt nur als dünne Haut über dem natürlichen Menschen lag, beim Anblick des verwüsteten Dammes gänzlich geschwunden – Meiners antwortete nicht, aber Heinrich Bremer verstand nun plötzlich, in welcher Art Meiners »Mut zu dem Werk« gehabt hatte. Und er fühlte doppelt die eigene Enttäuschung.
»Schlagt den Kerl doch einfach tot!« dachte er bitter; »untüchtig, untauglich hat er sich erwiesen – weshalb lebe ich noch?« Aber er stand und starrte auf die schnell und erregend steigende Wasserfläche und machte sich Notizen und blieb, bis endlich die Flut zum Stehen kam.