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38

Daß Gondelina nach List fuhr, um dort zu malen, wurde im Dorf mit Wohlwollen besprochen. Andreas Dirks aus Tinnum hatte auch gemalt und hatte ein anständiges Stück Geld damit verdient und war doch ein ordentlicher Sylter geblieben, was man auch schon an seiner Sprache hören konnte. So gut sprach Gondelina nicht; man merkte doch, daß sie als Kind deutsch gesprochen hatte. Aber sie hatte ja auch keine Sylter Mutter gehabt, das arme Ding, was konnte man da viel verlangen!

So also fuhr Gondelina nach List, und Morsum gab seinen Segen dazu. Leider aber reichte dieser Segen nicht aus, ihr in List ein Unterkommen zu verschaffen. Es war da eine geologisch-geographische Gesellschaft, die Wanderdünen studierte, die nahm alle zu vermietenden Zimmer von List in Anspruch. Da aber Gondelina die gleichen Absichten verfolgte, wollte sie nicht nach Kampen zurückgehen. Und blieb also in Klappholttal hängen, obgleich – nun, in manchen Dingen war sie doch auch Morsumerin, und Klappholttal gehörte den Freideutschen, war eine ausgesprochene Fremdenkolonie; Gondelina hätte lieber in einem Stall geschlafen, als in solcher Baracke unterm schwarzen Pappdach.

Sie blieb also doch in Klappholttal, trotzdem sie nicht einmal eine eigene Kammer mehr bekommen konnte, sondern mit einer Mimi aus München und einer Mitzi aus Wien zusammen schlafen mußte. Aber die Lister Dünen hatten es ihr doch wieder angetan, kaum, daß sie sie nur von der Bahn aus gesehen hatte. Herrgott, waren diese weißen Berge schön, wenn die Sonne darauf briet, und wenn die Wolkenschatten darüber hinflogen, und wenn Sturm und Regen sie in graue Wirbel hüllten! Denn es war ein unruhiger und kalter Juni. Am schönsten aber, wenn an seltenen Tagen eine warme Sonne über ihnen gestanden hatte und nun blaue Schatten gegen Abend aus den dunklen Tälern wuchsen – denn diese Täler voll Heidekraut und Beeren, die waren das Allerschönste.

Gondelina hatte ihr Malzeug mitgebracht, aber zunächst konnte sie sich nicht entschließen, auch nur einen Pinsel oder Bleistift in die Hand zu nehmen. Dies war alles so anders als die Morsumer Heide und das Watt in seiner Schwermut. Dort waren tiefe, erdhafte Farben; hier alles wie durchleuchtet von Sonne und Licht, auch das Grau der Schlechtwettertage. Es erinnerte sie daran, wie sie zuerst auch in Paris und seiner Umgebung nicht hatte malen können, weil die lichte Klarheit der Luft ihr, wie sie fürchtete, unlösbare Rätsel aufgab. Damals hatte sie sich nach den erdhaften Farben des deutschen Heimatwinkels zurückgesehnt – bis endlich an einem der wenigen dunklen Tage des Pariser Herbstes ihr eine Verbindung zwischen Erde und Licht gedämmert war.

So war es auch hier ein trüber Tag, grau, warm und still, der ihr den ersten Ansatz gab. Sie war mürrisch gewesen, unzufrieden mit sich und mit ihrem Vater, der ihr brieflich mitgeteilt hatte, daß die Haushälterin zum Quartalsersten gekündigt hätte, weil er ein paar Arbeiter für etliche Tage aufgenommen hatte. »Sie kamen – Gott mag wissen, woher? Zerlumpt und halb verhungert. Sie hatten Papiere vom Provinzialarbeitsamt. Aber in Klanxbüll waren alle Listen geschlossen. Nun wollten sie es bei Bremer versuchen. ›Wenn wir ihn sehr bitten –‹ Nein, sagte ich, das ist falsch. Kommt zu mir. Flickt euch zurecht. Eßt euch drei Tage lang satt. Dann geht zum Baumeister und bittet nicht, sondern macht ihm klar, daß er solche Kerle, wie ihr seid, nicht noch einmal auf der Landstraße findet, jetzt, mitten im Sommer, wo anständige Arbeiter längst nicht mehr freihändig herumlaufen. Und sie blieben. Und Bremer hat sie auch genommen, alle drei. Aber Frau Matthis hat gekündigt, denn wie konnte ich ihr versprechen, so etwas nie wieder zu tun?«

Zuerst hatte Gondelina lachen müssen, denn dieser Brief malte ihr die Situation deutlich genug und zeigte ihr den Vater in all seiner liebenswerten Unbesonnenheit. Dann aber war ihr eingefallen, daß sie deshalb also am Quartalsersten nach Morsum heimkehren müßte. Freilich waren noch gut drei Wochen bis dahin – aber wenn sie doch nicht malen konnte? Es war zum Verzagen, und darüber war sie mürrisch geworden, unzufrieden mit ihrem Vater, aber auch mit sich selbst. So lag sie gegen Abend in den Dünen, in ihren alten Lodenumhang gewickelt, nur um nicht bei Mimi und Mitzi sitzen zu müssen oder sonst bei den Klappholttalern. Da war ganz, ganz fern unten am Horizont plötzlich die graue Wand aufgerissen, nur einen Augenblick lang, dann wehte ein Regenschauer über sie hin. Aber in diesem Augenblick war es über sie gekommen: das kann heut' noch etwas geben! Wie ein plötzlicher Fieberanfall hatte es sie gepackt, daß sie aufsprang und heimlief, zur Baracke, die zufällig still und leer war. Sie hatte ihren Malkram zusammengesucht, in einer starken Konzentration, die sie nichts vergessen ließ, und war wieder hinausgelaufen. Sie keuchte, als sie die Düne wieder erklomm, auf der sie vorhin gelegen hatte, aber auch hier war sie glücklich allein – der Himmel riß auf – sie konnte wieder malen –

Nach diesem Abend hatte sie eine schlaflose Nacht. Bild um Bild rollte an ihr vorüber, die sie in diesen Tagen schon gesehen hatte, ohne doch selbst zu wissen, daß und was sie sah. Unruhig drehte sie sich hin und her auf ihrem engen Lager, auf dem Strohsack, der hier in Klappholttal obligatorisch statt der Federbetten war, schlief einen kurzen, wirrbunten Traumschlaf, und war schon wieder draußen, als eben der erste Lerchenton erklang. Das harte Dünengras war noch grau von Nässe, und unten auf dem breiten Wattwege standen noch Pfützen vom gestrigen Regen. Ihre Schuhe waren bald durchnäßt, sie schauerte in dem kalten Winde, der dem Tag voranlief. Aber dann saß sie südlich unter der Vogelkoje und malte die rötlich durchleuchtete Morgendämmerung der flachen Wattwiesen unter dem hohen Himmel – bis ein plötzliches Aufflammen der Röte das Kommen der Sonne und eines bösen Schlechtwettertages kündete.

Sie malte, sie zeichnete – sie wußte kaum noch von sich selbst und nichts mehr von ihrer Umgebung. Wo sie ging und stand, sah sie, was ihr wie ein Geschenk war, sah Farben und Formen – sah plötzlich auch, wie schön die nackten spielenden Kinder am Strande sich mit Sonne und Meer einten. Wenn es nur regnete, zeichnete sie. Goß es aber vom Himmel, so saß sie im Tanzsaal und beobachtete die nackten Füße, denn es war verboten, den Saal in Schuhen zu betreten, um die gewachsten Dielen zu schonen. Einmal zeichnete sie auch Mimi und Mitzi, die nackt vor ihr tanzten, aber daraus wurde nicht viel.

»Wir Sylterinnen haben mehr Haltung«, sagte sie unzufrieden. »Wir tragen immer noch eine unsichtbare Krone, die alte ›Hüf‹ unserer verlorenen Tracht. Ihr seid mir zu spielerig, ihr seid wie die Pariser Modelle, die immer posierten.«

»Halte dich nur an die Landschaft«, sagten die jungen Dinger. »Die Insel selbst ist schöner als alle Menschen sein können. Wir – wenn wir nur hier bleiben könnten, aber unser Geld geht schnell zu Ende.«

Da fragte Gondelina, ob sie als Haustöchter zu ihr nach Morsum kommen wollten?

»Dies ist ein wahrhaftiges Märchenglück!« sagten sie.

Je weiter der Juni vorschritt, desto voller wurde das freideutsche Lager, und endlich wurde auch Gondelina aufgesagt, denn ihr Bett war schon lange voraus fest bestellt gewesen. Der Leiter von Klappholttal regte sie an, doch nach Puans Klent auf der Hörnumer Halbinsel überzusiedeln. Vorher aber bat er sie, noch eine Ausstellung ihrer Arbeiten im Tanzsaal zu machen. Sie folgte seinem Begehr, ganz unbefangen, so selten sie sonst Skizzen und flüchtige Studien zeigen mochte. Aber diese Menschen hier in Klappholttal waren die gleichen, zwischen denen sie während ihrer Studienjahre in München und Paris gelebt hatte. Die würden sie verstehen. Und sie verstanden sie. Was mehr war: sie verstanden auch List, die Dünen, den Strand des Meeres und vom Watt. Sie kannten jeden Fleck, sie kannten jede farbige Wandlung des Lichtes, die hier in der hellen Landschaft möglich war. Sie sagten nicht viel dazu. Sie gingen rundum und schauten. Ein junger Naturforscher brachte ihr ein paar Vogelzeichnungen, die er gefertigt hatte, lachte vergnügt und meinte:

»Die sind besser als Ihre Enten aus der Vogelkoje!« Und sie mußte ihm recht geben.

Und ein anderer in einer zerschlissenen Leinenjacke, der ihr als Hausknecht oft die Schuhe geputzt hatte, stand vor der kleinen Skizze von Mimi und Mitzi und sagte:

»Hatten Sie in Paris Anatomie-Unterricht in der École des Beaux Arts

Und als sie bejahte, trat ein feiner älterer Herr zu ihnen, den sie mehrfach vor Tage an der Pumpe getroffen, aber nie, wenn der große Schwarm derer, die sich hier waschen wollten, anrückte. Der sagte: »Ihre Kinderakte sind besser. Sie haben viel von Girandot und Collin gelernt, hätten aber sich mehr an Courtois halten sollen; gehen Sie jetzt einmal wieder dorthin? Nach Hörnum wollen Sie morgen? So wünsche ich Ihnen einen Gewittertag auf Hörnum Odde!« –

Aber auf Hörnum verflog Gondelinas Arbeitsfieber. Puans Klent war ihr nicht Klappholttal, der Charakter der Dünen sehr anders, und zu neuerlichem Einarbeiten fühlte sich Gondelina nach den vierzehn Schaffenstagen zu müde. Dazu kam, was der Badegast »schönes Wetter« nennt; eine blanke Sonne, die abends ihre Strahlen ablegte, um nackt ins Meer zu steigen; ein ordentlich aufgeräumter Himmel; eine plätscherige See und ein leichter unverbindlicher Festlandswind aus Osten. Da machte sie noch einige Wanderungen, ging nach Hörnum Odde, wo sie noch nie gewesen war – sah aber nichts als eine langweilige helle Fläche ohne jede Gliederung. Und freute sich endlich mehr an einigen eleganten und wirklich besonders reizvollen jungen Frauen in Westerland, als sie am letzten Tage vor der Heimkehr hier noch einmal über die Terrasse ging, um das bunte Badeleben zu genießen.


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