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In den folgenden Wochen tobten sich die Stürme dann ziemlich aus, und im November wurde es kälter, aber gleichmäßig tristes Wetter ohne unangenehme Überraschungen, so daß man wohl erwarten konnte, nun in einen mäßigen Winter einzutreten. Der Sylter konnte sich wieder dem eigenen Leben zuwenden und tat es auch. Pastor Eschels aber freute sich des Sieges, den Bremer errungen, doch zu sehr, um einfach nur den gewohnten Jahreslauf wieder aufzunehmen. Er plante eine herrliche Adventsfeier in der Lesehalle, da zum Weihnachtsfest selbst die meisten Arbeiter auf Urlaub fahren würden. Elisabeth sagte ihm auf seine Bitte ein kleines Schattenspiel zu. Die Mimi und die Mitzi wollten Lieder zur Laute singen. Als diese Pläne bekannt wurden, wünschten die Arbeiter in der Wohnschute am Vortrieb ebenso gut behandelt zu werden, und wahrhaftig zog Pastor Eschels mit seinen »vier Töchtern«, wie er sagte, am Sonntag vorher schon dort hinaus. Es war heller Mondschein, so konnte der Weg wohl gewagt werden, aber die Dammkuppe war noch nicht wieder ausgeflickt seit dem Sturm, Bretter und Eisenstücke lagen umher, hier gab's Löcher, da vorspringende Pfähle – es war eine mühsame Kletterei, und als sie spät nachts zurückgingen, empfanden alle es als dankenswert, daß einige Arbeiter sie freiwillig mit Laternen geleiteten. Die Leute opferten ihre Nachtruhe darum, die sie wahrlich nötig hatten, aber sie taten es gern, denn der Abend war ein voller Erfolg gewesen.
Und der folgende Sonntag in der Lesehalle wurde es noch mehr. Die Arbeiter selbst hatten die Halle schon tags vorher mit Tannengrün und Papierblumen geschmückt, so daß Eschels nach dem Konfirmandenunterricht die Kinder dorthin führte und sie mit süßer »Brause« bewirtete. Harmlos fröhlich wie er selbst in solchen Dingen war, hatte er nicht vorausgesehen, daß Morsum hieran Ärgernis nehmen könnte. Aber das Dorf ging fast in Flammen auf –
Dies war der letzte Advent. Am Dienstag gaben die Herren vom Bau droben in der »Hohen Heide« ihren Technikern, Bauführern, Schachtmeistern, Maschinenmeistern ein kleines Vorweihnachtsfest. Auch Eschels mit Anhang waren gebeten. Elisabeth Eickemeyer erregte Aufsehen, da sie zum erstenmal mitkam. Sie reichte auch dem Werkführer Steinhof die Hand.
»Herr Baumeister Bremer hat mich darüber aufgeklärt, daß Sie in keiner Weise für das Unglück meines Bruders verantwortlich zu machen sind. Ich werde auch meine Eltern davon unterrichten. Mein Bruder war hier nicht an seinem rechten Platz.«
Diese öffentliche Rechtfertigung beglückte Steinhof so, daß er sich nicht schlecht die Nase begoß. Und er war nicht der einzige, der also tat. Es wurde ein heiterer Abend. Es wurde spät – es wurde sehr spät, ehe alle Teilnehmer des kleinen Festes sich durch die dunkle Heide wieder heimgefunden hatten.
An den folgenden Abenden aber kamen die Urlauber dann wieder ins Pfarrhaus, um sich noch einmal – noch zweimal – gründlich – und gründlicher zu verabschieden. Es wurde immer später, ehe, die sich so zusammenfanden, wieder auseinandergefunden hatten.
Am Morgen des Heiligabend wachte Pastor Eschels davon auf, daß sich das Vieh im Stall unruhig regte. Er begriff sogleich, daß die Mimi und die Mitzi die Zeit verschlafen hatten. Stand geduldig selbst auf, die Kuh zu melken und den Stall für die Feiertage zu säubern. Weckte danach erst die Hausgenossen und machte sich dann bereit, die Mimi über den Damm zu geleiten, denn auch sie hatte Heimaturlaub, und den Dampfer von Munkmarsch konnte sie nun nicht mehr erreichen. Als er mit ihr über den Materialplatz zum Damm hinunterging, lief er Bremer in die Arme, der ärgerlich wurde, da Eschels ihn bat, mit der Mimi den nächsten Arbeiterzug benutzen zu dürfen.
»Sie wissen, daß die Gleise noch nicht wieder fest liegen. Täglich kommen Unfälle vor. Sie selbst sind schon mehrfach wieder gefahren? Man sollte es Ihnen verbieten wie jedem andern, der nicht zum Bau gehört!«
Ging und ließ die beiden stehen, ohne seine Erlaubnis zu geben. Eschels sah ein, daß Bremer die Verantwortung für die Mimi nicht übernehmen wollte. Er war gerecht genug anzuerkennen, daß der Baumeister diese Verantwortung auch nicht übernehmen konnte. Wenn Eschels als »Dammbaupastor« auf den Damm hinausfuhr und dabei verunglückte, geschah es im Amt. Kam die Mimi zu Schaden, würde jeder fragen, was sie überhaupt auf dem Damm zu suchen hatte. So ging er zu Fuß mit ihr hinüber. Das war weniger gefährlich, aber anstrengender. Allein aber mochte er sie nicht durch die Arbeiterkolonnen schicken, auch wäre Bahrenfeld imstande, ihr einfach den Zutritt zu seinem Gebiet zu weigern. Der Damm war nicht als Spazierweg für jedermann gedacht.
Eschels ging mit ihr zu Fuß hinüber. Als er drüben ankam, schmerzten ihn seine alten Knochen, und ohne Bahrenfeld erst noch um Genehmigung zu bitten, fuhr er mit dem nächsten Materialzuge zurück. Der Zug ging nur eben übers Osterley hinweg. Dann mußte er wieder über Schienen, Bretter und loses Gerümpel klettern, bis er hinterm Holländer Loch eine Maschine fand, die ihn bis zur Nösseschlucht mitnahm.
Zu Hause wartete Lehrer Abrumeit schon mit Ungeduld auf ihn, um die ausführliche Liturgie der Christvesper mit ihm durchzusprechen.
Als Eschels einige Stunden später auf die Kanzel trat, schwankte er vor Müdigkeit, und seine Ansprache zeugte nicht von seinen Geistesgaben.
Im Dämmern war Gondelina zur Kirche gegangen. Als sie wieder heraustrat, lag schwarze Dunkelheit über der Insel. Das war ihr lieb. Sie fühlte voraus, was kommen mußte. Und sie hatte sich nicht getäuscht. Frau Lene Volquart Claasen sprach sie an und ihr Atem ging heiß trotz der Nebelkälte.
»Sage Peter, sage deinem Vater, daß wir keinen Pastor haben wollen, der die ganze Woche hindurch mit den Fremden juchheit und uns am Heiligabend so betrunken auf die Kanzel kommt, daß er nicht mehr weiß, was er redet!«