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Am Sonntag fuhr Heinrich Bremer in seinem kleinen Motorboot allein nach Barthels Kuhfenne hinüber. Er wollte einmal allein dort sein, ohne die Arbeiter, ohne den ganzen Betrieb um sich zu haben. Er wollte objektiv über sein Werk urteilen – und wählte doch unbewußt den verlogensten Tag, den die Nordsee ihm nur bieten konnte. Alles Gewittergewölk hatte sich unter den Horizont geduckt. Freundlich strahlte die Sonne vom lichtblauen Himmel, den nur wenige weiße Wolkenschiffe belebten. Still lag das Meer. Kaum ein Windhauch kräuselte seine blanke Oberfläche, und nur die ewig lebendige Dünung von Ebbe und Flut brachte etwas Bewegung darein, hob und senkte den glatten Spiegel. So still war die Luft, daß von der Kantine am Klanxbüller Lagerplatz deutlich die Schläge des großen Gong herüberschallten, der zum Mittag rief; es war eine Achse mit zwei Eisenbahnrädern, die der Wirt dort aufgehängt hatte, und die, mit dem Hammer kräftig geschlagen, einen weithin dröhnenden Klang gaben. So still war die Luft, daß der Rauch der Bagger und Saugschuten, deren Maschinen auch sonntags in Gang gehalten wurden, wie eine dunkle Wolke auf dem Watt lag, die nur langsam – langsam gegen Norden abzog. Dabei war die Sonne wohl warm, doch nicht lästig heiß, und eine kühle Frische stieg vom Wasser auf. Und zu alledem kam, daß die Kurse drei Tage lang sich fast auf dem gleichen Standpunkt behauptet hatten, und daß Bremer gestern abend zum erstenmal ein paar seiner Arbeiter, die aus Süddeutschland stammten, beim abendlichen Heimweg hatte singen hören – und daß die Norddeutschen dazu schwiegen und dies Geräusch nicht ungern mitzunehmen schienen.
Dies alles ergab, daß Heinrich Bremer diesen Sonntag als einen wahren Festtag empfand, wie eine Lösung von atemraubender Hetzjagd, und daß sein Werk sich ihm auch im Feiertagsgewande darstellte. Merkwürdig hoch war der Wasserstand auch heute noch. Vor drei Wochen hatte diese Sandbank, genannt Barthels Kuhfenne, bei Niedrigwasser oft weithin trocken aus dem Watt geragt, und der Damm darauf hatte wie auf festem Lande gelegen. Heute quatschte es unter jedem von Bremers Schritten, als er sein Boot festgemacht hatte und nun vom Damm aus auf den Wattenboden hinunterstieg. Aber der Damm selbst ließ sich hier doch stattlich an. Die Sohle war in fünfzig Meter Breite angelegt, und die eingespülte Baggermasse lag gut und fest, nach Norden zu freilich besser als nach Süden, wo die abziehende Ebbe doch immer wieder viel mitnahm; auch waren hier die Buschdämme wieder auseinandergedrückt, verschoben sich – wenn die Kurse nur stetiger bleiben würden, konnte er vielleicht in dieser Woche wieder öfter selbst ins Watt hinauskommen, um den Arbeitern auf die Finger zu sehen.
Doch dieser Sonntag blieb der letzte stille Tag. Am Montag wurde bekannt, daß die deutschen Vorschläge zur Regelung der Reparationszahlungen wieder abgelehnt waren. Deutschland mußte wieder Gold, mußte Devisen kaufen, mußte seine Mark verschleudern, der Dollar sprang auf 1 650 000, am Dienstag auf 3 300 000 – und Dienstag abend war eine gewitterige Schwüle in der Luft nicht mehr zu verkennen. Der Mittwoch war grau in grau. Die Woche blieb so. Immer stand das Wasser hoch, ob auch der Wind sich still hielt, und von der Arbeit bei Hohlebbe mußte wieder am Anfang und Ende je eine Stunde gestrichen werden. Die Arbeit im Watt ermüdete jetzt sogar die Sylter. Die Luft drückte. Sie erschien Bremer von einem Tag zum andern mehr mit Wassergehalt durchsetzt. Schwer atmeten die Männer, wenn sie sich in ihren hohen Stiefeln über den weichen Boden schleppten. Mühsam war, die Richtung der Lahnungen innezuhalten, wenn das Wasser vom Himmel rann und man in der Dunkelheit dieser unnatürlichen Sommertage kaum hundert Schritt weit zu sehen vermochte. So viel wie irgend möglich stand Bremer hier mit dem Kompaß in der Hand neben den Arbeitern, unaufhörlich messend und mahnend: »... etwas mehr nordwest – etwas stärker nach Südost umbiegen –«
»Sie sind auch schon ganz zum Sylter geworden und wissen nichts mehr von rechts und links«, meinte Hannes-Hannes.
Ja, Heinrich Bremer verwuchs immer mehr mit seiner Arbeit, lebte gleich den Syltern mitten im Watt, fing an, gleich ihnen das Kommen und Gehen von Flut und Ebbe mit den Nerven zu spüren. Mit den Sinnen mehr als mit dem Verstande lebte er sich in diese eigentümliche und schwermütige Landschaft ein. Es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß es das Knirschen der Ankerketten am »Loki«, dem großen Bagger, war, das ihm die steigende Flut kündete – neben dem unaufhörlichen, heulenden Kreischen des gewaltigen Ungetüms würde er dies Knirschen auch kaum willensmäßig haben ausmachen können. Irgendwie aber reagierten seine Sinne noch darauf. Auch hätte er nicht in Worten angeben können, wie sich die Färbungen des Wassers änderten, je nachdem, ob es kam oder ging – und doch handelte er ganz unwillkürlich diesen Erkenntnissen zufolge. Er roch den Wind, der aus Südwesten kam – er atmete anders, wenn dieser sich nach Norden drehte. Den Ostwind, den hatte er lange nicht mehr geschmeckt – er wußte kaum noch von ihm, der am günstigsten für seine Arbeit war.
Der Dollar stieg weiter auf 3 – 4 – 5 Millionen. Dann hielt ihm die deutsche Mark wieder stand. Aber nun ließ auch Bremer sich nicht mehr täuschen. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen. Sein Herz lag ihm wie ein Fremdkörper in der Brust. »Sie sehen nicht gut aus, Herr Baumeister«, sagte Max Milian Meiners, der Sanitäter, und Bremer widersprach ihm nicht.
Meiners war nun auch der Sylter Kolonne angeschlossen. Er kam aus Archsum, lahmte ein wenig, trat kurz, wie die Sylter sagten, und hatte deshalb den Krieg auch als Sanitäter mitgemacht. Er war ein besonders geschickter Buhnensetzer. Seine Vornamen hielten Bremer sowohl als auch Pastor Eschels für einen kurzgetretenen Maximilian, aber er schwor darauf, daß es ein uralter friesischer Name wäre und hatte seinen Sohn auch nur Milian taufen lassen.
»Uralt!« brummte Pastor Eschels. »Bevor 1864 die Österreicher Sylt von den Dänen befreiten, ist der Name Milian nicht in einem einzigen Kirchenbuch der Insel zu finden; danach aber zunächst immer nur in Verbindung mit Max.«
Diesen Max Meiners hatten die Sylter zu ihrem Arbeiterrat gewählt. Bremer verstand die Wahl nicht recht, denn Meiners hatte eine schwere Zunge und war weit weniger ein Mann des Wortes als etwa Rasmus Claasen. Aber er merkte bald, daß die Sylter selbst dem wunderlichen Mann eine besondere Achtung bewiesen.