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Freiherr von Canitz

Und diesem Freiherrn von Canitz wenden wir uns nunmehr ausführlicher zu. Sein Bildnis fehlt zwar an dem breiten Mauerpfeiler, an dem es früher hing, und Großmutter und Enkel, das Lächeln des einen und der herbe Gesichtsausdruck der andern, begegnen sich nicht länger mehr an dieser Stelle; das Totalbild des »Poeten« aber, seinen Charakter wie seine Erscheinung, hat uns eine zeitgenössische Feder aufbewahrt, und mit Hülfe dieser Aufzeichnungen erneuern wir auf Momente das Bild und führen es an des Lesers Auge vorüber.

»Canitz, der Poet war von mittlerer, wohlgewachsener Gestalt, in den späteren Jahren etwas untersetzt und stark; sein Gesicht voll, offen, wohlgebildet, seine blauen Augen lebhaft, sein Ansehn männlich. Bei einer weißen Haut und freien Stirn hatte er einen freundlichen Mund, der sich nur manchmal eines spöttischen Lächelns nicht erwehren und seine angeborene Neigung zur Satire nicht ganz verbergen konnte.«

So schildert ihn sein Biograph, und dementsprechende Züge mocht auch das Bildnis zeigen, das einst hier hing. Aber an jenem Sonntage des Monats Juni 1699, als er zum letzten Mal in diesen Chorstuhl uns unmittelbar zur Rechten eintrat, um andächtiglich der Rede des Geistlichen zu folgen, zuckte kein spöttisches Lächeln mehr um seinen Mund, und die »angeborene Neigung zur Satire« hatte längst einem Besseren Platz gemacht. Er wußte, daß ein anderes Leben seiner harre, und von Todesgewißheit erfüllt, hatte er in tiefer Rührung zu Spener die Worte gesprochen: »Wenn Gott mich wieder aufrichtet, so will ich dem eitlen Wesen dieser Weit mich ganz entziehn und mich dem widmen, was das allein Notwendige ist.« Canitz wußte, daß er nur noch Wochen zu leben habe (die Ärzte hatten es ihm gesagt, weil er es zu wissen verlangt hatte), und die Textesworte, die eben jetzt gelesen wurden, trafen sein Herz. »Es wird gesäet verweslich und wird auferstehen unverweslich; es wird gesäet in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit.« Diese Worte, sagt ich, trafen sein Herz; aber die Bilder des Todes, die vor ihn hintraten, erschreckten ihn nicht. Ruhig folgte er dem Gange der Predigt.

Und nun ist die Predigt vorüber, und an der Sakristeitüre dem Geistlichen freundlich und zustimmend die Hand drückend, schreitet er über die Gräber hinweg und durch das holunderüberwachsene Kirchhofstor dem Herrenhause zu. Der Junimorgen, so frisch und so warm zugleich, läßt ihn aufatmen wie in alter Lust und Fülle des Lebens, und statt in die Kühle des Hauses einzutreten, tritt er in den lachenden Park. Wir schreiten ihm leise nach. An dem Birkenwäldchen vorbei, den erhöhten Kiesweg entlang, der bald die Windungen des Baches begleitet, bald sie kreuzt und überbrückt, hat er endlich die hoch gelegene Lieblingsbank am Rande des Parks erreicht, die, von Buchenzweigen weit überschattet nach vorn hin einen Blick gönnt auf Felder und wogendes Korn. Er läßt sich nieder hier, und Figuren in den Sand zeichnend, ziehen die wechselnden Bilder seines Lebens an ihm vorüber.

Das sind die sonnigen Tage seiner Jugend. Die krainischen Alpen liegen hinter ihm, eine kurze Meerfahrt ist überstanden, und um die Spitze des Lido herum biegt er ein in die Lagunenstadt. Welche Welt tut sich vor ihm auf; die Kuppeln und die Türme blinken im Sonnenlicht und als zöge man hinaus, um festlich einen Fürsten einzuholen, so schwimmt ihm die Meereskönigin auf hundert Barken entgegen. Aber was wie Wunder und Märchen erscheint, ist nur ein glückliches Ohngefähr; die heiteren Reisegötter führen ihn in die Lagunenstadt just am Tage der Meervermählung, wo der Doge samt seinen Senatoren im Bucentauro hinausgleitet, um den Ring, das Zeugnis und die Besieglung des Bundes, in das Meer zu senken.

Die Bilder Venedigs schwinden, aber der Kahn des Traumes führt ihn weiter, jetzt zurück auf die hohe See, jetzt an dem Küstenbogen entlang, der zwischen Sorrent und Neapel sich spannt, und jetzt den Rhein hinunter und jetzt die Themse hinauf, hinauf bis an die Londonbrücke, wo die Barken den Strom sperren und die hundert Masten der Schiffe seinen Blick bezaubern und verwirren. Die Treppe steigt er hinan, die halb ausgewaschen zum Quai hinaufführt, und das Geräusch der City nimmt ihn auf. Immer wachsenderes Gedränge umwogt ihn hier, und endlich Stand nehmend auf der Hügelkuppe von Ludgate Hill, wo eben die Quadersteine geschnitten werden, aus denen dereinst die neue Paulskirche sich aufrichten soll, sieht er jetzt, von einem der hohen Steinblöcke aus, die Lord-Mayors-Prozession in altertümlichem Pomp an sich vorüberziehen. Die Themseschiffer in roten Röcken eröffnen den Zug, dann schmettern Pauken und Trompeten, bis endlich aller andre Lärm in dem Jubelgeschrei des Volkes erstickt, denn schwerfällig, aus Eichenholz geschnitzt, schwankt eben die vergoldete Kutsche heran, und der erwähnte Cityherrscher grüßt mit gravitätischem Kopfnicken nach rechts und links.

Vereinzelte Kuckucksrufe klingen jetzt leis und wie aus weiter Ferne her herüber, und siehe da, der kranke Poet unterbricht sich in seinem Figurenzeichnen und horcht auf. Aber wie die Seele gern wieder anknüpft an das, was ihr lieb geworden, so fällt er alsbald auch in altes Sinnen und Träumen zurück.

Immer lachendere Bilder ziehen herauf. Es ist wieder ein Festzug, eine Prozession, aber diesmal auf heimischem Grund und Boden, und der Gefeierte ist er selbst. Ein Junitag ist's wie heute, nur um so viel heiterer und schöner, als die Augen damals heller in den Tag hineinsahen: denn neben ihm auf dem breiten Sitze des Wagens, auf dem er eben einfährt in die festgeschmückte, mit Laubgewinden überspannte Dorfgasse, sitzt seine heißgeliebte Braut, seit gestern sein Gemahl. Sie zählt nicht zu den leuchtenden Schönheiten, aber sie hat jenen blendenden Teint, der der Schönheit nahekommt. Ihre blühenden Wangen wurden rosiger von der Fahrt, und das rotblonde Scheitelhaar flattert halb aufgelöst im Winde. Bauern zu Pferd und mit bebändertem Hute folgen dem Zuge, Frauen im Sonntagsstaat stehn in den Türen oder am Heck und heben die Kinder in die Höh, die Störche klappern auf allen Dächern, als hätten sie mitzureden bei solchem Einzug, und die Feldlerchen begleiten von draußen her den Zug und erzählen sich hoch oben von dem Glück, das sie drunten gesehn.

Und ein volles Glück war es, das sie sahn, nicht spärlich zugemessen wie sonst wohl. Denn nicht über kurze Tage hin dehnte sich die Zeit der Flitterwochen, und Blumberg, wie es der tägliche Zeuge vollkommener Eintracht und innigsten Zusammenlebens wurde, wurd auch ein gefeierter Sitz edler Gastfreundschaft, ein Mittelpunkt geistigen Lebens, dichterischen Schaffens, wie damals kein zweiter in Mark Brandenburg zu finden war. Johann von Besser, Eusebius von Brandt waren oft und gern gesehene Gäste, und von hier aus ergingen an den vielbewährten Jugendfreund und Studiengenossen unsres Poeten, an den Kirchenrat Zapfe in Zeitz, oft wiederholte Einladungen, »das Harfenspiel aufs neu von der Wand zu nehmen und das Hoflager in Blumberg zu beziehen«. Briefe wurden mit einer gewissen Regelmäßigkeit gewechselt, und als die Schilderungen ehelichen Glücks, die Canitz regelmäßig mit einem »Nun gehe hin und tue desgleichen« zu schließen pflegte, endlich ihren Einfluß geübt und den ehrbaren Magister und Kirchenrat auch an den Altar geführt hatten, da ging von Blumberg ein Gratulationsbrief folgenden Inhalts nach Zeitz: »Deine Heirat und die Art derselben gefällt mir sehr wohl; weil Du mir aber Dein Sach ohne sonderliche Umstände schlechthin berichtet hast, so will auch ich Dir in Kürze nur, aber doch immer von Herzen, Glück und Vergnügen wünschen und daß Deine Liebste, wo nicht ein fruchtbarer Weinstock, so doch ein immergrüner Tannenbaum sei, dem es an Zapfen niemals fehlen möge.«

So gingen die Tage. Ein volles Glück war es, ein Glück über Jahre hin und doch zu kurz für das beneidete Paar, das in seltnem Gleichklang zusammenstimmte. Der alte Neider Tod trat zwischen sie, mitleidslos und unerbittlich, und in Erinnerung an jene Tage schwindet ihm jetzt der heitre Traum, und trübe Bilder ziehen in seiner Seele herauf. An dem Lager einer Sterbenden kniet er. »O daß du bleiben könntest!« klingt es bittend von seinen Lippen; sie aber schüttelt den Kopf und spricht: »Du bist so oft von mir gegangen, nun geh ich von dir; sieh, ich schlafe schon.« Und danach entschlief sie wirklich, ohne Zucken und ohne Schmerz.

Das einförmige Rufen des Kuckucks klang lauter und näher jetzt, und Canitz richtete sich auf, als woll er die Rufe zählen. Da schwieg der Kuckuck. Ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippe; dann schritt er durch die Gänge des Parks in das Herrenhaus und seine Stille zurück.

Das war am letzten Junisonntage 1699. Am 11. August desselben Jahres begegnen wir ihm noch einmal. Seine Kräfte waren schwächer geworden, und das heitere Poetenherz, das einst mit tausend Wünschen an das Leben gekettet war, es hatte nur noch einen Wunsch: zu sterben, wie die teure Heimgegangene vor ihm gestorben war. Und dieser letzte Wunsch ward ihm erfüllt. Am frühen Morgen des genannten Tages stand er auf, ließ sich völlig ankleiden und trat an das Fenster, das er öffnete, um frische Luft zu schöpfen. Die Sonne ging eben auf, und mit freudigem Staunen genoß er ihrer Pracht. Als er eine Weile hineingeblickt, rief er mit erhobener Stimme: »Wie schön ist heut der Himmel«, und sank, von einem Schlagfluß getroffen, tot zur Erde.

So starb »Canitz, der Poet«. Schon am Tage darauf wurd er in der Marienkirche beigesetzt. Eine Woche später hielt ihm Spener in der Nikolaikirche die Gedächtnispredigt; den Inhalt seines Lebens aber stellen wir zu folgender Grabschrift zusammen:

»Friedrich Rudolf von Canitz, Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht zu Brandenburg wohlbestallter Geheimerat und Staatsminister, geboren zu Berlin (nach anderen zu Lindenberg bei Berlin) den 27. November 1654, gestorben den 11. August 1699, im fünfundvierzigsten Jahre seines Alters. Was das Leben erhöht und verschont, das übte und pflegte er. Er liebte die Kunst und die Menschen; die Freundschaft hielt er hoch, die Treue am höchsten. Er war klug ohne Arg; ein männlicher Sinn, ein kindliches Herz. Er liebte die Welt, aber er empfand ihre Eitelkeit; Glaube und Sehnsucht wuchsen in seinem Herzen und trugen ihn aufwärts.« Canitz und seine erste Gemahlin, Doris von Arnim, deren Grabmäler ich in der obengenannten Marienkirche zu Berlin lange vergeblich suchte, sind nichtsdestoweniger in derselben wirklich beigesetzt worden, aber in dem Röbelschen Erbbegräbnis, dessen ich in dem Kapitel » Buch« bereits eingehender erwähnt habe. Da dies Erbbegräbnis, in dem, laut Stadtrat Kleins »Geschichte der Marienkirche«, die Toten dreier Familien: der Röbel, Canstein und Canitz, beigesetzt wurden, seit etwa vierzig Jahren zugemauert ist so ist es nicht mehr möglich, die Särge um ihre Inschriften zu befragen. Möglich, daß dieselben, zum Beispiel über den Geburtsort Canitz', einen bestimmten Aufschluß geben würden.

 

Ich hab in vorstehendem den Menschen Canitz als eine liebenswürdige, fein und innerlich angelegte Natur zu schildern versucht; es bleibt noch die Frage übrig nach seiner politischen Bedeutung und nach seinem poetischen Wert. War er ein Staatsmann? war er ein Poet? Das erstere gewiß, das zweite kaum minder.

Die Natur schien ihn für die diplomatische Laufbahn im voraus geschaffen zu haben, und die komplizierten Verwandtschaftsgrade, darin er stand (auch die Mutter seiner Frau war dreimal verheiratet gewesen), hatten von Jugend auf dahin gewirkt, diese seine natürliche Beanlagung auszubilden. Eine uns aufbewahrte Charakteristik seines Wesens zeigt am besten, wie außerordentlich er sich für seine Laufbahn eignete, darin, damals ungleich mehr noch als jetzt, alles an dem Erkennen und der richtigen Benutzung von Persönlichkeiten gelegen war. »Er war gesprächig, höflich, frei von Eigensinn und Widerspruchsgeist, für jedermann gefällig und aufmerksam, Fähigkeiten und Neigungen leicht durchschauend, jedem Gegenstande wie jedem Verhältnisse sich leicht bequemend – ein vollkommener Mann von Welt. Seine Rechtschaffenheit, sein Haß gegen Lüge und Zweideutigkeit unterstützten ihn eher, als daß sie sein Auftreten gehemmt, seine Erfolge behindert hätten. Bei großer Leichtigkeit war er von vorsichtiger Haltung; er wußte Ernst und Sanftmut zu vereinen, um zu überreden und zu gewinnen. Im Friedenstiften, Vermitteln und Versöhnen besaß er ein einziges Talent.« Die Inschrift unter dem Bildnis der alten Frau von Burgsdorf hatte also völlig recht, von ihm als von dem »klugen Staatsminister von Canitz« zu sprechen; aber er suchte, wie schon angedeutet, diese Klugheit nicht in jener Kunst der Täuschung, am wenigsten in jenem Intriguenspiel, das damals an den Höfen blühte. Er kannte dies Spiel und war ihm gewachsen, aber sein redlicher und reiner Sinn lehnte sich gegen diese Kampfesweise auf. Deshalb zog es ihn immer wieder in die Stille und Unabhängigkeit des Landlebens und in einfach natürliche Verhältnisse zurück. »Der Hof« – so schrieb er bald nach dem Tode des Großen Kurfürsten – »hat wenig Reiz für mich, und ich betrachte die Würden und Ämter, die andere so eifrig suchen, nur als ebenso viele Fesseln, die mich am Genusse meiner Freiheit hindern, der Freiheit, die über alle Schätze der Erde geht und deren echten Wert zu würdigen den gemeinen Seelen versagt ist.« Er kannte diesen »echten Wert der Freiheit« wohl, aber die Verhältnisse gestatteten ihm nicht, sich dieser Freiheit so völlig zu freuen, wie es seinen Wünschen entsprochen hätte. Es geschah, was so oft geschieht, man suchte die Dienste desjenigen, der, im Gefühl seines Werts, diese Dienste anzubieten verschmähte, und wie oft er auch, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, die Erfahrung gemacht haben mochte, » daß andere die goldenen Äpfel auflasen, während er beim heißen Lauf sich abmühte«, so war doch Gehorsam und Nachgiebigkeit in allen jenen Fällen geboten, wo Weigerung den Vorwurf des Undanks oder doch der Gleichgültigkeit gegen die allgemeinen Interessen auf sich geladen hätte. Canitz drängte sich nicht zu Diensten, aber sooft er sie übernahm, zeigte er sich ihnen gewachsen. Leicht und gewissenhaft zugleich ging er an die Lösung empfangener Aufgaben, und die graziöse Hand, mit der er die Fragen berührte, pflegte zugleich eine glückliche Hand zu sein. Fast an allen deutschen Höfen war er eine wohlgekannte und wohlgelittene Persönlichkeit, und Kaiser Leopold bezeugte ihm vielfach seine Gnade und sein besonderes Wohlwollen.

Canitzens letztes und vielleicht bedeutendstes diplomatisches Auftreten war im Haag, wo damals die Minen gelegt wurden, um den Rijswijker Friedensschluß, der so viele Interessen verletzte und so viele Gefahren heraufbeschwor, wieder zu sprengen. Canitz zeichnete sich auch hier durch jene Klugheit und feine Besonnenheit aus, die, weil sie geflissentlich leise die Fäden zu schürzen oder zu entwirren sucht, gemeinhin auf den Beifall zu verzichten hat, der so leicht in all jenen Fällen sich einstellt, wo ein Diplomat so undiplomatisch wie möglich den Knoten zerhaut. Das herausfordernde Wort eines Rücksichtslosen, dessen Punktum bereits ein erster Kanonenschuß ist, wird jubelnd aufbewahrt, während die kluge Haltung dessen, der eine heranziehende Gefahr beschwört, gemeinhin unbeachtet bleibt. Alles, was sich vor aller Welt Augen zu einem bestimmten Bilde abrundet, ist immer im Vorteil über das Unplastische, das sich in vertraulichem Rat oder gar in einer bloßen Aktenstückszeile vollzieht, und jener Erich Christoph von Plotho, der zu Regensburg mit jenem berühmt gewordenen: »Was! insinuieren??« den kaiserlichen Notar, Dr. Aprill, die Treppe hinunterwarf, hat ein ganzes Dutzend Diplomaten in Schatten gestellt. Ich hätte hier statt des von Plothoschen auch ein anderes Beispiel zitieren können, ein Beispiel aus der Canitzschen Zeit und noch dazu ein Vorkommnis, in dem der Spezialfreund unseres Poeten, der schon an anderer Stelle genannte Johann von Besser, die Hauptrolle spielt. Besser war 1686 kurbrandenburgischer Gesandter in London, und es handelte sich, nach erfolgtem Tode Karls II., für das ganze diplomatische Corps darum, dem nunmehrigen Könige Jakob II. die Glückwünsche ihrer resp. Höfe, zu überreichen. Der alte venezianische Gesandte Vignola verlangte den Vortritt vor Besser; Besser aber verweigerte dies. Man einigte sich endlich dahin, daß der den Vortritt haben solle, der zuerst auf dem Platz erscheinen würde. Der alte Italiener kam früh, aber Besser kam früher; er hatte sich nämlich die Nacht über in eins der königlichen Vorzimmer einschließen lassen und stand nun bereits da, als Vignola eintrat. Dieser war unklug genug, nach wie vor auf dem Vortritt zu bestehen. Besser warnte ihn. Als der Zeremonienmeister die Tür öffnete, sprang Vignola vor, Besser aber, der von großer Körperkraft war, packte im selben Augenblicke den alten Schelm hinten am Hosenbund und schnellte ihn mit geübter Ringerkunst mehrere Schritte hinter sich. Ohne eine Miene zu verziehen, trat er darauf, völlig fest und gesammelt, an die Stufen des Thrones und hielt eine Ansprache. Alles war entzückt, der König nichts weniger als beleidigt, und der spanische Gesandte sagte ruhig zum alten Vignola: »Caro vecchio, avete fatto una grande cacata.« Der Vorfall machte in ganz Europa Sensation und wurde wie ein neuer Sieg Brandenburgs gefeiert, nicht viel geringer, als sei eine zweite Schlacht von Fehrbellin geschlagen und gewonnen worden. Überall da, wo das Wort Friedrichs des Großen gilt: »Mach Er nur, ich stehe mit 200 000 Mann hinter Ihm!«, ist es nicht schwer, dem guten Rufe der Kraft auch den der Klugheit hinzuzufügen, und das Achselzucken, das unsere preußischen Diplomaten in vorbismarckschen Tagen oft hinnehmen mußten, hat in ganz anderen Dingen seinen Grund als in Mangel an Einsicht und staatsmännischer Bildung.

Canitz' Verdienste als Diplomat sind unbestritten, seine Verdienste als Poet so sagt ich schon, sind kaum geringer. Wer auf gut Glück hin und ohne den Vorsatz liebevolleren Eingehens den Band seiner Dichtungen aufschlägt und in einem, übrigens an Schönheiten keineswegs armen Gedichte folgende Anfangsstrophe findet:

Laß, mein beklemmtes Herz, der Regung nur den Zügel,
Begeuß mit einer Flut von Tränen diesen Hügel,
Weil ihn mein treuster Freund mit seinem Blut benetzt
Auf dieser Stelle sank der tapfre Dohna nieder,
Hier war sein Kampf und Fall, hier starrten seine Glieder,
Als ein verfluchtes Blei die teure Stirn verletzt,
Das, eh der Sonne Rad den andern Morgen brachte,
Ihn, leider, ach zu bald zu einer Leiche machte Der Titel des Gedichtes lautet: » Elegie; letzte Pflicht der Freundschaft, dem sel. Grafen von Dohna auf derjenigen Stelle abgestattet, wo derselbe, wenig Wochen zuvor, den tödlichen Schuß empfangen hatte«. (Es geschah dies bei dem berühmten Sturm auf Ofen 1686; die Brandenburger, von den Türken die »Feuermänner« geheißen, wurden von General von Schöning geführt.)

wer, sag ich, solche und ähnliche Strophen findet, wird freilich zunächst den Kopf schütteln und seine Ungläubigkeit ausdrücken, daß es mit so zopfigen Alexandrinern irgend etwas auf sich habe. Und in gewissem Sinne mit Recht. Wir dürfen diese Dinge aber nicht mit einem Maßstabe messen, den wir dem gegenwärtigen Stande unserer Literatur entnehmen, sondern müssen uns vielmehr die Frage vorlegen: Was waren diese Gedichte in und zu ihrer Zeit? Und zu ihrer Zeit waren sie sehr viel. Wenn ihnen jetzt, wie das gelegentlich geschieht, mit herablassender Miene zugestanden wird, daß sie das Verdienst der gewählten Sprache, der Reinheit und Eleganz hätten, so genügt diese Anerkennung keineswegs; denn es ist das ein Zugeständnis, das so ziemlich allen modernen Dichtern gemacht werden kann, während unter diesen doch nur wenige sind, die für ihre Zeit das Maß von Bedeutung beanspruchen dürfen, das Canitz für die seinige besitzt. Er war einer von denen, denen die Aufgabe zufiel, uns erst eine Sprache und innerhalb derselben ein Gesetz zu geben. Dies Geschenk, diese Hinterlassenschaft ist nicht hoch genug zu schätzen. Wir stehen auf den Schultern derer, die damals tätig waren, und wenn Canitz auch nicht in die Reihe der epochemachenden literarischen Reformatoren jener Zeit gehört, die sich, wie namentlich Opitz, für die Gesamtentwicklung deutscher Sprache und Dichtung von nachhaltiger Bedeutung erwiesen haben, so war er doch wenigstens für unsre Mark das, was andre für weiter gezogene Kreise waren. Er zeigte zuerst, daß die Mark und die Musen nicht völlige Gegensätze seien.

Aber die Verdienste Canitz' sind keineswegs nur sprachlicher Natur; seine Gedichte haben auch ihren dichterischen Wert. Es ist wahr, daß er das Dichten zum Teil wie andre angenehme Unterhaltung trieb, und er selber nannt es in seinen Briefen »die Kurzweil des Reimens«, aber wir würden ihm doch sehr unrecht tun, wenn wir nach jenen zahlreichen Reimereien, wie sie bei Festspielen, den sogenannten »Wirtschaften«, damals Mode waren, den Wert seiner Dichtung überhaupt abschätzen wollten. Gewiß, er trieb das Dichten wie Tagewerk, aber er trieb es auch, und zwar im besten Sinne, wie man ein poetisches Tagebuch führt, darin er allem zu einem dichterischen Ausdruck verhalf, was der Lauf des Tages brachte. Der Tag brachte vieles, Großes und Kleines, Absonderliches und Alltägliches, und diesen Wechsel zeigen auch seine Dichtungen, aber sie sind einig in dem einen, daß sie, ob groß, ob klein, ein Erlebtes widerspiegeln; sie sind nicht Fiktion, sie sind wirklich, sie haben einen realen Inhalt; dieser Inhalt ist nicht immer poetisch, weder in sich noch in der Art, wie er sich gibt, aber es fehlt auch überall die Gefahr, sich ins Nichts zu verflüchtigen. Der alte Bodmer sagte von diesen Gedichten: »Canitz legete nichts Fremdes in dieselben, was nicht zuvor in seinem Sinn und Herzen gewesen wäre.« Das ist sehr richtig, und der Stempel des Echten, Wahrhaftigen, an sich selbst Erfahrenen, auch da noch, wo es sich um bloße Reflexionen handelt, hält schadlos für den fehlenden Hochflug, auch für einen gewissen Mangel an Kraft, Originalität und Tiefe, den wir nicht in Abrede stellen wollen.

Ein einziges Gedicht rührt von ihm her, das an Sprache, Form und namentlich auch an Innerlichkeit alles weit zurückläßt, was er außerdem geschrieben hat, und nicht nur einen relativen, sondern einen vollen und unbedingten poetischen Wert beanspruchen darf. Es ist dies das Gedicht »An Doris« oder »Über den Tod seiner ersten Gemahlin«, wie es in einer älteren Ausgabe genannt wird. Es gilt von diesem Gedicht etwas Ähnliches, wie Schlegel von Bürgers »Leonore« gesagt hat: »daß es allein schon ausreichen würde, den Namen des Dichters der Nachwelt zu überliefern«. Die Zeiten ändern sich freilich, und es wird manchem jetzt pedantisch erscheinen, siebenundzwanzig Trauerstrophen, noch dazu die Arbeit von Jahren, auf den Tod einer hingeschiedenen, geliebten Frau gedichtet zu sehn. Aber das Lächeln über die altfränkische Mode ist unberechtigt. Es ist mit einem solchen Gedicht wie mit einem Bildhauer, der seine Frau verliert und ihr ein Monument errichten will. Er hat sie selbst am besten gekannt, trägt ihr Bild am treusten im Herzen und geht freudig und gutes Mutes an die Arbeit. Die Arbeit ist mühevoll und kostet ihm Zeit, aber endlich hat er's erreicht, und niemand tritt jetzt heran und wundert sich, daß er Jahre gebraucht hat zu einer Schöpfung der Pietät und Liebe. So muß man auch eine solche »Trauerode« auffassen, die damals gemeißelt wurde wie in Stein. Wir gestatten jetzt nur noch eine hingeworfene Skizze, einen lyrischen Ausruf als Ausdruck des Gefühls. Aber beides kann nebeneinander bestehen, jedes ist eine berechtigte Art, und es ist einfach falsch, zu sagen, die alten Poeten von damals, weil sie weder in Desperation noch in Melancholie dichteten, hätten überhaupt nichts empfunden. Man lese die Dinge ohne Vorurteil, und man wird an der Wirkung auf das eigene Herz wahrnehmen, daß ein Herz in diesen zopfigen Strophen schlägt.


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