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Diese Witwe war Gräfin Emilie von Schlabrendorf, geborne von Ryssel. An sie ging jetzt Gröben über, in dem ihr noch, durch volle sieben Jahre hin, ein segensreiches Wirken gestattet war.
In brieflichen Mitteilungen über sie find ich das Folgende: »Die Gräfin, wie sie kurzweg genannt wurde, war eine Dame von seltener Begabung und Bildung. Was Gröben durch drei Jahrzehnte hin war, war es, ohne den mitwirkenden Verdiensten anderer zu nahe treten zu wollen, in erster Reihe durch sie. Sie gab den Ton an, sie bildete den geistigen Mittelpunkt und war – übrigens ohne schön zu sein – mit jener anmutenden Vornehmheit ausgestattet, wie wir uns etwa die Goethesche Leonore denken.
Ihr Interesse wandte sich allen Gebieten des Wissens zu, was ihr aber, meines Erachtens, eine noch höhere Stellung anwies, das war ihre mustergiltige Hausfrauenschaft und ihr unbegrenzter, auf Näh und Ferne gerichteter Wohltätigkeitssinn. Immer bereit zu helfen, war doch die gleichzeitig von ihr gewährte geistige Hilfe fast noch trost- und beistandsreicher als die materielle, so reichlich sie diese bot. Es konnte dies geschehen, weil ihr die seltene Gabe geworden war, den ihr aus der Fülle der Erfahrung beinahe mehr noch als aus der Fülle des Glaubens zu Gebote stehenden Rat immer nur in einer allerschonendsten Weise zu spenden. In Grundsätzen streng, war sie mild in ihrer Anwendung, und überall richtete sie die Herzen auf, wo ihre vertrauenerweckende Stimme gehört wurde.
Selbstverständlich eigneten einer solchen Natur auch erzieherische Gaben, und da ihre Ehe kinderlos geblieben war, so war nichts natürlicher, als daß sie – wie zur Erprobung ihrer pädagogischen Talente – Kinder, namentlich junge Mädchen, ins Haus nahm. Es waren dies Töchter aus achtbaren, aber einfach bürgerlichen Häusern, und ihr Erziehungstalent erwies sich in nichts so sehr als in der Art und Weise, wie sie diese jungen Mädchen an allem, was das Haus gesellschaftlich gewährte, teilnehmen ließ und sie doch zugleich für die Lebensstellungen erzog, in die sie, früher oder später, wieder zurücktreten mußten. Es gelang ihr, ihren Pfleglingen eine Sicherheit im Auftreten und in den Formen zu geben, ohne daß infolge davon der gefährliche, weil so selten zu Vorteil und Segen führende Wunsch in ihnen aufgekeimt wäre, die bescheidenere Geburtsstellung mit einer anspruchsvolleren zu vertauschen. All das, ohne jemals durch Hervorkehrung dessen, was man Standesvorurteile nennt, auch nur einen Augenblick verletzt zu haben. Es war ihr eben einfach die Gabe geworden, in Liebe den Glauben zu wecken: ›In allem lebt Gottes Wille, und wie es ist, ist es am besten.‹«
So die Mitteilungen solcher, die die Gräfin noch persönlich gekannt haben. Aber eines vermiß ich darin: ein Hervorheben dessen, was ihr, ich will nicht sagen ausschließlich oder auch nur vorzugsweise, aber doch jedenfalls mitwirkend, ihren Einfluß sicherte. Dies war ihr Katholizismus. Zunächst ihr Katholizismus als einfache Tatsache.
Wer ein Auge für diese Dinge hat, dem kann es nicht entgehen, daß der Katholizismus, all seiner vielleicht berechtigten Klagen und Anklagen unerachtet, eine nach mehr als einer Seite hin bevorzugte Stellung unter uns einnimmt, und zwar am entschiedensten in dem Gesellschaftsbruchteile, der sich die »Gesellschaft« nennt. Es geht dies so weit, daß Leute, die sonst nichts bedeuten, einfach dadurch ein gewisses Ansehen gewinnen, daß sie Katholiken sind. Wie gering ihre sonstige Stellung sein mag, sie werden einer Art Religionsaristokratie zugerechnet, einer Genossenschaft, die Vorrechte hat und von der es nicht bloß feststeht, daß sie gewisse Dinge besser kennt und weiß als wir, sondern der es, infolge dieses Besserwissens, auch zukommt, in ebendiesen Dingen den Ton anzugeben. Also zu herrschen.
Unserer Gräfin Herrschaft aber verdoppelte sich und wurd erst recht eigentlich, was sie war, aus der weit über die bloße Tatsächlichkeit ihres Katholizismus hinausgehenden schönen und klugen Betätigung desselben. Sie war eine strenge Katholikin für sich, in der Berührung mit der Außenwelt jedoch, insonderheit mit der ihr in gewissem Sinne wenigstens unterstellten Gemeinde, betonte sie stets nur das, was beiden Konfessionen das Gemeinschaftliche war, und übte die hohe Kunst einer Religionsäußerung, die der eignen Überzeugung nichts vergab und die der andern nicht kränkte. Sie hatte dies am sächsischen Hofe gelernt und zeigte sich beflissen, diesem Vorbilde schöner Toleranz in allen Stücken nachzuahmen. Es geschah dies in einer ganzen Reihe von Guttaten und kleinen Stiftungen, am erkennbarsten in dem einem Neubau gleichkommenden Umbau der lutherischen Gröbener Kirche, den sie, von der Vorahnung erfüllt, daß sie das Ende desselben nicht mehr erleben würde, durch Kapitalsdeponierungen sicherstellte.
Den 2. September 1858 starb sie, sechzig Jahr alt, und wurde, den dritten Tag danach, ihrem ausdrücklichen Willen gemäß, auf dem protestantischen Kirchhofe der Gemeinde beigesetzt.
Gröben selbst aber fiel an die Schwägerin der Gräfin, an die noch lebende Schwester des bereits 1851 verstorbenen Grafen Leo.
Diese noch lebende Schwester des Grafen Leo war Frau Johanna von Scharnhorst, geborne Gräfin von Schlabrendorf. Sie trat ihr Erbe (Gut Gröben) an, und da sie, wie weiterhin erzählt werden wird, einige Jahrzehnte vorher auch in den Besitz von Siethen gekommen war, so waren jetzt beide alt-Schlabrendorfschen Güter wieder in Händen einer geborenen Schlabrendorf vereinigt. Freilich nur auf kurze Zeit. Ein Jahr nur, von 1858 bis 1859. Eh ich aber von diesem Wiederaufgeben des Gesamtbesitzes spreche, sprech ich, zurückgreifend, über den Lebensgang der Frau von Scharnhorst bis zu jenem Zeitpunkte (1858), wo Gröben ihr zufiel.
Comtesse Johanna wurde, wie schon hervorgehoben, am 22. April 1803 aus der zweiten Ehe des Grafen Heinrich von Schlabrendorf, die derselbe mit einem Fräulein von Mecklenburg geschlossen hatte, geboren. Es scheint, die Mutter starb früh und überließ Erziehung und Fürsorge dem exzentrischen Vater, der sich dieser Aufgabe denn auch auf seine Weise, das heißt widerspruchsvoll, unterzog. Er liebte die Kleine schwärmerisch und duldete beispielsweise nicht, daß sie von jemand anderem als von ihm oder einer ihr beigegebenen Bonne berührt wurde. Sollte sie spazierenfahren, so stand er bereit, um ihr kavaliermäßig die Hand zu reichen oder sie, solange sie noch klein war, in den Wagen hineinzuheben. Aber diese Galanterien erfuhren doch auch wieder Ausnahmen und waren jedenfalls von nicht allzu langer Dauer. Als die Reisepassion über ihn kam, schwand ihm die Lust, sich um das Comteßchen noch weiter zu kümmern, und er begnügte sich von nun an damit, sie nach hierhin und dorthin in allerlei Pensionen zu geben, am liebsten in ländliche Pfarrhäuser, in denen oft die wunderlichsten Zustände herrschten und Albernheiten und Unpassendheiten um den Vorrang stritten. Aber all dies berührte sie wenig, und glücklichere Tage kamen, als der alte Graf mehr und mehr zurücktrat und die mütterliche Verwandtschaft der immer reizender werdenden Comtesse sich dieser anzunehmen begann. In Sommerzeit war sie mit in den Ostseebädern, am häufigsten in Doberan, und in einer Vier-Schimmel-Equipage ging es dann über die Felder hin oder auch wohl bis an den Heiligendamm, wo zweierlei gleich Wichtiges und gleich Großes zu sehen war: der Hof und das Meer.
Aber dies alles liegt unbestimmt zurück, und klarere Bilder treten uns aus dem Jugendleben der Gräfin erst von dem Tag an entgegen, wo sich die gesamte Familie, Geschwister und Vetterschaft, in Trier zusammenfand, um im Hause des alten General von Ryssel die Vermählung zwischen Emilie von Ryssel und Graf Leo von Schlabrendorf zu feiern. Unter den Schlabrendorfs, die mit erschienen waren, war auch Comtesse Johanna, damals erst siebzehn Jahr alt, und der alte Spruch sollte sich bei dieser Gelegenheit aufs neue bewahrheiten: »auf jeder Hochzeit eine neue Verlobung«. Ihr Tischnachbar war August von Scharnhorst, Rittmeister in dem damals zu Trier in Garnison stehenden 8. Ulanenregiment und ungefähr um dieselbe Zeit, in der Graf Leo das schwiegerelterliche Haus in Trier aufgab, um das kurz zuvor erstandene Gröben zu beziehen, erfolgte die Verlobung und bald danach auch die Verheiratung des tischnachbarlichen Paares: des Rittmeisters August von Scharnhorst und der Comtesse Johanna von Schlabrendorf.
Aber auch die Tage dieses Paares waren in Trier gezählt. Wie Gröben, so geriet auch Siethen, das seine Besitzer innerhalb der letzten dreißig Jahre mehrfach gewechselt hatte, mal wieder zu Verkauf, und Graf Leopold, als er davon hörte, fragte sofort bei Schwester und Schwager an, »ob sie vielleicht geneigt seien, das plötzlich wieder frei gewordene Siethen käuflich an sich zu bringen«. Unter gewöhnlichen Verhältnissen würde die Frage wahrscheinlich mit einem »Nein« beantwortet oder noch viel wahrscheinlicher gar nicht gestellt worden sein, in Trier aber lagen die Dinge bereits außerhalb des Gewöhnlichen, indem August von Scharnhorst durch einen Sturz vom Pferde sich sehr erheblich, und zwar bis zur Dienstunfähigkeit, verletzt, auch infolge davon sein Entlassungsgesuch bereits eingereicht hatte. So wurde denn freudig zugestimmt und 1825 der Ankauf von Siethen bewerkstelligt, das nun – so wenigstens ging der Plan – für das junge Scharnhorstsche Paar eine gleich glückliche Heimstätte werden sollte, wie das Schwesterdorf Gröben es für das Schlabrendorfsche bereits war. Aber dieser Plan scheiterte. Des um diese Zeit bereits als Major aus dem Dienste geschiedenen Rittmeisters von Scharnhorst gesundheitliche Störungen waren größer als geglaubt, er kränkelte viel, und schon ein halbes Jahr nach Übernahme des Gutes starb er in Berlin (Oktober 1826), wohin er sich in ärztliche Behandlung begeben, und ließ in Siethen ein kaum einjähriges Töchterchen und eine dreiundzwanzigjährige Witwe zurück.
Ein hartes Los war dieser gefallen. Und doch hatte sie dreierlei, was ihr das Leben allmählich wieder lebenswert machte: das Kind, die Schwägerin drüben in Gröben und als drittes den Wetteifer mit dieser in allen guten Werken. Im Beglücken anderer erhob sie sich zu neuer Kraft, und als die Tochter (auch eine Johanna) zu jedermanns Freude heranwuchs und immer mehr das Licht ihres Lebens wurde, da kam ihr auch ein Gefühl des Glückes wieder und in und mit ihm die Hoffnung, die mehr ist als das Glück.
Aber diese Hoffnung erblaßte vor der Zeit und schwand endlich hin für immer. Die Tochter erkrankte, von einem hitzigen Fieber befallen, und starb im schwäbischen Wildbad, wohin sie sich in Begleitung ihrer damals noch lebenden Gröbener Tante begeben hatte.
Das war im Herbst 1857. Untröstlich war die Mutter, die nun in Einsamkeit den Rest ihres Lebens durchlebte.
Eh ich aber diesen Lebensausgang schildere, versuch ich zuvor, ein Bild der zu früh heimgegangenen Tochter zu geben.