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Johanna von Scharnhorst

(Nach Aufzeichnungen einer Kaiserswerther Diakonissin)

Johanna von Scharnhorst war eine Mariennatur. Ihre Erscheinung schon gewann die Herzen und war der Ausdruck selbstsuchtsloser Güte. Mutter und Tochter glichen sich in diesem Punkte vollkommen und leben, um dieser selbstsuchtslosen Güte willen, in der Erinnerung der Gröben-Siethener Gemeinde fort.

Im Oktober 1854 kam Fräulein Johanna nach Kaiserswerth, um Diakonissin zu werden. Was sie dazu bestimmte, waren zunächst wohl unerfüllt gebliebene Hoffnungen, Enttäuschungen, über die sie sich nur einmal, in Andeutungen wenigstens, zu mir aussprach; aber weit über eine solche nächste Veranlassung hinaus ruhte der eigentliche Grund zu diesem Schritt in ihrer ganz auf Barmherzigkeit und Liebe gestellten Natur. Sie war, wie wenige, zum Diakonissendienste bestimmt.

In ihrer ersten Jugend schon, so hört ich später, nahm sie sich der Armen und Verlassenen an, und wenn sie durch das Dorf ging und die Kinder mit stumpfem Gesichtsausdruck in der Haustür sitzen sah, sagte sie: »Die Kinder sehen aus, als ob sie keine Seele hätten. Wie helf ich ihnen?«

Es war wohl ein Erinnern daran, was sie jetzt nach einem schmerzlichen Erlebnis, unsrer Kaiserswerther Anstalt, deren Einrichtung und Dienst sie kennenlernen wollte, zuführte. Noch entsinn ich mich des Tages, als sie kam. Ich empfing gleich den Eindruck von ihr, etwas so Lieblichem noch nie begegnet zu sein, und wurde nicht müde, sie anzusehen. Auch weiß ich noch, daß ich in allen Briefen an die Meinigen immer nur von ihr erzählte, trotzdem sie noch kein einzig Wort zu mir gesprochen hatte. Sie trat als Pensionärin ein, beschränkte sich jedoch nicht, wie diese sonst zu tun pflegen, auf Krankenpflege, sondern griff überall ein; sie nahm teil an den Stunden der Seminaristinnen, war in der Kleinkinderschule tätig und wirkte mit im Asyl. Ihre Hauptarbeit freilich gehörte den Kranken, und hier stand sie bald einzig da. Sie war unermüdlich, daneben freundlich und fröhlich, und schon ihre bloße Nähe beglückte.

Nach Ablauf eines Jahres kehrte sie von Kaiserswerth nach Siethen zurück, um daselbst ein Kinderasyl ins Leben zu rufen. Ein in dem reizenden Uetz bei Potsdam befindliches Haus, darin schon zwei Kaiserswerther Diakonissinnen in Tätigkeit waren, sollte zum unmittelbaren Vorbilde genommen werden. Und dies geschah auch. Es war aber ein schweres Beginnen, am schwersten infolge von allerlei Kritik, die das Unternehmen gerade von befreundeter oder doch halb befreundeter Seite her zu erfahren hatte. »Das solle Hülfe sein«, hieß es, »aber es sei keine. Für die Tagelöhner sei nun mal das beste, wenn ihre Kinder auch wieder aufwuchsen, wie sie selber aufgewachsen seien. Und was die Mütter angehe, so taug es nichts, ihnen die Sorge für ihre Kinder abnehmen zu wollen.« All dies traf um so tiefer, als ihm ein Teil Alltagswahrheit zur Seite stand, aber sie kämpfte treu gegen alle laut werdenden Zweifel an, besonders auch gegen die eigenen, und rang sich immer wieder zu dem schönen Glauben durch, daß sich ihr Wunsch mit dem Willen Gottes vereinige.

Ich hatte das Glück gehabt, ihr in den letzten Monaten ihres Kaiserswerther Aufenthaltes näherzutreten, und so kam es, daß sie mich bei sich zu sehen wünschte. Sie schrieb in diesem Sinne von Siethen aus an Pastor Fliedner, und ich selbst erhielt einen Brief, aus dem ich hier folgende Stelle gebe: »Nichts ist schwerer, als in Einfalt des Herzens bleiben; es muß vor allem erbeten werden, und das wollen wir treulich füreinander tun.«

In diesen wenigen Zeilen spricht sich ihr allereigenstes Wesen aus; sie hatte von dieser Herzenseinfalt mehr denn irgendwer, den ich kennengelernt, aber freilich zugleich auch die vollkommenste Demut und sah in sich nichts von all dem Schönen und Bevorzugten, das ihr durch Gottes Gnade so reichlich zuteil geworden war. Es war ihr eben Bedürfnis, andre Menschen höherzustellen als sich selbst und nichts lag ihr ferner als die Vorstellung, daß sie selber ein Vorbild sei.

Ich durfte der an mich ergangenen Aufforderung folgen und traf noch zur Einweihung der Anstalt in Siethen ein. Es war zur Begründung derselben ein Müllerhaus angekauft worden, dessen Besitzer, ein streng kirchlicher Mann, einige Jahre vorher nach Amerika ausgewandert war. Alles gedieh in diesem seinem ehemaligen Heim, und als er nach einiger Zeit davon hörte, schrieb er zurück. »Wie freut es mein altes Herz, daß meine vier Wände nun die Heimstätte für so viel Gutes geworden sind.« Und er rief den ferneren Segen Gottes dafür an.

Ich sagte, daß ich noch zur Einweihung eintraf. Diese fand im August statt. Es war ein schöner Tag, und der Geistliche sprach über die Wichtigkeit unsres Berufes und daß dieser »Beruf des Erziehens zu Gott« ein Glück und eine Ehre für uns sei. Von der Gemeinde fehlte niemand, und unter den erschienenen Gästen war auch Agnes von Scharnhorst (eine Cousine Johannas) und der Verlobte derselben, Baron von Münchhausen. Als Schlußgesang war Johannas Lieblingslied gewählt worden, und während die Kinderstimmen es intonierten, wurde sie, der es galt, tief bewegt, und sie weinte lang und schmerzlich. Gedachte sie doch, wie sie mir später in vertraulichem Gespräche mitteilte, nunmehr zurückliegender Tage, deren Schmerz sich ihr in diesem Augenblick erneuerte. Sie nahm eben Abschied von manchem, was ihr lieb gewesen, und erbat sich Kraft und Mut und Ausdauer zu dem Wege, der nun dunkel vor ihr lag.

Aber er hellte sich auf, dieser Weg, und es kamen auf eine gute Weile, wenn auch freilich nicht auf lange genug, jene glücklichen und gesegneten Tage, die der alte Müller für uns erbeten hatte. Mutter und Tochter wetteiferten alsbald und halfen überall. Es war ein frisches, fröhliches Arbeiten, und ich konnte nach Haus und nach Kaiserswerth hin schreiben, »daß mir ein lieblich Los gefallen sei«. Wir hatten vorsorglich und ängstlich fast mit einer Kleinkinder- und Sonntagsschule begonnen, aber der Feuereifer beider Scharnhorstschen Damen konnte sich kein Genüge tun, und ehe noch viel Zeit ins Land gegangen war, war aus jenen ersten Anfängen auch schon ein Krankenhaus und bald danach auch ein Waisenhaus geworden.

Unter den vielen Gaben, die Johanna für ihren Beruf mitbrachte, war auch die des Erzählens. Sie wußte Geschichten aller Art mit einer ihr eigentümlichen, zu Herzen gehenden Einfachheit vorzutragen und dabei jeden Ton zu treffen, am glücklichsten vielleicht den humoristischen. Es war eine Lust, ihr zuzuhören, wenn sie Grimmsche Märchen oder Glaubrechts hübsche Geschichte von Küppels Michel erzählte.

Dieser heitre Zug, in den sich selbst ein Anflug von Ironie mischen konnte, sprach sich auch sonst noch in ihrem Wesen aus. Einmal hatt ich Urlaub in meine westfälische Heimat genommen, schrieb von dorther und erhielt alsbald einige Zeilen, in denen es hieß: »Es freut mich, daß Sie so treulich an unser kleines und einsames Siethen denken, von dem ich Sie nur noch bitte, den lieben Ihrigen kein allzu sibirisches Bild entwerfen zu wollen.« Sie kannte die komisch-falschen Vorstellungen, die man wenigstens damals noch in Süd- und Westdeutschland von der Mark Brandenburg unterhielt, und widerstand dem Anreize nicht, diese Vorstellungen zu persiflieren.

Ja, sie hatte diesen humoristischen Zug, aber er streute doch nur ein weniges von Frohsinn und Heiterkeit über ihr Leben aus, und was sie, wenn wir über Feld gingen, am liebsten sah: ein weißes Mohnfeld mit ein paar roten Mohnblumen dazwischen – das war recht eigentlich sie selbst. Der Grundton ihrer Seele war elegisch und blieb es auch in ihrer glücklichsten Zeit.

In dieser standen wir jetzt, in jenen Wochen und Monaten, die der Gründung der Anstalt unmittelbar folgten, und wie jegliches um uns her gedieh, so gedieh auch Fräulein Johanna selbst. Es erschien uns oft, als ob ihr unter immer neuer Arbeit auch neue Kräfte kämen. Sie sah frisch aus, frischer als sonst, und als nach einjähriger Tätigkeit ihr Geburtstag unter Teilnahme vieler lieber Gäste gefeiert wurde, flüsterte mir eine Nachbarin zu: »Wie blühend Johanna aussieht.« Und es war so. Freilich täuschten diese blühenden Farben und bargen recht eigentlich die Gefahr, aber noch waren wir ahnungslos, und der Tag selbst verlief uns in ungestörter Freude. Die Kinder sangen ihre Lieder, und weil Johanna selber nicht singen konnte, sagte sie scherzend: »Ich könnte böse sein, keine Stimme zu haben.« – »Ach, du willst zuviel«, antwortete ihr ihr ehemaliger Lehrer und Erzieher in liebevollem Vorwurfe. »Man muß auch nicht alles haben wollen.« So vergingen die Stunden in schöner und gehobener Heiterkeit, was ihr aber im Laufe des Tages die größte Freude gemacht hatte, das waren ein paar Spätrosen gewesen, die man ihr, für den Geburtstagstisch, von den schon überschneiten Stämmen geschnitten hatte. Denn es war der 16. November.

Und der Winter verging, und der Frühling kam. Und als der Sommer da war, da war sie matt, so matt, daß sie, was sie sonst nicht kannte, zu klagen begann. Auch von ihrem Tode sprach sie häufiger und bestimmte, welches Lied an ihrem Grabe gesungen werden solle. So ging es durch Wochen und durch Monate hin. Aber freilich auch hoffnungsreichere Stunden kamen wieder, und als im Juli die Tante Schlabrendorf in Gröben auf ärztlichen Rat ins Wildbad reiste, gehorchte Johanna gern dem Wunsche der alten Gräfin und schloß sich ihr als Begleiterin an.

Anfangs erhielten wir nur gute Nachrichten, sehr gute sogar, und mit einer großen und beinah kindlichen Freudigkeit sprachen ihre Briefe von ihren Erlebnissen, auch von den Auszeichnungen und Ermutigungen, die man ihr hatte zuteil werden lassen. »Und so sehen Sie denn, wieviel Liebes mir begegnet ist.« – »Aber«, so hieß es eine Woche später, »es sind auch schwere Tage für mich angebrochen; ich habe sehen müssen, wie leicht es ist, mich aus der Sammlung heraus- und in die Zerstreuung hineinzubringen, und wie lieb ich noch die Welt habe. Die dunklen Tiefen unseres Herzens können uns ordentlich erschrecken, und ist kein anderer Trost als der einzig eine, daß Er, der diese Dunkeltiefen in aller Deutlichkeit erkennt, auch so viel Geduld und Liebe hat.« Und daran reihten sich dann Worte der Sehnsucht nach Siethen und dem ihr liebgewordenen Wirkungskreise.

Das war Anfang September. Aber schon am 6. hörten wir allerlei Beunruhigendes über ihr Befinden, und am 9. eilte Frau von Scharnhorst an das Krankenbett ihrer Tochter. Sie fand sie besser, als zu hoffen gewesen war, und ich empfing gleich danach einen Brief, der dies bestätigte: »Johanna ist noch recht schwach, aber alles Fiebers unerachtet ruhig. Meine Pflege besteht eigentlich in nichts andrem, als sie vor allem Störenden zu hüten. Ich sitze neben ihr und wehre die Fliegen und richte dann und wann ein beruhigendes Wort an sie. Bitten Sie Gott, daß er uns gnädig ist und seinen Willen tut nach seinem Rat und nicht nach unserem verkehrten Denken.«

Und dieser Rat und Wille war, daß sie von uns genommen werden sollte. Wenige Tage nachdem dieser Brief geschrieben, stellten sich heftige Fieberphantasien ein, in denen die Kranke wunderbare Gesichte hatte; sie sah Gott und Christum und sprach mit ihnen, und nach einer dieser Erscheinungen sagte sie fest und freudig: »Und wenn du gefragt wirst, ob die Herrlichkeit des Herren wirklich so groß sei, dann sage getrost und getreulich: ja.«

Wir aber waren daheim mit unseren Gedanken unausgesetzt um sie, geteilt zwischen Furcht und Hoffnung. Und auch am 13. Oktober abends versammelten wir uns, alt und jung, wieder in der erleuchteten Kirche zu Siethen und beteten unter vielen Tränen um Erhaltung ihres teuren Lebens. Aber um ebendiese Stunde ging ihre Seele in die ewige Heimat ein.

Ihre Hülle wurde nach Siethen übergeführt und im Beisein vieler Hunderte von nah und fern begraben. Auch das alte Fräulein von Görtzke kam von Großbeuthen her herüber und sagte bewegt: »Es war doch ein reich gesegneter Tag, an dem sie auf diese Erde kam.«

 

Alles, was der Mutter noch an Lebensfreude geblieben war, war nun dahin, und das einfache Haus, das seitens der Tochter vor wenig Jahren erst zum Troste Verwaister gegründet worden war, es war jetzt wie mitgegründet für sie. Denn sie war auch verwaist, eine verwaiste Mutter, und der Tochter zu folgen der einzige Wunsch noch, der ihr Herz erfüllte. Sie sehnte sich nach Wiedervereinigung mit ihr, und als der Todesjahrestag gefeiert werden sollte, sagte sie: »Mir ist, als ob wir heut ihren Geburtstag feierten. Ich fühle mich fremd und allein hier und möchte sie doch nicht wiedersehn auf dieser armen Erde.«

Von Aufgaben war ihr nur noch eine geblieben: Ausführung alles dessen, was der Tochter einst ein Wunsch gewesen. Und sie begann damit. Aber eh ein Jahr um war, unterbrach ein neuer Todesfall das eben erst Begonnene: die verwitwete Gräfin Schlabrendorf starb und hinterließ ihr, der Schwägerin, das Gröbener Erbe. Dies hätte nun unter Umständen eine Freude sein können, aber es entsprach wenig den Frau von Scharnhorstschen Ansprüchen und Neigungen, und von dem Augenblick an fast, wo sie das Erbe hatte, beschäftigte sie der Wunsch, es wieder los zu sein. Sie fühlte sich durch dasselbe nicht gefördert und gehoben, sondern nur beengt und gebunden in dem, was ihr einzig und allein noch in der Seele lag, und so kam sie zu dem Entschlusse, beide Güter zu verkaufen. Aber an wen? »Nur an einen Wohlhabenden«, so schrieb sie, »der meinen braven Leuten, wenn sie des Beistandes bedürftig sind, diesen Beistand auch leisten kann und leisten will – nur an einen wohlhabenden Mann von ehrenwerter und frommer Gesinnung will ich die Güter verkaufen, ohne Rücksicht auf einen höheren oder geringeren Preis.« Einen solchen Käufer glaubte sie schließlich in Herrn von Jagow-Rühstädt, Erbjägermeister der Kurmark Brandenburg, gefunden zu haben, der denn auch, nach längeren Unterhandlungen, die beiden Güter für die Summe von 120 000 Talern an sich brachte. Sie selbst erhob nur noch den Anspruch: in Gröben das Herrenhaus beziehen und es auf Lebenszeit als ihren Witwensitz ansehen zu dürfen. Diese Bedingung wurde gern erfüllt, und im Frühjahr 1860 erfolgte Frau von Scharnhorsts Übersiedlung aus dem Herrenhause zu Siethen in das zu Gröben. Es wurd ihr sehr schwer, dieser Umzug und Ortswechsel, und ich finde darüber in einem mir vorliegenden Schwesternbriefe das Folgende: »Frau von S. ließ mich rufen, und wir waren nun das letzte Mal in dem traulichen Siethner Herrenhause zusammen, in dem sie vierunddreißig Jahre lang in Segen gewirkt hatte. Sie war sehr ernst, las mit mir das zweiundvierzigste Hauptstück aus Thomas a Kempis' ›Nachfolge Christi‹ und rief dann ihre Leute herein, um sich von ihnen zu verabschieden. Alles weinte. Danach erhob sie sich, sah sich noch einmal in den alten Räumen um und ging endlich, meine Hand ergreifend, mit mir nach dem Asylhause hinüber. Da legte sie sich nieder, und erst als sie wieder Fassung gewonnen hatte, fuhr sie nach Gröben, das nun, wider ihren Willen, ihr neues Heim geworden war.«

In diesem lebte sie noch sieben Jahr, all jenen Aufgaben hingegeben, die die schöne Hinterlassenschaft ihrer Tochter Johanna bildeten. An die Stelle des alten Fachwerkhauses in Siethen, das fünf Jahre lang und länger als Zufluchts- und Pflegestätte gedient hatte, trat ein massiver Neubau, der den Namen »Tabea-Haus« erhielt, auf dem Kirchhof ebendaselbst entstand eine Grabkapelle nebst einer daran anschließenden geräumigen Leichenhalle, vor allem aber wurd ein Kapital angesammelt und deponiert, aus dem, nach Ablauf einer bestimmten Frist, ein Pfarrhaus und eine selbständige Siethner Pfarre gegründet werden sollte. Die Durchführung all dieser Pläne bot ihr das, was ihr ein immer einsamer werdendes Leben überhaupt noch bieten konnte: den Trost und die Freude der Arbeit. Ebenso wuchs ihre Liebe zu den Kindern, deren Heiterkeit sie suchte, wie der Fröstelnde die Sonne sucht.

Endlich aber war die Stunde da, nach der sie sich seit lange gesehnt. »Als ich von Siethen herüberkam und ihre Hand faßte, kannte sie mich nicht mehr; sie war ohne Bewußtsein. Der Geistliche las ihr, wie sie's in gesunden Tagen eigens gewollt hatte, Bibelsprüche vor, von denen sie den schönen Glauben unterhielt, daß dieselben auch ihren umnachteten Geist durchdringen, ihr Herz erheben und Trost und Heil ihr spenden müßten. Und unter diesen schönsten und schlichtesten Litaneien schlief sie hinüber.«

 

»An geistiger Bedeutung«, so darf ich brieflichen Mitteilungen entnehmen, »stand Frau von Scharnhorst der Gräfin Leo Schlabrendorf nach, aber sie war dieser an Gemüt und Zartheit überlegen. Und dieser Zartheit unerachtet auch an Originalität. Es war dies der Schlabrendorfsche Zug in ihr, etwas Geniales, Sprunghaftes und Blitzendes, das, so gemildert es auftrat, doch gelegentlich an den exzentrischen Vater erinnerte.

Ihrer Liebenswürdigkeit vermochte nicht leicht wer zu widerstehn, und Personen gegenüber, zu denen sie sich hingezogen fühlte, bezeigte sie sich von einer Anmut, von der schwer zu sagen war, ob sie mehr aus ihrer Gefühls- oder ihrer Denkart entsproß. Sie hatte den ganzen Zauber der Wahrhaftigkeit und einer christlich edlen Gesinnung.

Am ausgesprochensten aber erwies sich ihr Wesen in ihrer Pflichterfüllung und Hingebung, die vielfach den Charakter absoluter Selbstverleugnung an sich trug. Es war ihr Bedürfnis, ihr eignes Glück dem andrer zum Opfer zu bringen. Vielleicht (wenn dies je möglich ist) ging sie hierin um einen Schritt zu weit.«

Ein andrer Zug ihres Charakters war ihre Gleichgültigkeit gegen irdischen Besitz, ja fast ihre Verachtung desselben, und noch ihre letzten Lebensjahre gaben einen glänzenden Beweis davon. In derselben Stunde fast, in der seitens des Herrn von Jagow die Kaufsumme für Gröben und Siethen an sie gezahlt worden war, erschien ein Anverwandter von ihr, um ihr seine Verlegenheiten zu schildern. Verlegenheiten, die nicht klein waren und ungefähr wenigstens an die Höhe der eben empfangenen großen Summe heranreichten. Einen Augenblick zögerte sie, weil die Plötzlichkeit und Berechnetheit des Überfalls ihr eine nur zu begreifliche Mißstimmung bereitete, dann aber holte sie mit nervöser Hast alle die kaum erst in ihren Taschen untergebrachten Päckchen aus ebendiesen Taschen wieder hervor und schob sie hastig und stoßweise dem fast ebenso verdutzt wie glückselig und verhimmelnd Dastehenden zu, der aus jeder dieser Bewegungen entnehmen mußte, daß sie das Geld, aber freilich auch den Empfänger so bald wie möglich los zu sein wünsche.

Hieran knöpf ich noch, was ich den Aufzeichnungen einer schon an anderer Stelle zitierten Kaiserswerther Schwester entnehmen konnte: »Mit Frau von Scharnhorst zu verkehren oder sie zu kennen, ohne sie zu lieben, wäre für jeden Menschen unmöglich gewesen. Wenn eins unserer Kinder erkrankte, bestand sie darauf, die Nachtwachen mit uns zu teilen. Ein andermal, als Fräulein Johanna noch spät am Abend nach einem eine Stunde Wegs entfernten Dorfe gerufen wurde, wollte sie die Tochter bei so später Stunde den einsamen Weg nicht machen lassen, und als diese hinwiederum nicht abließ, auf die Hilfe hinzuweisen, die zu bringen ihre Pflicht sei, ging die Mutter selbst aller Tagesmüdigkeit unerachtet.

Unter dem vielen, was ihr oblag, war auch das Ökonomische, die gesamte Wirtschaftsführung, und es zählte mitunter zu den allerschwierigsten Aufgaben, alle Kranken und sonstigen Hausinsassen aus ihrer, der Frau von Scharnhorst, Küche mit zu versorgen. Als ich dann später selbst das Wirtschaftliche lernte, schien es mir mitunter, als verführe sie zu peinlich und akkurat und mache mir die Lehrzeit schwerer als nötig. Aber später hab ich einsehen gelernt, wie dankbar ich ihr gerade für diese strenge Schule zu sein hatte.

Schön war auch das an ihr, daß sie durch Enttäuschungen und Fälle von Vertrauensbruch – immer vorausgesetzt, daß es ein Sachliches war und nicht allerunmittelbarst ihre Person traf – in ihrem Allgemeinvertrauen nicht erschüttert wurde. Sie beklagte dann wohl das einzelne Vorkommnis, aber ließ es keinen Einfluß auf ihre nur auf Trost und Hilfe gerichteten Entschlüsse gewinnen.«

Selbstverständlich mischten sich auch menschliche Schwächen in ihr Tun, und das Nachstehende, das mir von andrer Seite her zugeht und ihrem Bildnis ein paar Schattentöne gibt, wird dasselbe nur um so sprechender und anziehender machen.

»Unzweifelhaft, Frau von S. war eine durchaus vornehme Natur und ausgerüstet mit allen Tugenden eines edlen und großmütigen Herzens. Aber eines fehlte ihr: die rechte Freudigkeit der Seele, was ich doch mehr als einmal als einen wirklichen Mangel empfunden habe. Sie stand nicht nur in der Melancholie, nein, sie pflegte sie direkt, und das alte Fräulein von Görtzke traf es durchaus, als sie mal in ihrer humoristisch-treuherzigen Weise sagte: ›Frau Johanna fühlt sich nur wohl, wenn sie neben ihrer alltäglichen Sorge noch ein ganz besonderes Unglück in der Tasche hat.‹ In der Tat, es war ihr von Jugendtagen an viel auferlegt worden, indessen doch nicht so viel, daß nicht ein glücklicheres Naturell es hätte bemeistern können. Sie wollt es aber nicht und suchte nur umgekehrt nach allem Bittren des Daseins, das für sie längst das Süße geworden war. In ihrem feinen Nervenleben auf jedes Kleinste reagierend, leicht empfindlich und verletzt und als echte Schlabrendorf auch Stimmungen und selbst Launen unterworfen, gelang es ihr nicht, zu jenem schönen Frieden der Seele durchzudringen, nach dem sie sich beständig sehnte. Sie verzieh Kränkungen völlig, aber sie vergaß sie nicht, und so blieb ihr beständig ein Stachel im Gemüte, der sein Wesen dadurch nicht einbüßte, daß er sich zumeist und in erster Reihe gegen sie selber richtete. So wurde sie denn, alles Kämpfens und Strebens unerachtet, von Jahr zu Jahr immer bitterer, und viele kleine Züge legen Zeugnis davon ab. Einer, als besonders charakteristisch, mag hier eine Stelle finden. Es existierten zwei Bilder von ihr, die der Düsseldorfer Professor Hildebrandt in den Tagen seiner und ihrer Jugend gemalt hatte. Das eine dieser Bilder besaß sie selbst, das andere war eine Kopie, die sich ihr Bruder, Graf Leo, bei demselben Maler bestellt hatte. Auch dies zweite Bild kam in ihren Besitz, als sie, nach dem Tod ihrer Schwägerin, der Gräfin Emilie von Schlabrendorf, die Gröbner Erbschaft angetreten. Aber davon ausgehend, daß ihr Andenken und Gedächtnis in keinem Herzen, ihre Siethner Gemeinde vielleicht ausgenommen, liebevoll fortleben werde, war es ihr widerwärtig, ihre Bilder in die Hände fremder und gleichgültiger Menschen übergehen zu sehen. Und so ließ sie denn im Sommer 66, in demselben Sommer, der ihrem Tode vorausging, beide Bilder wohlverpackt in eine Gondel bringen, stieg selbst hinein, fuhr mitten auf den Gröbner See hinauf und versenkte sie daselbst. Mit den Bildern zugleich allerhand Briefschaften und Erinnerungen aus ihrer Jugendzeit.«

Auf dem Siethner Kirchhofe ruht sie neben der ihr voraufgegangenen Tochter, und die Schöpfungen beider umstehen ihr Grab. An den Schluß ihrer Lebensschilderung aber stell ich folgende Worte: »Zu dem seltenen Glück einer harmonischen Übereinstimmung in Lebensauffassung, häuslichem Verkehr und Freundesumgang gesellte sich hier als seltenste der Gnaden eine jeden Tag neu gesegnete Tätigkeit, eine Wirkungssphäre, wie sie sich einer stillen und hingebenden Liebe zwar nicht ohne Müh und Arbeit, aber doch ihrer ganzen Natur nach fast wie von selber erschloß.«


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