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Hiernach folgte ein Schwanken oder Schweben; das Gespräch schien über ihnen an der Decke vorgegangen, während unten zurückblieb, womit es angefangen hatte, greifbare Tatsachen, körperliche Wesen. Beide Personen erstaunten, über so viel Wirklichkeit, der sie nichts mehr abgewannen. Lydia wäre wohl aufgestanden, um zu gehen. Ihre Bewegung ließ es an Vorsicht fehlen, mit dem Kleid, das die Knie eng einspannte. Die mürbe Seide widerstand, sie konnte reißen. »Gefangen«, dachte Lydia – und war erleichtert.
Ihr weiter, gewohnter Weg, sie machte ihn jeden Wochentag, er hatte sie selten ermüdet, solange sie ihn absichtsvoll zurücklegte, hin wie her mit ihrer standhaften Illusion. Wohin jetzt? Dies Zimmer bot keine Unterkunft, nur eine Rast, aber der Mann hier hatte ihr gewinkt, damit sie bleibe. Nicht die Gewährung einer Bitte war gemeint: er bat selbst, sie möge ihn nicht allein lassen. Hätte sonst sie gebeten? Sie bekam Zeit zu überlegen, wenn die Frage dringlicher war als was inzwischen eintrat.
Er hatte die Tür ein wenig geöffnet, er sprach hinaus, für Alain, der zur Stelle war und ihn deckte: von außen wäre er nicht zu sehen gewesen, übrigens wartete niemand, bis auf einen Apoplektiker, der schlief und röchelte. Der alte Jäger erklärte, daß er ihn gerüttelt, aber nicht für lange zum Bewußtsein gebracht habe. Der Mann hatte aus der Betäubung gefragt, ob er schon in Aix sei; er glaubte sich auf der Eisenbahn.
Bei diesen Einzelheiten verweilte Alain, weil er es schwierig fand, dem Direktor von dem Auftreten des Präsidenten Laplace zu sprechen: besonders von seinem Abgang durch die Hintertür. Léon Jammes war unterrichtet gewesen; vielleicht hatte er geschwiegen? Nicht im geringsten, denn Monsieur Conard fragte: »Ist Monsieur Laplace noch einmal durch die Halle gekommen?« Offenbar wollte er wissen, ob der Chef seither droben sei, in der Wohnung, bei der Frau, und in welcher Absicht, zu welchem Ende. Der Direktor, man sah es, überprüfte die Angaben des Polizisten. Die Dame drinnen hatte sich schwerlich verraten, meinte Alain. Sie blieb nur lange, meinte er.
Er sprach, ernst besorgt: »Ich halte fern, wen ich irgend kann, die Angelegenheiten dieser Klientin scheinen es wert zu sein. In allen Fällen natürlich bin ich für Störungen nicht verantwortlich« – eine Warnung, der Alte brachte sie schamhaft vor. – »Was wollen Sie sagen?« fragte Monsieur Conard, in Wahrung seiner Würde. Zur Ordnung gerufen antwortete Alain streng amtlich, ohne Nachdruck, eine Meldung, die ihn nicht anging. »Monsieur Laplace wird wiederkommen, denn Monsieur Pigeon ist schon seit einer Weile zurück.« Dies gesagt, schob er plötzlich den Türflügel gegen den hinausgelehnten Conard. Ja, der Beamte niederen Ranges drängte seinen Direktor in das Zimmer zurück.
Erstaunt sah Frédéric nach Lydia um, aber sie nahm nicht Anstoß, wenn seine Autorität mißachtet wurde. Sie lächelte vor sich hin, ihr goldener Sack lag offen auf dem übergeschlagenen Bein, diesmal hatte sie die gewagte Probe auf die Haltbarkeit der Seide wirklich gemacht. Es war geschehen von ihr selbst unbeachtet; sie war entspannt, und sie träumte. Ist es nur Vergeßlichkeit? Ist es die Kraft einer Natur, die sich wehrt gegen alle bis jetzt ertragenen Zumutungen;` die, unabhängig von jeder Lage, zu ihrem Schutz plötzlich heiter wird? Lydia hatte sich inzwischen verjüngt. Jugend, heimlich aufbewahrt, breitete ihren letzten Schein über das kleine blasse Gesicht.
Wieder einmal suchte sie in dem Sack, ein Feuerzeug, das endlich einer Falte entfiel, aber leer war. Frédéric tastete nach seinem; in demselben Augenblick, als er die Flamme unter ihre Zigarette hielt, wurde gleichzeitig geklopft und die Tür geöffnet – beides mit Autorität. Conard glaubte nicht anders, als daß Monsieur Laplace sich schon bekunde. Daher zündete er, ohne umzusehen, die Zigarette an. »Mais c'est Pigeon«, sagte Lydia. »Bonjour Pigeon.«
»Ich habe nicht die Ehre, Madame zu kennen«, sagte der Buchhalter so kalt er konnte. »Vous ignoriez mon existence«, sagte auch sie, in seinem Ton, gut nachgeahmt, so daß er zuerst erschrak. Sie tat nicht recht, noch mehr zu sagen. »Moi, je connais vos faits et gestes«, sprach sie mit ihrer eigenen Stimme, so ausdrucksvoll, daß er vergebens geleugnet hätte, es handele sich um die besonderen Dienste, die er Monsieur Laplace erwies. Die Folge war, daß er von jetzt an beim Sprechen spuckte.
»Ich tue ungefragt meine Pflicht, diese Dame frage ich zuletzt. Sie ist in der Bank noch niemals anders als unerwünscht zu sehen gewesen. Heute hält sie sämtliche Geschäfte auf. Gerade sie verursacht hier die Unordnung, gegen die meine Hilfe nötig ist. Ich habe …«
»Sie haben den Aufpasser gemacht, in meiner Wohnung, wo Ungehörigkeiten sich zutrugen. Madame hat die Wohnung nicht betreten, oder Sie beweisen es.« So behauptete Conard gegen sein besseres Wissen, denn wo man sich mit Recht verteidigt, läuft das Unzutreffende in der Eile mit. – »Ob ich es beweisen werde«, kreischte Pigeon; vom Triumph wurde die Iris seiner Augen hellgelb. Mit dem verwischten Gelbbraun des Gesichtes, den blauumlaufenen Backenknochen, den purpurnen Ohren, bot er ein seltenes Farbenspiel, dafür hätte man ihn bedauert. Es erklärte sich aus einem schlechten Magen und aus einer falschen Rolle. Nur ging er trotz allem zu weit.
»Ich, der das Vertrauen unseres Boss genießt – Sie sehen, ich spreche englisch, Sie auch? –, kann Ihre Eifersucht verstehen, Conard.« – »Sie dürfen mich Direktor nennen«, wurde eingeschoben, mit einer gewissen Nachsicht, obwohl keiner ganz verläßlichen. – »Direktor sind Sie gewesen« jetzt hatte Pigeon eine Quetschstimme, sein Inneres mußte in völligem Aufruhr sein. »Sie hassen Ihren Nachfolger.« Hierbei schlug er auf seine grüne Brust. Infolge unbeherrschter Bewegungen klaffte sein Arbeitsrock, die Weste stellte sich als grün heraus.
Damit wäre er fertig gewesen, bereitete auch schon seinen Abgang vor, ja, versuchte den neutralen Ton des Beamten wiederherzustellen. »Ich habe gutwillig gewarnt«, sprach er. »Wenn der Präsident jetzt einträte, wäre es zu spät.« Bevor aber der Mann, dessen Macht heute so sehr gewachsen war, die Tür ergriff, mußte er erkennen, daß die beiden ihn auslachten. Sie betrachteten nicht ihn, sondern einander, ihre Köpfe derart geneigt, daß der Gegenstand ihrer Belustigung keinen Zweifel zuließ. Der kommende Machthaber wurde leicht, er wurde heiter genommen.
»C'est tant pis pour vous, mes agneaux«, sagte er, in der Absicht, ironisch zu sein. Gesellschaftlich unerzogen, übertrieb er auch hier wieder. »Aufrichtig wie mein Respekt vor Ihnen ist, Conard, gehört Ihnen auch die Anhänglichkeit der Bank – und die Treue Ihrer Frau«, krähte der erstaunliche Mensch, jetzt konnte er krähen. Es ist wahr, daß eine Faust, nach seinen Zähnen gestoßen, die Wirkung störte. Indessen machte Pigeon noch kikeriki, während er aus der Tür flog; es war Reflex, er wußte davon nichts.
Die Tür, von innen sanft angezogen, wurde draußen heftig wieder aufgestoßen, eine Faust, blau, färberblau – wie hatte er jetzt das gemacht – erschien, schüttelte sich, fuhr ab, nicht ohne daß Frédéric sie mit breitem Stift gezeichnet hätte. »Was haben Sie darauf geschrieben?« fragte Lydia. – »Salaud. Was sonst.« Harmloses Lächeln beiderseits. »Gut«, meinte sie, »daß für das Wort synarque keine Zeit blieb.« Er hob die Schultern, um ihr zu zeigen, was alles er satt habe, Furcht vor den Folgen, eine Reue, die nichts ändert.
Dies war eine sehr vorläufige Unbesorgtheit, Lydia begriff es; von ihrer eigenen erwartete sie ebensowenig Dauer wie von seiner. Gleichviel, ihre Heiterkeit, seine und ihre, war ihnen geschuldet für voraufgegangene Ängste, Spannungen, die außerordentliche Anstrengung, die es gekostet, so vielen Lebensgefahren standhaft entgegenzusehen – und falsche Schlüsse daraus zu ziehen, zum Beispiel, daß man sich opfern soll. Sterben, wäre es füreinander, für Estelle, für Frédéric, wird verwechselt mit Ruh und Frieden bekommen. Aber Tote haben gar nichts, auch den Tod nicht; sogar er kümmert und tröstet die Lebenden allein.
Wenn dies ihre beiläufigen Gedanken waren, sie mußten gleichzeitig abgelaufen sein in beiden, wieder lächelten sie harmlos. »Das war ein hübscher Auftritt«, sagte Lydia leicht und lieblich. Sie hören, und wirklich erinnerte man sich vor allem der genossenen Darbietungen, des Farbenspiels, der Verrenkungen und Sprünge, der komischen Gestalt aus einem altmodischen Vaudeville. »Ein Augenblick länger, er wäre Ihnen mit dem Kopf in den Magen gerannt. Auf der Bühne sah ich es einst.«
»Aber Sie hätten es nicht erhofft von einer farblosen Erscheinung wie unser Pigeon. Das sind die großen Zeiten, die Augenblicke, wenn gewöhnliche Leute sich selbst übersteigern.« – »Sie legen sich eine neue Qualität bei, synarques, Arier, was weiß man: schon beginnt ihr Karneval. Wie er endet, wird nicht gefragt.« – »Genug, daß diese Figur wahrscheinlich meinen Platz bekommt.« – »Und Direktor wird. Fänden Sie es so übel?« – »Nichts weniger.«
Sie lächelten, beide in derselben Art, nicht ganz unbekümmert, das würden sie einander nicht vormachen; aber mit dem Sinn, der ihnen gemeinsam ist, für das Bild der vorhandenen Dinge, und das hat Komik, in aller Abscheulichkeit seine Komik. Jedenfalls darf man zusammen heiter sein, nachdem man zusammen gelitten hat. Möglich zuletzt, daß der Buchhalter, der Direktor werden will, ein Glücksfall ist. Frederic mit Estelle bekommen die Gelegenheit, aus dem widerwärtigen Bild zu verschwinden. Sind sie erst abgesetzt und verreist, interessiert auch Lydia niemand mehr.
Als ob sie nicht blieben, was sie sind nunmehr: Gegenstände, das Unglück ist frei, nach ihnen zu greifen, das Glück nicht weniger. Gerade darum genießen die Anwesenden den gegenwärtigen Augenblick, diese sorglosen Atemzüge. Frederic sah im Zimmer umher, wie in einem schon aufgegebenen. Lydia erriet ihn; er dachte: »Aufbruch. Zu Schiff von dannen.« – »In den Krieg, und als erster fallen«, hatte auch einmal in seiner inneren Welt vornean gestanden – könnte noch immer da sein, ist nur verdunkelt. Fallen, verliert von seiner Dringlichkeit das meiste, wenn nicht mehr überwältigend sicher ist, für wen.
Lydia war es, die sich auf Estelle besann. Sie schwieg von ihr, sie gönnte es dem Mann, daß er für kurze Minuten seinen Aufbruch von hier als geschehen ansah, nicht fragte, was ihn zurückhielt: die Umstände und Personen, die an Estelle hingen, noch mehr als an ihm. Bald wird alles wiederkehren. Bis jetzt lächelt er knabenhaft heiter, darf es auch, denn was ist seine Estelle? »Alles, nur nicht tragisch«, entschied Lydia.
»Sie? Sie hat längst wieder etwas Lächerliches erlebt: vielleicht mit dem Comte X; nicht zu reden von Pigeon! Wäre er droben in meinem Beisein aufgetreten wie hier, das Problem des schlechten Kaffees hätte unsere Laune nicht vergiftet, bevor er in meinen Magen gelangte. Mais ce n'est qu'une boutade«, schloß sie im stillen. Ganz ohne Sorge war sie schon nicht mehr. Wenn Frédéric dennoch von Estelle begann …
Frédéric machte es sich, zum ersten Mal, seit sie hier war, bequem hinter seinem Schreibtisch; er verschränkte sogar im Nacken die Hände. Sein Blick legte sich von selbst auf Lydia, nicht auf Estelle. Ihr Bild kehrte ihm nur den Rahmen zu. Er wendete es nicht um.