Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sie selbst

Er sprach. »Es ist nicht übel, einmal Zeit zu haben. Die Vormittage sind so stark besetzt. Ich nehme an, daß Pigeon meine Kunden abfertigt, um sich in seine künftigen Funktionen einzuleben. Zweifellos habe ich noch immer das Recht, einen Sekretär hereinzurufen. Finden Sie nicht? Wenn der Patron, zusammen mit seinem neuen Direktor, eintritt und mich entläßt, würde die Szene Zeugen haben, für ein gerichtliches Nachspiel.«

»Zeugen?« wiederholte sie. »Ah! Der Sekretär – und ich. Aber es wäre unnütz: er entläßt Sie nicht.« – »Meinen Sie?« bestätigte er; das Einverständnis lag im Ton. Mit Zustimmung hörte er sie weiter sagen: »So leicht gibt er weder Sie frei noch Estelle.« Sie hatte nötig gefunden, den Namen auszusprechen, warum verschwiegen sie ihn beide.

Ihm verging davon nicht alle Laune; es war ein gewagter Übermut, wie sie wußte. »Natürlich müßte ich hinaufgehen«, bemerkte er beiseite, die Aufgabe wird anerkannt, aber sie kann warten. »Erstens darf ich es nicht, der Patron wäre zu froh, mich auf der Versäumnis von Amtsstunden zu ertappen. Außerdem ist es besser für Estelle und mich, uns noch ein wenig zu entbehren.« Lydia erwiderte hierauf: »Sie vergessen doch nicht ihre Unschuld.«

»Nein«, sagte Frédéric. »Die Frau bleibt unschuldig wie je. Ihre Unschuld wird nicht berührt, nur in den Schatten gestellt von Umständen, die wie auf Verabredung zusammentreffen, wer kann dafür. Ihre Freundschaft mit dem Comte X – wenn jemals Beziehungen rein, soll heißen gegenstandslos sein können, waren es diese: ich darf es behaupten, ohne mich lächerlich zu machen. Denn es gibt keine Unreinheit, zu der dieses erlaubte Verhältnis nicht geführt hat und noch führen soll, oder ein Wunder geschähe.«

»Aber Sie hassen die Ärmste«, hauchte Lydia. »Eher mich selbst«, gab er sogleich zurück. »Wenn es einen Sinn hätte angesichts der eisernen Zusammenhänge.« Alles dies war augenscheinlich überlegt worden, vorhin, während er auf Pigeon blickte als auf den Komiker des Abscheulichen, während er seinen Rang als Direktor schon aufgab und sich fortwünschte, auf eine Reise: nirgendshin, nur fort aus unhaltbaren Zuständen. Je verwirrter die Wirklichkeit, um so leichter fährt ein erträumtes Schiff in die Weite. Estelle ist wieder vom weißen Licht beglänzt, vergangen sind die zufälligen Farben der Schuld. Indessen waren sie nicht vergangen, die Zeit der schönen Reise stand bis nach den Ereignissen aus, gesetzt, man wäre nachher da und eine Flucht könnte schön sein, übrigens verbot der Krieg sie.

Verwickelte Umstände ordnen wollen, ist müßig, wenn vielmehr groß im Vordergrund die Aufgabe steht, Monsieur Laplace zu erwarten. Entschlüsse erweisen sich falsch, sie fassen ins Leere, besonders le beau voyage; davon sind nun seine Augen beinahe schon traurig. Hier hörte Frederic die Stimme, die man nicht wieder vergißt, von der man jedesmal erschauert. »Sie überlegen viel«, sagte sie. »Lassen Sie doch, die Dinge denken selbst. Was hilft es zu wünschen: Emporte-moi, wagon! Enlève-moi, frégate!« Der Vers war zauberisch gesprochen, er hätte ihn so sehnsüchtig nie gedacht. Außerdem, woher wußte sie?

»Woher wissen Sie?« fragte er ruhig; ihn erschreckte es gar nicht, wie sie seinen Bewegungen folgte, den inneren, aber vorher gewiß den körperlichen, da die einen die anderen nach sich ziehen. Sie antwortete, ach! wie reizvoll: »Ich sehe Sie doch. Ihre Idee ist schon eine ganze Weile: Emportemoi!« – »Weiter, die Verse«, bat er. »Ich weiß sie nicht weiter«, behauptete sie, aber er glaubte ihr nicht. Sondern sie versagte ihm einfach ihre Stimme. Den Wohllaut von Versen sollte er von ihr nicht haben. Mehr als nur ihre Stimme, sich selbst versagte sie.

Ohne Weichheit, der Klang gebrochen, die Absicht neutral, um nicht zu bezaubern, erinnerte die Stimme ihn daran, daß Estelle natürlich ablehnen werde zu fliehen. »Doch nicht wegen des Comte X«, meinte er. Sie antwortete darauf: »Sie wissen, daß Ihre Frau in die Karriere ihres Mannes verliebt ist.« Eine sinnreiche Feststellung: »Im Grunde liebt sie auch das Risiko, das sie mit Ihnen eingegangen ist, und ihr französischer Patriotismus wird inniger, weil er anfängt, Opfer zu kosten. Sie wird hierbleiben – wie Sie selbst.«

Offenbar hatte er von dem vorigen Übermut etwas zurück, denn er sagte: »Aber wie wäre es, wenn anstelle meiner Frau Sie, Lydia …« Sie nahm es sachlich, ohne Scherz. »Weder mit Ihnen noch allein. Um zu bleiben, wo ich bin, habe ich außer den Gründen einer anderen noch meinen eigenen: das Schicksal, das ich gewählt habe. Wie lange wäre ich sonst schon fort.« – »Gewählt.« Er hob das Wort hervor. »Sie wollen gewählt haben, während Sie Estelle unschuldig nannten an allem, was ihr zustößt? Sie sind stolz, Lydia.«

Hierüber schwieg sie, er konnte sie betrachten – das erste Mal, wie ihm einfiel, sie wirklich betrachten. Beide hatten dringliche Angelegenheiten versehen, sie waren vollauf tätig gewesen, seit dem Augenblick ihrer Begegnung. Aber handeln macht nicht vertraut, am wenigsten um Tod und Leben handeln: nötig ist, zu betrachten.

So sah er endlich mit Überlegung, daß sie eine verjährte Maskerade trug; daß sie in Wahrheit keine Zeitgenossin war, was die Kleidung andeutete, aber die tieferen Zeugnisse legten ihre Hände, Knie, Schultern ab – der Spitzenshawl war heruntergeglitten. Alles, das Kostüm wie die physischen Auszeichnungen blieben zuletzt unauffällig, weil mit einem Anstand ohne Vergleich getragen. »Sie ist nicht alt, kurz davor bleibt sie stehen. Dem Alter wird Halt geboten werden von einem Stärkeren, und er wird schneller sein.«

Frédéric sah eine Fremde von Distinktion, aber sie ist imstande, eine arme Arbeiterin vorzustellen. Auch Armut und Krankheit werden mit Anstand getragen, und wieviel Kraft verlangt es. »Wenn sie den Hut über ihr Gesicht senkt, bedeutet es Überdruß? Verbirgt es Schmerzen? Auf jeden Fall wird sie erhalten von ihrem Hochmut – den sie nicht kennt, so gründlich ist er. Gegen das Unglück verhält sie sich höflich – wie übrigens gegen uns.«

Inzwischen mußte er ihr wieder bei einer Zigarette behilflich sein, diesmal wurde sie in der Handtasche gefunden. Ein goldener Beutel: sie, die nichts besitzt, gibt ihn weder fort noch läßt sie ihn glänzen. Sie glaubt, ein Beutel sei immer golden, wenn sie ihn trägt. Schuhe hält sie für das einzige, was neu und augenscheinlich kostbar sein muß. Sie weiß sich betrachtet; aus Höflichkeit und Hochmut leiht sie ihr kleines blasses Gesicht. Der Mund ist keiner, der genossen hat; die Falten kommen vom Lachen. Sie und Gelächter!

Gerade dieses letzte Wort erinnerte ihn an seine eigene Mittelmäßigkeit. Es selbst hat nichts von ihrer Art, die dem Ernst der Dinge lange überlegen war. Ist es vielleicht noch immer? Die Spur wenigstens dauert. »Que n'ai-je sa sérénité altière!« wünschte sich der sonst richtig ausgestattete Mann, den nur gerade die Katastrophen störten. Er wollte wissen, welche Augen sie mache, nun es zweifellos ernst war. Die Augen sollen der Mensch selbst sein. Sie bemerkte seine Absicht, und sie erlaubte, daß er nachsehe.

»Mais n'attendez rien«, sagte sie im voraus. Es war ein verwischtes Veilchenblau, nicht strahlend, auch nicht stumpf; der Ausdruck, mehr besonnen als lebhaft, überging von ihrer Natur und Haltung viel. »Vous avez compris?« fragte sie. »Après tout c'est la fatigue d'avoir vécu. Rien de plus.« Sie leugnete ihre Krankheit, wollte nur ermüdet sein. Sie senkte den Blick, war verstummt und hatte ein kleines blasses Gesicht. Frédéric fühlte die Minute vergehen, sie verging schwierig.

Er hatte eine Scheu, von ihr selbst zu sprechen; ihre Augen, ihre Stimme, beide wollten ungenannt bleiben. Sie selbst war anonym, war es wohl nicht nach jeder Seite, die Polizei hätte gesagt: wir kennen sie. Davon wurde sie nur rätselhafter. Wie? Eine Frau, die schön war auf die eine oder andere Art, auf eine attraktive gewiß, und wäre nur der Reiz gemeint, ihn hat sie behalten. Vielmehr, diese Anziehung muß neu sein, sie besteht in der Schwebe zwischen den Altersstufen, das nahezu vollendete Erleben einer Person entsendet ihren Zauber, einen mehr als nur rührenden.

Die Sätze sind nicht von Frédéric: er empfand sie; davon wurde ihm bewußt, wie sehr er beeinflußt war, daß er einer Frau gegenüber saß ohne ein Wort für sie selbst. »Das ist unerlaubt, es kann roh sein, nach allem Voraufgegangenen. Unpersönliche Schrecken, lästige Welt. Ist man aber darüber hinweg oder begegnet ihnen endlich heiter, dann ein ungalantes Versäumnis: es geht nicht länger.« Gleichviel, seine Scheu hielt stand. Was er tun konnte, war nicht nach ihr, nur nach einem Kleidungsstück zu fragen.

»Sagen Sie mir doch, woher diese Schuhe kommen.« Sie war nicht verwundert. »Sie wollen wissen, wieso ich mit alten Sachen neue Schuhe trage, wovon ich sie bezahle, was noch?« – »Nichts weiter; es ist schon indiskret genug.« – »Gar nicht«, sagte sie. »Bis jetzt kennen Sie mich wenig, da wir nur beide sterben wollten und des Ungewöhnlichen mehr. Wichtiger war mein Alltagsleben. Ich bekam tatsächlich manchmal Geld.« – »Von wem?« Sie schob dies mit der Hand beiseite. »Genug für Schuhe oder Essen. Für beides – nahm ich es nicht. Man hat vermutet, der Absender sei ein Verein für gefallene Mädchen – oder gestürzte Damen.«

Er fand nicht Zeit, das letzte abzulehnen, sie ging darüber hin. »Ich war eine große Frau, même une femme de conséquence.« Dies neutral, man hätte gemeint verständnislos, als ob ein Kind nachspricht, was es von den Eltern erlauscht hat.

»Das sieht man«, erwiderte Frédéric. »Ich glaube, jetzt noch mehr. Im Zweifel zwischen einst und jetzt, bin ich dankbar, daß wir uns nicht zu früh treffen.« Worauf sie ihn betrachtete, ohne sogleich zu sprechen. »Sie haben recht. Erraten Sie wohl, daß ich nicht viel taugte?« – »Ich höre«, sagte er, denn ihre Stimme, anders als vorher überwältigte sie ihn, mit dem Klang der Erinnerungen. Er hätte es schwergefunden, die Wahrheit zu unterscheiden. Im stillen ergab er sich. »Die Frau kann mir Märchen erzählen, welche sie will. Ein Bankdirektor wie ich sollte wirklich entlassen werden.« Übrigens begann sie einfach mit ihren finanziellen Wechselfällen.

»Ich existierte nie anders als auf Kündigung. Mein Gatte war sehr reich, aber abhängig von politischen Zufällen, neben den anderen. Obendrein spielte er. Wir konnten vor dem Ruin stehen, mehrmals habe ich es erwartet. Um so mehr warf ich mit dem Geld, das hätte niemals den Ausschlag gegeben.« Frédéric war hier im Begriff, eine Frage anzumelden, aber sie antwortete schon. »An diese Küste kamen wir wenige Jahre vor dem Krieg, jetzt ist ihre Zahl unermeßlich. Mit dem Sitz seiner Gesellschaft in Paris, hatte Baron Kowalsky dennoch seine alte Staatsangehörigkeit behalten, eine seither untergegangene Monarchie.«

Pause, um nicht husten zu müssen. Er sagte: »Den Kaiser sah ich eines Tages.« Frédéric sprach es deutsch. »Ich erblickte in einem offenen Wagen den lichtblauen, schlanken Rücken eines alten Mannes, der sich nicht anlehnte. Er war allein. Von seinem Hut wehten Hahnenfedern. Das war alles. Aufsehen erregte er nicht.« – »Das war alles«, wiederholte sie.

Ihr Bericht ging weiter, sie rauchte auch wieder. »Unsere Villen und Schlösser, in Cap Martin, Saint-Raphael, Cannes, gehörten allen unseren Bekannten, ihren Freunden, ganz Fremden vielleicht. War das letzte Bett vergeben, blieben die Baccarat-Tische, an denen die Nacht vergeht. Eines Morgens früh, als die Menge sich verlor, blieb eine Sängerin übrig, kann ich mich entsinnen.«

Er unterbrach. »Ich hoffe, daß etwas Heiteres kommt. Lassen Sie mich Ihnen die Zigarette fortnehmen, Lydia.« Ihr Anfall erfolgte dennoch. Sie ertrug ihn, still über sich selbst gebeugt. Nachher entdeckte er unter ihrem Hut das Schimmern der Wange, die sie trocknete – mit der Puderquaste. »Heiter war alles, weil ich heiter war. Sonst wäre es nur komisch gewesen – oft genug in der Art wie Pigeon.« Ihre Stimme hatte sich verschleiert, ein Zauber mehr, er begriff die Herkunft nicht, oder sie war zu klar. Die Verführerin wäre lebendig geblieben in der Sterbenden.

»Strengen Sie sich nicht an.« Sein nächster Satz paßte auf den vorigen nicht. »Monsieur Laplace wird sich freuen, uns weinend auf ihn warten zu sehen.« Da lachte sie und dachte fortzufahren, aber wovon. Er half ihr. »Eine Sängerin, deren Sie sich entsannen.«

»Wie sollte ich nicht. C'est tellement à ma gloire. Sie war nicht ausgesungen, keine vergangene Größe. Bevor es dahin kam, fand sie einen jungen Gatten und ein Schloß. Um so besser, man hatte ihr schon mißtraut, wie Günsberg von der Oper Monté-Carle; er wollte sie nicht auftreten lassen. Sie hatte sich kompromittiert, auf eine ungewöhnlich schamlose Art, ihren Liebhaber gab sie vor Zuschauern seiner Frau zurück, im Austausch mit einem Collier. Schwer konnte man den Handel übersehen, er war du domaine public. Aber man konnte den Vorfall ins Sensationelle umwenden, ich mußte es Günsberg nur klarmachen.«

»Ich wette, daß er die Rolle der Sängerin Ihnen anbot.« – »Woher wissen Sie?« Seine Bemerkung hatte ihr erlaubt, ihren Atem zu ordnen: es war die Absicht, als er sie unterbrach. »Ja. An dem Abend hätte ich Carmen gesungen ohne die Ehre zu bezahlen; er hatte für uns beide keinen Ersatz. Genug, sie sang und siegte. Je me demande si, sans moi, elle aurait alors dégringolé? Wäre sie, ohne mein Eingreifen, damals abgerutscht? Sûrement sa situation aurait perdu cinquante pour cent, mais c'est tout. Je ne prétends pas l'avoir sauvée!«

Sie war sehr in Eifer geraten, auch die Zigarette zitterte auf ihrer Lippe. Er wunderte sich nicht mehr. Er hatte begriffen, daß dieses ein nichtiges Leben gewesen war, solange man es von außen sah. »Es gibt nicht nur ein Außen«, bedachte er. »War schon damals, die grande dame und femme de conséquence, im Grunde dasselbe Wesen, das hier einsam altert?«

Plötzlich besann sie sich. »Aber das war nicht komisch, oder doch? Ich unterscheide nicht immer; meine Erlebnisse waren alle komisch. Das heißt nur, daß meine Lage mir das Lachen erlaubte, und daß ich unmäßig lachte. Un rire immodéré offense une société, même revenue de tout. Es beleidigt sogar den Komiker, der doch belacht werden will. Ein gewisser Grad von Gelächter mißfällt ihm. Ich wußte noch nicht, daß der Beruf eines Komikers ihn der Melancholie nahebringt; auch der Bosheit, aber meiner wurde traurig.«

»Wer war dieser heitere Typ?« fragte er. »Ich sehe kommen, daß er sich umbringt.« – »Bravo. Es ist ein Vergnügen, Sie als Beichtvater zu haben. Ein Mensch, der mich über Gebühr amüsierte, ging daran zugrunde. Er hatte versucht, im Leben von mir ernst genommen zu werden. Als er endgültig daran verzweifelte, erschoß er sich in seiner Garderobe, gleich nachdem ich ihn auf der Bühne zu laut belacht hatte. Er ist der einzige Mann, der um meinetwillen starb, und er liebte mich nicht. Bin ich schuldig?«

Dies war die Frage, ihre ernste, letzte. Den einen Toten betraf sie nicht allein, ihr ganzes, sinnlos tragisches Leben war in die Frage verwickelt. Hier hatte sie das Gesicht erhoben, und es fragte. Er bewegte den Kopf, um zu verneinen, während er feststellte, daß die schmale Fleischfalte um ihr Kinn kein Alter, nur Leiden anzeigte und ihm vielleicht gefiel, weil sie rührte. Er erstaunte – nicht mehr ihretwegen. Er selbst befremdete sich, da beliebige Tage ihres Lebens, das aus flimmerndem Nichts bestanden hatte, ihm nahegehen konnten.

Wenn er für sie gefühlt hätte. Erotisch wußte er sich nicht befangen. Geschah überhaupt etwas, dann vielleicht eine weitläufige Übertragung der Persönlichkeiten, wie jemand einen Roman liest und mitgeht mit dem, man weiß nicht ob beneidenswerten Opfer einer Verführerin, die es lohnen würde; aber ist sie echt? »Des incertitudes, dès qu'on se mêle d'approfondir, geht man tiefer, wird alles fraglich«, sagte er für sie und sich. Hierauf beendete sie ihre Geschichte.

»Als mein Toter begraben wurde, versetzte mir eine Freundin: Warum weinst du? Es ist doch nicht dein erster Mord. Nun kannte ich keinen Vorgänger; aber so viel verstand ich jetzt, daß die Menschen, manche von ihnen, nicht ertrugen, meiner Unterhaltung zu dienen.« – Er fiel ein. »Auf diese Weise hat sogar der Comte X das Recht, sich zu rächen: man macht sich über ihn lustig. Alles Geschehene wird begreiflich; solange wir lachen wollen, heißt es Friede. Damit wir töten können, muß Krieg sein.«

»Ich werde Sie nicht wieder fragen, ob ich schuldig bin. Woran noch«, schloß sie müde. Er hatte eine unglückliche Regung, als er dachte: »Unschuldig, sie war es nie; nur leichtfertig – wie Estelle. Grade heute tritt ein Geschöpf seiner Zeit bei mir ein, um mich zu warnen. Auch damals gab man sich dahin und wußte nicht, wem: dem verwahrlosten Augenblick, den niemand verantwortete.« Ohne Wohlwollen ließ er fallen: »Sie hatten Liebhaber.«

»Solange mein Mann lebte? Sie wissen recht wohl, daß ich ihn nicht betrog. Übrigens war keine Zeit.« Er nickte. Das Nichts hat geflimmert. Sie war über ihre Kraft beansprucht zwischen Villen und Casinos. »Alors vous vous êtes droguée«, riskierte er. Das Lächeln, mit dem sie ablehnte, kam wohl ungewöhnlich aus alten Tagen wieder. »Vous avez l'air d'un docteur. L'amant et les drogues, ils ne connaissent que ça.«

»Wir kennen etwas drittes, den Tod« – sprach er, unerwartet sich selbst, nicht aber ihr. Sie bekam den Ton einer angeregten Unterhaltung, auf ihren bleichen Wangen erschien eine genau umgrenzte Röte. »Es wäre bei weitem das beste gewesen, zu sterben damals mit meinem Mann. Le baron Kovalsky mourut en 1914 au mois de mai, l'heure rêvée pour le Président de la Société des Tabacs d'Orient. Die Türkei sollte unsere Feindin werden, Abdul Hamid sein Reich verlieren, die Verträge, abgeschlossen mit dem Sultan persönlich, dem Freunde meines Gatten, wurden wertlos.«

»Da Sie die Gesellschaft genannt haben, fällt die Geschichte mir ein.« Sonderbar begierig fragte Conard: »Der Baron hatte es kommen gesehen?« – »Das ist es, was ich selbst mich fragte. Seine letzten Worte waren: Si j'avais su que je devais crever …« Sie vollendete nicht. Er bedachte, das mot de la fin habe der Tod, wie immer, und man versteht es nicht. »Was kann ein Kowalsky versäumt und sich vorzuwerfen haben?« fragte sie selbst. »Regelmäßig reiste er in Person dort hinüber, einmal, vor meiner Zeit, mit hohem Fieber. An seinem Bett, im reservierten Wagen, wachte sein Arzt. Präsident einer höchst modernen Anstalt, handelte er wie ein kaufmännischer Abenteurer von ehedem, der aus Eldorado das Gold heimbringt.« – »Die Hämmel mit den goldenen Kieseln«, erinnerte Conard.

»Wenn er nicht untergeht«, ergänzte sie. »Mein Gatte hat Schiffbrüche bestanden, Haremsintrigen und Bestechungen gehandhabt, er entging Mordanschlägen. Das ist mehr als in der langen friedlichen Pause damals gebräuchlich war. Ihn befiel nur ein leichtes Unwohlsein; qui aurait pensé alors qu'il fût au bout de son rouleau. Welch eine Überraschung! Seinem unterbrochenen Schlußwort entnahm ich, daß ich ruiniert sei. Keineswegs. Nur in unentwirrbare Geschäfte verwickelt, und auf einmal entzog ich mein Vertrauen allen Finanziers, ob Rothschild oder der Geldbriefträger. Warum?«

»Weil Sie jetzt einen Liebhaber hatten«, sagte Monsieur Conard trocken. Pünktlich erwiderte sie: »Einmal mußten Sie es treffen.« Die Büste aufgerichtet, den Kopf hoch, behauptete in dem Schattenreich der Erinnerungen eine Dame von Welt ihre Würde. Den Mann, der sich, genötigt von schwach begriffenen Antrieben, mit ihr aufhielt, überlief es träumerisch und kühl. Der Hutrand war von ihrer schnellen Bewegung zurückgeschlagen, eine schwere Welle blonder Haare bedeckte allein die Stirn, bis zu der Falte zwischen den Brauen. Er war sicher, erst jetzt hatte diese sich geworfen; sie erschien aber mühselig, von der ergebenen Mühsal eines gequälten Hauptes.

Und war reizend, wie bei einer vorigen Gelegenheit die schmale Fleischfalte um das Kinn. Lydia wäre vielleicht leer oder verwischt wie ihre Augen, solange Erinnerungen sie nicht stärker färbten. Könnte sie das trösten: ausdrucksvoll, schön, wenn man will, wird sie vom Altern, ja, von Unterernährung. Ein paar Falten tun es. Es hätte sich kaum gelohnt, sie ehedem zu kennen, als sie ihr langes Kleid prächtig nachschleifte beim Betreten ihrer Automobile. Nachgerade wären es Museumsstücke, aber sie sitzt hier. Lange sogar sitzt sie. Indessen gestand er sich, daß er ihrer nicht müde war. »Wäre ich es, wenn ich ihrer weniger bedürfte? Eine Frau tritt ein. Innerhalb einer halben Stunde wird sie eine Bedingung meines Lebens oder Todes.«

Überlegt war nichts. Ein Eindruck, was weiter, er erforderte keine zehn Sekunden. Wenn sie Vergnügen an ihrer Beichte fand, bitte. Für sie sagte er: »Ihr Freund – Fernand.« – »Sie wissen den Namen«, sprach sie hinein. »Von mir? Von Ihrem Polizisten?« – »Ihr Freund war kein anständiger Mensch«, fuhr er sachlich fort, weder mitleidig noch hart, aber gerade jetzt verließen seine Augen ihren bedauerlichen Aufzug. Auf einmal machte er ihn verlegen. Er fing an, reizvoll zu werden. Sie selbst nahm das übergeschlagene Bein herunter, die Seide konnte schließlich reißen.

»Er war kein Frédéric«, beschied ihn ihre lieblich gebrochene Stimme, die jetzt heiter sein wollte. Sie war es zu sehr. Was Lydia sprach, war unwahr aus Spielerei. »Sie kennen ihn, da er pas mal d'argent für mich überweist. Wieviel ist es? Sagen Sie es nicht! Mir ist es gleich.« Sie lächelte, es wäre hinreißend gewesen, aber sie wurde hinreißend im Gedanken an einen anderen – den er plötzlich haßte. Verlangte sie tatsächlich Geld? Conard hätte, dicht neben seiner Hand, auf einen Knopf gedrückt, viel fehlte nicht. Schluß der unerlaubten Intimität. Sie hat angefangen mit gemeinsamer Tragik. Hierauf folgt eine vorgebliche Beichte, bis endlich der Teufel seinen Fuß zeigt.

Anstatt zu läuten, legte Conard seinen Blick, einen anderen als vorher, auf ihre Kleidung, ihr kleines blasses Gesicht, zuletzt auf die Schuhe, die sie, wovon, bezahlt hatte. Als ob dies ihre verräterischen Äußerungen aufgehoben hätte, läutete er nicht. Noch einmal sah er sie lächeln. Er erkannte, daß sie ihn auf die Probe stellte, maliziös, weil ihres Sieges gewiß. Er nahm die Hand vom Tisch, er lehnte sich zurück. »Was Sie reden, Sie glauben es selbst nicht. Verlassen wir den Punkt.«

Sie war einverstanden. Ohnedies beschäftigte sie in Wahrheit nur sein Wort über Fernand. »Nein«, sprach sie. »Fernand war nicht anständig. Wäre er es gewesen, wozu hätte ich ihn genommen. Von der anderen Art war ich umgeben, die Typen, die anständig sind, weil sie Geld haben. Dès qu'ils sont riches, ils deviennent de très honnêtes hommes. Nicht Fernand. Er betrog beim Spiel, rein um der Kunst willen, obwohl in größerem Stil als die poule de luxe, deren Goldstücke vom Tisch verschwunden waren, sooft sie verlor. Der Louis hing an einem Faden. Sie zog, er fiel in ihren Sack. Berthe wurde unsere Kameradin. So viele Unarten die beiden zusammen erfanden, vor den Folgen schützte sie mein Geld. Natürlich, mich betrogen sie in der Liebe, aber mit wirklicher Anmut, eher mir zu Gefallen als einander. Ich empfing eine Huldigung.«

»Es fehlte nur, daß Sie die männliche Kokotte heirateten.«

»Sie werden verstehen, daß er mich vertröstete. Wie lange war ich noch reich? Meine Sitten entsprachen ihm, sie waren leicht, aber treu. Mit allen tanzen, von den Großfürsten bis zu den Taschendieben, aber schlafen nur mit ihm – falls wir dafür eine Stunde erübrigten von vierundzwanzig.«

»Ich höre von Freudenmädchen, die so gut wie keusch leben. Nach Ihrer Erfahrung, Madame, wäre es der Gipfel des Berufes.«

»Sie kränken mich nicht, mein Lieber. Gerade wollte ich berichten, wie ich einen Fremden, der mich für eine Professionelle hielt, hoch und teuer zahlen ließ für nichts. Aber Sie hätten mich nicht Madame nennen dürfen.«

»Lydia.«

»Zu spät. Die Geschichte scheint mir jetzt ungeeignet für Sie, Monsieur Conard.«


 << zurück weiter >>