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Gute Pause

Ihre Absence war notwendig kurz. Der Geist darf als Ort, wo er abschweift, nicht gerade die Wechselkasse wählen; sie ist vielfach beansprucht. Übrigens hatten die Kassenbeamten die unmögliche Lage erkannt und ihr abgeholfen. Der Gewinn der Dame füllte jetzt einen Hopfensack mittlerer Größe, den man ihr reichte, den sie nahm und gewiß nicht hätte fallen lassen. Aber jemand stieß sie an. Ein anderer, vielleicht kein Partner der Dame, aber immer zur Stelle, wollte Streit anfangen.

Aber es handelte sich um einen Neuling, schon einer, der dem Vorgang hier und den früheren Ereignissen fremd war. Von den Zuschauern, die allem beigewohnt hatten, verschwanden die letzten; die Herrin des Sackes bemerkte noch ihren Ausdruck, der bescheiden war. Nahezu demütig suchten sie den Blick der Glücklichen. Nur nicht sich aufdrängen. Das Glück ehre man, und erweise die Schuldigkeit dem Reichtum. Gerade darum verschwanden sie, besorgt, sie könnten lästig fallen. Ihre erlaubte Neugier gehörte der Periode vor dem Sack.

Bei ihr verweilte derselbe Mensch, der unwandelbar zur Stelle war, und wischte sich den Schweiß. Er hatte ihr Glück gebracht. Jetzt hatten Müh und Arbeit ihn erschöpft, ohne daß er mit ihnen fertig war. Als der Hopfensack ihr entfiel, streckte er nicht nur den Arm danach aus, er machte eine dermaßen ungehemmte Bewegung, daß es aussah wie ein geschickter Sturz kopfüber. »Vous me rappelez Dranem«, bemerkte sie und mußte lachen. Der alte Komiker war in dieser Weise hingestürzt, jeden Abend hatte er behauptet, es sei das erste Mal. »C'est la première fois que cela vous arrive?« fragte sie.

Er antwortete anders als in seiner vorigen Art, die zur Dreistigkeit neigte, mitgerechnet die Ironie. Ein Knie auf dem Sack, während eine Hand im Gesicht die zerflossene Schminke betupfte, raunte er von unten: »Ich bedauere, hiermit fortzugehen wird unbequem sein.« Schnell weiter: »Aber ich will alles tun, was ich kann, um Sie von diesem drolligen Gepäck zu erleichtern.« Den Satz kaum gesprochen, fiel ihm auf, früher als ihr, welchen ungefälligen Sinn man unterlegen werde. Wenn jeder verdächtig war, er gewiß.

Daher kam er von dem Sack hoch, stand gerade und schlug die Augen nieder. Sie hielt es allerdings für sein Geständnis, er sei es, der sie schon einmal, zwanzig Jahre her, um ihr Gepäck erleichtert habe. »Aber dann hätte er seine Worte gehütet, hätte schwerlich diese gebraucht? Kein anderer wäre unbesonnen genug«, so entschied sie. »Nur er – gesetzt, er ist es.« Obwohl, mit diesen gesenkten Augen war er ihr fremd. Nie an ihm gesehen. Ihr Blick verließ ihn, sorgenvoll; ungewollt berührte ihr Blick den Croupier, Monsieur Gaston. Auf seinem erhöhten Rundsitz überragte er alle Schultern.

»Der ist noch rätselhafter. Warum schickte er mir mit seiner Schaufel das Geld, wenn doch außer ihm nur Félicité die Gewinnerin kannte und nicht einmal ich mich selbst? Er konnte den Gewinn stehenlassen, bis das Ganze fort war; wirklich hat gleich nachher die Kugel falsch gehüpft. Er schickte es mir, er kann immer sagen, wegen des Skandals mit dem Touristen. Auch auf einen Wink von mir würde er sich berufen; der Bank gegenüber ist er gedeckt. Hätte er aber der Bank das Geld gerettet? Morgen wäre er vielleicht ein Direktor. Jetzt hat er meinen Dank.«

»Ich bedauere«, hörte sie neben sich sagen, »aber ich hoffe die Verlegenheit bald zu beheben.« Der Mann der zweifelhaften Identität wiederholte seinen Satz, etwas verändert, weniger verdächtig diesmal. Daraus erfuhr sie, daß keine Sekunde enteilt war, während sie lange, tief und allein, bei einem anderen verweilt hatte.

Zurück zu diesem hier. Er stand da, lässiger als vordem, aber einen festen Griff an dem Sack, der, halb so hoch wie sein Bein, neben ihm stand. »Er ist es«, sah sie. Hatten nicht der Sack und er zusammen dieses Bild gestellt jahrein, jahraus? Sie hatte ihn niemals ohne das Geld gedacht. Sie wollte gehen.

Da tat er eine Frage. Zufall oder Eingeweihtheit, er fragte: »Gewiß wünschen Sie jemandem hier ein Andenken zu lassen« – mit Rücken des Kopfes nach dem runden Stuhl, über den Schultern der Leute. »Nein, ihm kein Geld«, sagte sie und ging. Ihr Begleiter mit dem Sack beharrte auf seiner Idee. »Ich erbiete mich, es diskret zu besorgen.«

Er war es nicht. Oder ihr Gefährte von einst, mit seinen empfindlichen Sinnen, die Erklärungen und peinliche Längen nicht brauchten, wäre inzwischen schwerfällig geworden. Sie wollte nicht, aber mußte sie es glauben? Sie ließ ihn, den Sack auf dem Arm, durch die Tür vorangehen, dabei war festzustellen: ein verdicktes Untergesicht, als Anfang der Gewichtszunahme. Noch war er schlank.

Der alte Edgar verteilte gerade einen Schwarm; alle auf einmal drängten in die Tür, die er bewachte. Zwei Personen und ein Sack, der nicht auffallen wollte, erreichten die Halle ungesehen. Der Begleiter der Dame fragte: »Ich hole einen Wagen? Stört es Sie sehr, solange bei dem Sack zu bleiben?«

»Zu spät«, bemerkte sie. Nicht weniger als vier Pressephotographen richteten ihre Apparate auf die kleine, aber ansehnliche Gesellschaft mit dem Sack als Hauptfigur. Die Dame war im voraus bestimmt, ein vornehmes Bild zu ergeben, der Herr ein interessantes; alles zu Ehren des Sackes. »Niemals hätte ich geglaubt, dies sei Kobalt«, erklärte ein Kollege dem anderen, selbst erstaunt, daß sein Gegenstand sich verwandelte, ja, die Eigenschaft bekam, noch heute abend – wenn die Druckermaschinen sich solange anhalten ließen – Tausende zu erregen.

»Sehen Sie?« war daher die neue Frage des Begleiters, der sie gewarnt hatte. Sie sah denn auch, daß sie fort müsse, sich trennen von dem Sack, sich unsichtbar machen. Als werde ihr Wunsch vernommen und gewährt, ging in diesem Augenblick seitwärts eine Tür auf. Wie sie die Tür des Theaters kannte! Ihr war, als habe sie es kürzlich verlassen: Klänge drangen hervor, Klänge von einst, seither unterbrochen, jetzt einfach wieder aufgenommen.

Sie war zur Stelle, bevor die Tür sich schließen konnte. Ihre Gelegenheit, sich unsichtbar zu machen! »Gehen Sie!« verlangte sie plötzlich von dem Mann. »Ihnen und dem Sack wird man folgen, wohin immer.«

Den Mund in seiner Art verzerrt, gab er ihr recht. »Tatsächlich werde ich mit dem Sack unter Aufsicht sein, bis ich ihn abgeliefert habe. Seien Sie darüber beruhigt! Ich will hängen, wenn er nicht ehestens im Safe liegt.« Er war es, denn es war sein Mund. Er war es nicht, schon wieder hatte er sie mißverstanden.

In dem verdunkelten Saal ließ sie sich auf einen Platz führen, gleichviel wo. Keine Oper; das Orchester besetzte die Bühne, es spielte eine Pavane – sie nahm an, aus ihrem Traum die Pavane. Keines anderen Tanzes von demselben Maß und Gefüge war sie eingedenk. Auch die Pavane des Marchese del Grillo hatte sie nicht wirklich im Ohr, wird nie wiederfinden, welche es war. Der Rhythmus allein schwingt nach. Genug, sie hört ihre Pavane – die zurückkehrt, wie vieles nunmehr. Manches wohl findet zu ihr hin, nur um sie qualenreich zu erinnern. Wer alles kam heute, wollte gekannt sein, sogar geliebt werden. Zuletzt kam noch ein Sack.

Dahin. Glücklich verloren, schon vergessen, der Mensch und der Sack. Hier darf sie im Sessel lehnen und ruhen. Nicht lauschen muß sie, diese Musik spielt in ihr, ist ihre Musik. Den feierlichen Rhythmus klopft ihr Herz.

Nichts ist gewiß. Mag sein, sie hatte die Absicht, einen Nachbar zu befragen, über Namen oder Titel der ausgeführten Komposition. Vielleicht hat sie gefragt, und die Antwort blieb unverständlich, erstens weil der Nachbar selbst nicht verstand, zweitens nicht sprechen konnte, übrigens gar nicht da war. Sie hat es nicht erfahren, sie schlief schon. Ihre Pause. Traumloser Schlaf, anstatt unter dem Vorwand des Wachens das Aufleben alter Ängste, die seither Glück heißen möchten. Weder Verlangen noch Wissen halten sie umfangen. Sie befreit der Schlaf, ihre gute Pause.


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