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Frédéric erreichte die Verunglückte im letzten Augenblick. Er fing sie auf, während sie umfiel. Ihr Gesicht war blau. Conard hielt sie in der Waage, damit sie atmen könne. Ein wenig blutiger Schaum trat aus ihrem Mund, die Augen waren angstvoll erweitert. Auf dem Rückweg nach dem Zimmer, das sie kaum erst verlassen hatte, schleiften ihre Füße über die Fliesen. Das Publikum, weniger ratlos als bei ihrem vorigen Auftreten, verstummte darum nicht. Sachlich, ohne daß man Stellung nahm, wurde erörtert, wie Conard sie beinahe im Arm trage. Autant dire. Dann wurde endgültig die Tür geschlossen.
Wer sich zur eigenen Überraschung diesseits der geschlossenen Tür wiederfand, war der junge Moineau. Ja, in aller seiner Geringheit umgab ihn heute zuerst das verbotene Zimmer. Zugegen war der Chef persönlich, mit dem Arm um eine Dame. Der Chef wies seinen Angestellten nicht hinaus, noch weniger fragte er ihn, wie er hereinkomme. Eine gegebene Situation, es schien, daß sie nicht auffiel. Monsieur Conard war wohl von seiner eigenen beansprucht. Wenn sie ihn verwirrte, ermutigte sie den Jungen. Der hübsche, schlank gewachsene Blonde fühlte ein Verhältnis eintreten, nicht mehr von niedrig und hoch, sondern von Mann zu Mann.
»Monsieur«, sagte er ohne unzweckmäßige Bescheidenheit. »Ich sehe, daß Sie nicht wissen, wo anfangen. Darf ich Ihnen raten? Ich verstehe mich ein wenig auf Erste Hilfe, ich lernte es in einem vorigen Beruf. Was ich brauche, sind Servietten, Wasser, ein Ruhebett, um die Kranke auszustrecken.«
»Ça va«, bestätigte Conard, sichtlich erleichtert. Sogleich zog er den Arm von dem Rücken der Frau, damit der andere den seinen hinlege. Er selbst öffnete das Kabinett, das die gewünschten Gegenstände enthielt. Er betätigte sich. Als der hilfreiche Kommis dort ankam mit seiner Last, war der Diwan bereit. Beide Männer gemeinsam breiteten ihre Kranke darauf. Während Frédéric das lange Kleid über ihre Füße deckte, gedachte er unwiderstehlich der Stunde mit Lydia.
Schon hier benachrichtigte ihn sein Gefühl, dies sei eine Stunde ohne Nachfolge. Diese Sterbende hätte er für sein Opfer halten können; wer denn überspielt grausam ihre Kräfte. Nein. Sein inneres Wissen sprach: »Es war ihre Stunde wie deine, ihr solltet sie haben, sie mußte schlagen, und sie schlug. Geschehen ist nichts. Worte, was sonst? Zwischen deinem vorigen Leben und jetzt stehen Worte, das ist alles, aber hinter ihnen versinkt deine Welt. Eure Gebärden, Tränen, Beschlüsse sind unwiderruflich. Du hättest vielleicht nicht ausgeführt, was du versprachest? Sieh! gerade darum stirbt sie, und du sollst sterben.«
Betrachtungen waren alles, was Conard seiner Gefährtin im Unglück zu bieten hatte – tief im Unglück, nachdem sie vom Glück gekostet hatten: beide nur dieses Mal, aber um so heftiger, aber im Übermaß. Hier liegt sie, würgt, röchelt, kämpft um sich. Für ihn. Für ihn. Dennoch ist nicht er, ein Fremder ist wert befunden, ihren Körper zu bedienen, damit sie atmet, noch einmal atmet. Frédéric ertrug so wenig seine eigene Untätigkeit wie ihr Leiden. Er krümmte sich langsam tiefer, zuletzt berührte seine Stirn die Knie.
Ein Erbrechen der Kranken gab ihm den Rest, er sprang auf. »Paraît qu'elle est sauvée«, sagte Moineau, aber Conard war schon in seinem Zimmer. Viel, daß er nicht die Tür schloß; wenigstens hielt er sich die Ohren zu, blieb übrigens nicht auf dem Fleck. Um noch geordnet zu denken, mußte er laufen. Dennoch, nur die Ausrufe seiner Angst wurden ihm innen vernehmlich.
»Sie geht, sie geht von mir, und sie war alles. Seit einer Stunde kenne ich sie, es gab nur sie noch, meine Gefährtin der Stunde. Estelle war aufgegeben, meine Geliebte verurteilt sie, ich habe sie verlassen, bin dessen froh. Stürmisch begegne ich dem Glück, an das noch soeben kein Gedanke war. Jetzt ist wieder keiner. Qu'est-ce de nous.«
Er bemerkte es nicht, aber was sich anmeldete und ihn überkam, war etwas mehr als nur ein Ausbruch seiner Selbstsucht. Er sah, taghell sah er ein zweites Wesen, erst heute bei ihm eingetreten aus Bezirken, die er erriet und kannte. »Sie hat gearbeitet.« Dies bewegte ihn am tiefsten. Wenige Schritte von ihm, die Sterbende. In seiner Vision, die Arbeiterin. Ihr genaues Bild erhob sich, in kurzem Rock und Kamisol. Abgezeichnet gegen das Fenster erschien ihr kleines blasses Gesicht, die Hände zitterten von der Anstrengung, damit eine schwere Walze nicht niederfiel und sie zermalmte. »Nein!« rief er und schloß die Augen vor dem Andrang der Gesichte.
Ein Geräusch ließ ihn aufsehen. Lydia, sie kam ihm entgegen, sie war es. Er zweifelte nur, ob sie ihn erkenne, ihr Anschein war geisterhaft, die Augen waren es. Moineau, der sie stützte, ließ los, damit Conard sie ohne Hilfe aufrecht sehe. Der junge Mensch erwies sich nicht weiter stolz auf seinen Erfolg. Im Gegenteil, eine Art Gleichberechtigung, die ihm von der Notlage verliehen oder aufgenötigt gewesen, verließ ihn, sobald er sich nicht mehr unentbehrlich fand. Er hätte sich sogar entschuldigt: »Ich konnte so schnell keinen Arzt holen.« Da er nicht beachtet wurde, schwieg er, suchte nur, wie er fortkäme.
Sie beide aber waren zugegen, einzig füreinander; kein Alleinsein ist so tief. Ihre Augen, belebte Sterne, die Farbe, Glanz bekamen von der Versenkung in seine, sagten ihm: »Da bin ich, das letzte Mal.« – Seine erwiderten: »Da bin auch ich noch einmal, bevor ich falle.« Abschied beiderseits, soviel errieten, darauf bestanden zwei tragische Personen. »Wir sind es etwas zuviel, tragische Personen.« Dies sagte ein flüchtiges Lächeln, das über die beiden Gesichter irrte. »Sogar stumm, bekennen wir mehr als richtig ist. Wir haben den Ehrgeiz, uns überlegen zu zeigen, unseren Zuständen, diesem Augenblick. Hoffen aber in Wahrheit auf das Glück, wär es gegen alle Hoffnung.«
Was er in Worte faßte: »Ich lasse Sie nicht unbegleitet fortgehen. Dieser junge Mann wird meinen Wagen holen.« Moineau, es hören, schon war er aus der Tür, froh, das Paar allein zu lassen. Einverstanden war er mit seiner eigenen Bedeutung, wenn sie draußen zur Geltung kam. Dafür sorgte der Kleine selbst. Er ließ sich Zeit auf seinem Weg durch die Halle, mit Zurückhaltung beantwortete er Fragen vonseiten des Publikums. Seinen Kameraden, den petits banquiers, flüsterte er etwas Ungefähres zu, wovon dort hinten jemand, der es nicht hören konnte, sich krümmte und in das Hauptbuch tauchte. Der junge Moineau maß sich an den Ereignissen auf seine Art. Welch ein anregender Gang!
»Jetzt können wir aussprechen …«, begann Frédéric. – »Ich liebe dich«, sagte Lydia, unerwartet, ein Wort, nie mehr hätte er es zu hören geglaubt, von diesen Lippen. Vor Minuten waren sie ganz nahe gewesen dem ewigen Erbleichen. Sie ruhte an der Lehne des Sessels, die Hände gefaltet hinter dem Kopf. Ihr Gesicht schmachtete nicht, es frohlockte. »Ich habe einen Anfall überwunden, es war der schwerste, will ich gestehen; ich mußte daraus hervorgehen, um dir dieses Wort zu sagen.« – »Du wirst leben«, sprach er überzeugt, stark, dennoch unter Schonung ihrer überreizten Schwäche. Er versicherte: »Ich will nicht fallen. Niemand verlangt es.« Keine Estelle mehr – dies überschlug er. »Wir sind keine tragischen Figuren.«
»Wir wollen, wie andere, gewöhnlich und glücklich sein.« Sie wog ab. »Gewiß, die äußeren Vorgänge übertreiben uns. Gewöhnlichkeit, mehr fehlt uns nicht.« Eine ihrer blassen Hände glitt hinter ihrem Kopf hervor und legte sich um den seinen, da er vor ihr kniete. Er rührte sich nicht, aber er sprach, wie die sicherste Sache der Welt: »Der Tag ist herrlich wie noch keiner. Du bist schöner als je. Wahr. Dein Reiz, meine Angebetete, kann nicht derselbe gewesen sein zu der Zeit deiner Größe.« – »Groß bin ich jetzt.«
Sie dehnte sich an den Kissen. Halb geschlossene Augen, die Stimme eine Glocke – aus der zerstörten Brust; er dachte an versunkene Kathedralen auf dem Meeresgrund. »Ich bin noch einmal die große Frau, werde geliebt, kann lachen, mache mich schuldig, lache reuelos. Die Katastrophen sind wieder da, mitsamt Krieg, Verrat, Tod. Mir haben sie nichts an, dir auch nichts, wir vereinen uns und sind hinüber. Nur ein Tag« – ihre Stimme sank, von beseligter Müdigkeit. »Dieser Tag ist nochmals das ganze Leben, mit der Schuld, mit dem Glück. Das Leben ein Tag.«
Die zauberische Stimme wurde verfänglich, Hingabe, die sich eingesteht, Vergehen und Ersterben. Er erhob sich, faßte zu, um sie aufzuheben. Sie entführen, verschwinden mit ihr. Zurück bleibt, was nicht dieses kleine blasse Gesicht ist, nicht ihre zugespitzten Finger, der schmale Hals von alten Spitzen umschlossen, unter gespannter Seide die Knie. Endlich werden sie keinen Gang mehr tun als nur mit ihm. Er läuft, ob nebenan im Kabinett das Türchen praktikabel sei; diesmal kann es dienen, es führt nach der seitlichen Front und hinaus. Der Wagen soll dorthin kommen, ungesehen verlassen sie die Stadt.
Da bemerkt er auf dem weißen Stein des Waschtisches das hingetropfte Blut. Er steht und zählt die Tropfen, er ist geschlagen, vergeblich sind Beschluß und Anlauf, er kommt in ihrem Leben zu spät. Ob auch für seines, sei nicht untersucht. Aber er sagt nicht mehr: »Ich werde fallen«, seine Ausflucht bei heillosen Entdeckungen. Er denkt: »Ich zähle ihre Blutstropfen« – bis ein Geräusch ihn unterrichtet, daß Moineau zurück und im Kabinett ist.
»Sie bringen den Wagen hierher. Sie werden Madame begleiten.« Drinnen verlangte sie nach ihm. Kaum erwacht aus hingegebenem Gefühl, fieberhaft verwirrt, neigte sie aus der Lehne hervor das Gesicht und eine bittende Hand – die er verstand, aber nicht nahm. Empört gegen die Dinge selbst, hielt er am Platz nicht stand.
»Verlaß mich nicht«, war ihre Bitte, sanftmütig klang sie wohl, demütig kaum, während doch über sie entschieden wurde vom Letzten, der bei ihr war. Unbezweifelbare Gewißheit: im Zorn erst recht, in der Verzweiflung ganz und gar, war ein Mensch bei ihr wie vor ihm keiner, und angelangt am äußersten Rand der Dunkelheit, erlebte sie noch, wie all sein Wesen sich spannte, ihr nachzustürzen, dermaßen, daß er die Arme erhob. Keusche Ekstase eines Mannes, der ungeübt, überwältigt, nicht begreift, was er tut. Sein einmaliges Aufschluchzen kommt jäh, von tief her, unterwegs wird es ein Laut des Jubels, ihr Jubel begleitet ihn. Ein Wunder ist geschehen, sie küssen. Noch diesmal sind sie glücklich.
Sie sind glücklicher, als daß sie wissen könnten, warum. Sie haben erfahren, daß sie in letzter Wirklichkeit einer auf den anderen bauen, nur voneinander abhängen, von prahlerischen Umständen nicht, von Fremden, die drohen möchten, nicht. »In deine Hand gegeben sein.« – »Enden mit dir.« Inneres Duo: »Niemals enden.« Dies ist vom Glück die unwahrscheinliche Stufe, weshalb sie denn, aus ihrem einzigen Kuß zurückgekehrt, nichts unterscheiden, das Zimmer noch nicht wieder, und das geküßte Gesicht bleibt ohne festen Umriß.
Er hat sie aus dem Sessel gehoben, sie zieht sich an ihm empor. Einzige Absicht: aufbrechen, sie kennen kein Wohin, ist das Glück ein Wohin? »Du wirst mich keinem Begleiter mitgeben«, sagte Lydia. »Moineau?« fragte Frédéric. »Hätte ich das getan? Es ist unmöglich. Ich bringe dich hinauf in die Wohnung.« – »Was ist noch unmöglicher?« fragte sie. Abhängigkeiten: sie hatten doch aufgehört. Pause. Nebenan in dem Kabinett klapperten Gegenstände, dann zeigte sich Moineau. Er tat nicht weiter diskret, so gut es ihm gelungen war, sich in Vergessenheit zu bringen. »Was machten Sie dort?« Lydia mußte wohl vergessen, vielmehr gar nicht bemerkt haben, wer ihr beigestanden hatte in Qual und Not.
Der junge Mensch lächelte, um sich zu entschuldigen, seine Anwesenheit, alles, was er seither gewagt hatte. »Ich bin noch hier«, sagte er harmlos. Etwas zu harmlos erklärte er: »Madame wird vielleicht fahren wollen.« – »Aber mit Ihnen?« Sie betrachtete ihn kurz, ihr Gesicht prüfte alsbald Frédéric, der traurig lächelte. Wieder das gleiche, die Abhängigkeit, das Verbot. Unbedeutend wie der junge Moineau sehen sie aus. »Gleichwohl ist kein Ort, wo ich mit meiner Geliebten, ohne sie herabzusetzen, erscheinen könnte«, erwog Frédéric. Lydia indessen hatte festgestellt, daß der gesunde Junge Verlaß biete, erstens da sie krank war, dann für das empfangene Vertrauen, endlich, weil gewiß sein Herz beschäftigt war.
»Wie geht es Ihrer Freundin?« fragte sie schnell. Er hatte eine und ließ sich überraschen. »Maria?« fragte er. »Noch sind wir nicht sehr befreundet, heute abend sollen wir zum ersten Mal ausgehen.« Er biß sich auf die Zunge, was redete er nur. Sie werden ausgehen, er mit seiner jungen Italienerin. Die Arme hier, deren Zeit zu lieben vorbei ist, wird im Hospital liegen. Der Seufzer, den er unterdrückte, stand ihm im Gesicht. Frédéric entließ Moineau, damit er den Wagen vor die kleine Tür bringe. »Sie fahren Madame nach dem Heiligen Geist Hospital und verlangen Doktor Dubarret, er kennt mich.« Sie waren allein. »Auch mich kennt er«, sprach Lydia. »Sie wollen nicht«, bemerkte Frédéric.
»Oh! ich bin gehorsam« – ihre Augen versicherten es, der Stimme gelang es schlecht, sie schwankte vor Furcht. »Als ich einmal dort war, entließ der Doktor mich, weil ich es wollte. Er behauptete, es sei verfrüht, mein nächster Aufenthalt werde um so länger sein.« Der Ton versagte ganz. »Nicht in diesem Augenblick! An einen Ort, wo ich aufgegeben wäre, nicht jetzt, noch nicht heute!« Er verstummte schamvoll. Er faßte nach ihrer Schulter, sie an seine zu lehnen, Lydia bei sich zu bergen. »Wie hilflos bin ich, wie ohnmächtig«, gestand er insgeheim. »Welch ein unüberschreitbarer Abstand von ihr zu mir.«
Ihr aber war gleich wohler. Tröstete sie denn kein besserer Wiederbeginn, wenigstens der unhaltbare Zustand, der das Glück war, sollte dauern. Ihr Trost war, noch nicht enden. Frédéric: »Sie werden leben wie bisher; ein wenig bequemer, wenn Sie mir glauben wollen. Oder glauben Sie dem kleinen Moineau, er hat eine gesunde Vernunft bewährt, er wird Ihnen sagen, daß man unter Umständen vermeiden sollte, auf offenen Balkons zu schlafen.« Dies an ihrer Wange, heiteres Zureden, alles nur Scherz und geht vorbei: »Die Decke kann fortwehen, es regnet ins Bett.«
»Das ist wahr; und um warm zu werden, gehe ich in la grande bleue, den ganzen Winter.« Sie lächelte kindlich. »Gut wäre ein warmes Zimmer. Aber nur, weil Sie es wollen«, sprach sie sanft. »Ich will es nicht nur«, sagte er, »ich gebe den Auftrag mit genauen Einzelheiten, sie müssen strenge befolgt werden. Moineau, Sie kennen das Hôtel de Nice.« – »Wenn es noch offen ist«, meinte Moineau. Frédéric berichtigte: »Lassen Sie meine Sorge sein, daß es offen bleibt. Die Hotels haben Schwierigkeiten, werden seit heute noch größere haben. Auch das geht vorbei, unnütz zu beachten, daß sie verödet sind.«
»Und das Meer?« fragte Lydia, ohne klarzumachen, warum das Meer. Das Hotel liegt weit davon. Die Erklärung lag bei Frédéric. »Der Strand, meinen Sie, war wenig bevölkert, wenn Sie von Ihrem Balkon hinunter auf das Wasser blickten, wenn Sie hineingingen, früh fünf Uhr.« – »Mein Fenster«, sagte sie unvermittelt, »war ins Grüne geöffnet.« Ihre Gedanken irrten zurück nach dem Hotel, auch dort hatte sie einst gewohnt. Aus lange hinausgeschobener Ermattung begann sie, ungeordnet zu sprechen. So beeilte Frédéric sich denn. Er nahm nicht übel, daß Moineau ihm mit den Augen winkte; entbehrlich war es gewiß, einer war wachsam wie der andere.
Träumerisch sprach sie, wie bisher noch nie. »Das Hôtel de Nice liegt höher als die Straße, ich habe manchmal hinaufgesehen, später, als ich nicht mehr ein- und ausging. Ganz in Gärten liegt es.« – »Ihr Fenster, auf jeder Seite des Hauses, wird immer ins Grüne gehen.« Sie antwortete nicht auf Zwischenreden. »Die Gesellschaftsräume waren glänzend. Großfürst Cyrill und ich produzierten uns als Preistänzer.« – »Jetzt sind sie weit und still, mit einer Pracht von gestern«, sagte er.
»Sie sagen?« fragte sie plötzlich. »Ich verstehe, still ist jetzt das Publikum. Plus trace de grand-ducs. Des réfugiés cherchant à se faire oublier. J'en ferai autant. Anstatt Großfürsten, Flüchtlinge; sie wollen vergessen werden, wie ich. Mais il faut venir me voir.« Schläfrig, unklar – und er ließ nicht nach, sie zu stützen. Wird sie gehen können? Er wird sie auf seinen Armen durch die kleine Tür dort hinten tragen. Sie sprach aber mit Überlegung: »Heute habe ich meine Zeit überschritten. Ich kann Wege machen auf meinen Füßen, unbegrenzt, aber mittags muß ich zurück sein. Ich fühle, daß Mittag ist. Ich habe meine Zeit überschritten.« Sie richtete sich auf, unerwartet straff; man konnte denken, Müdigkeit oder Kraft, sie verfüge über beide.
Auf ihrem Gang nach der Tür unterrichtete er sie: »Die Mahlzeiten haben nichts verloren.« – »Welche Mahlzeiten? Ah! im Hotel. Die propriétaire …« – »Madame Riquois«, ergänzte er. – »Sah nicht aus, als ob sie nachgeben werde.« – Er konnte noch sagen: »Sie hält ihren Niedergang für unverdient, sie sei in Müh und Arbeit alt geworden.« – »Sie glaubt an Leistung und Lohn.« – Tonfall Lydias, wie ein Besuch im Abgehen; da waren sie an der Tür. Woher nahm er Worte, um festzuhalten so viel Geschehenes, so viel – das dennoch mit ihr dahinging. »Aber im Haus ist etwas schwermütig Vergangenes. Lydia, ob der Aufenthalt Ihnen guttäte?«
»Wo ist es anders«, sagte sie nur. Beide hatten umgesehen, wer noch zugegen sei und höre. Niemand. Hier begann ein heißes, wirres Geflüster. Frédéric inständiger als Lydia, riefen sie die Stunde, ihre einzige, zurück. »Glückliche, mehr glückliche werden folgen.« – »Noch glücklicher als diese war, unmöglich.« – »Du wirst kommen.« – »Zu dir, wann?« – »Drei Uhr.« Dies hören, ihn betrachten: da begegnete er bei seiner Geliebten einer Macht des Glückes, der Boden wankte davon unter seinen Füßen, er schloß die Augen. »Daß ihr kleines blasses Gesicht inzwischen nicht auslöschen möge«, betete er.
»Ich komme zu dir«, wiederholte sie. »Nicht zu Estelle, wir haben aufgehört zu lügen.« So schlossen sie. Im rechten Augenblick wurde an diese Tür geklopft: es war hinten, in dem kleinen Kabinett, der junge Moineau wartete hinter der geöffneten Tür. Er erklärte nicht lange, daß er den Wagen hierher gefahren habe, ohne beachtet zu werden. Vorne glaubten alle, er ließ sie glauben, Madame sei längst fort. Niemand hat auch nur gefragt. Die Vernunft selbst, sprach Lydia zu Frédéric: »Du sollst meinetwegen nicht Angst haben.«
Besonnen, ohne Übertreibung antwortete er: »Du bist nicht krank. Ein Gefühl wie deines und meines würde jede Krankheit aufhalten. Deine besten Zeiten kommen erst. Comtesse, die große Frau waren Sie nicht voreinst, Sie sind es jetzt.« Ihre eigenen Worte, dennoch die tiefste Verehrung, die sie je erfahren. Als Antwort fand ihre Hand von selbst die Bewegung entzückter Frauen von einst, wenn sie mit dem Fächer einen Arm streiften. »Ich habe genug von den besten Zeiten.« Ruhig, ohne ihn anzusehen, sprach sie in eine unbestimmte Ferne: »Ich wünsche sie nicht zurück.« Sie winkte, er möge hinter dem Tor bleiben. Im Begriff einzusteigen – er sah sie nicht mehr – schwankte sie rückwärts; ihr Begleiter Moineau griff zu, er fürchtete einen Anfall von Schwäche. Der junge Mann lobte sich, er hatte den Chauffeur mitgebracht und konnte auf die Kranke passen.
Frédéric Conard, Direktor der Handelsbank, fühlte sich plötzlich zerschlagen; er kam nicht bis in sein Zimmer, dahinter auf dem Diwan ließ er sich nieder. Hier hat sie gelegen, es schien ihr Ende. »Das Ende begann im Ernst. Um Gottes willen, daß ich sie wiedersehe! Und dann?« Er zuckte die Achseln. Das »dann« war unabsehbar, unbegreiflich, war gemacht aus vielfachen Bestimmungen, so fried- und weglos, daß man sich die Ruhe gewünscht hätte, ihnen beiden die endliche Ruhe, die statt des Glückes eintritt und es übertrifft. »Beim Abschied hab ich sie nicht mehr geküßt. Jetzt geh ich hinauf. Durch die Glastür seh ich die andere: werde ich, wie alle Tage, Estelle küssen?«
Lydia erblickte jemand. Bevor der Wagen aus der Seitenstraße in die Avenue bog, hatte sie an der Ecke, eher um die Ecke, eine Gestalt gesichtet und diese sie. »Ist es möglich, der Mensch hätte bis jetzt gewartet?« Der Indiskrete mit vorgeneigtem Rumpf verschwand rätselhaft, wie er jedesmal aufgetaucht und versunken war. Immer er, von früh an, und jetzt ist Mittag. »Was will er?«
Ihr fiel nur ein, daß er sich ihr verdächtig gemacht hatte. Verdächtig wessen? Wie kann sie, noch umfangen von der unvergleichlichen Stunde, die verklingen wird – glücklich gewesen am Rande des Lebens, wie kann sie auf einmal den Sinn wiederfinden für Erscheinungen nebenher. Für ein Nachher, das jetzt, jäh, sogleich, beginnen soll. Ach! das Nachher erlaubt kein Vergessen, es ist gemacht aus vielfachen Bestimmungen, fried- und weglos, man hätte sich als das vollendete Glück die Ruhe gewünscht. Genug damit, nichts mehr für heute, ihre Zeit ist überschritten, die Müdigkeit überwältigt Lydia.
»Schnell nach Haus!« bat sie den kleinen Angestellten. »Sehr schnell. Man folgt mir.« Worauf Moineau nach allen Seiten umsah, nichts mehr vorfand und ihre Verwirrung auf Rechnung der Krankheit setzte. Den Chauffeur mahnte sie dennoch zur Eile.
Sie wollte noch sagen, daß er falsch fahre. Denn sie entsann sich ihrer alten Wohnung, das Hotel fiel ihr nicht ein. Sie schwieg und lehnte den Rücken an. Der Hut bedeckte ihr kleines blasses Gesicht.
Hier schlugen die Uhren zwölf. Verklingen hörte sie die Stunde.