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Vierter Teil.
Das Casino


Die Reise zurück

Sie schloß die Tür, drinnen schlug die Uhr sieben. Sie verließ das Zimmer ohne zu wissen, wohin. Hier meinte sie genug erlebt zu haben, in den sieben Stunden der Ruhe, etwas überfüllt, trop meublées, aber nun vergangen. »Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren«, dachte sie. »Heimgesucht oder allein – am Ende zweifelt man, wohin.«

Einen Augenblick wollte sie umkehren, wären nicht Besucher, wenn sie hier bleibt, noch mehr zu erwarten – »sans en excepter l'assassin«. Unter dem Mörder verstand sie ihren falschen Jugendfreund, an dem übrigens mehr als nur diese Eigenschaft fragwürdig war. »Er tötet auch nicht, oder er tötet vielleicht, wenn er den Kopf verliert. Er ist stürmisch und schwach. Vielleicht geht er um mit Mordanschlägen gegen dieselben Leute, die ihn herbringen und bezahlen; aber vernichten will er auch Léon Jammes, dem er helfen müßte. Kennt er ihn? Kenne ich selbst sie beide? Doch. Der falsche Fernand ist unheimlich. Ihm nur nicht wieder begegnen.«

Sie war auf der Treppe, sie hielt an, um eine Stütze zu suchen. »Zweimal habe ich versprochen, Léon Jammes zu warnen. Oder mich selbst zu hüten? Ich soll berichten – dem amtlichen Agenten, den ganz andere als ein armer Fremder beseitigen möchten. Mein Verbündeter ist der Revolutionär, der morgen flüchten wird. Ich werde mitfliegen, wenn ich nicht lieber meine Verabredung mit Estelle einhalte oder meine Verabredung mit Léon Jammes – besteht sie wohl? Mit Frédéric bestände keine mehr, nach den versäumten Stunden. Unsere wirklich erlebte, große Stunde war Traum, Fieber, worüber wir nicht gebieten. Mein Kamerad, der Geliebte des Volkes, ist seiner Sache gewiß, obwohl er vorerst flieht.«

»Wohin ich gehe? Zu Yvonne Vogt«, erkannte sie auf einmal, ließ auch schon das Geländer fahren und stieg weiter die Treppe hinab. »Ich weiß doch, sie war bei mir. Sie erwies mir eine echte Wohltat. Déjà elle m'avait bordée dans mon lit.« Sie bemerkte die Verwechselung. »Was ist ihr für mich denn eingefallen? Wir Gefährtinnen aus unserem unbefangenen Abschnitt. Mit anderen bin ich sorgenvoll; Flucht, Liebe, und wenn aus meiner Vergangenheit einer wiederkehrt, es sind Sorgen. Estelle hätte das Recht, mich auszuliefern, ich betrüge sie. Yvonne wird eine Bedrohte verstecken und um alles nicht hergeben. Wir haben einander lange nicht angeredet, einst waren wir aber gemeinsam leichten Sinnes, wir vergessen es nie.«

Sie ist unten, vor dem Eingang des Hotels hält ein großer schöner Wagen, une auto puissante, natürlich kennt sie es nicht. Der Chauffeur aber zieht die Mütze, stützt sie auf seine Hüfte, die andere Hand liegt am Griff des Schlages, bereit, ihr zu öffnen. »Was ist das?« fragt sie Madame Riquois, die, vom Concierge herbeigeholt, hinter ihrer Schulter steht. »Es ist der Wagen, mit dem Madame la Comtesse gekommen ist.« – »Er hat gewartet?« – »Seit einer Stunde. Monsieur Frédéric« – respektvolles Atemholen – »und Madame Estelle waren beide hier, um Madame de Trône mitzunehmen.« … Gut denn, die Gräfin Traun hat nicht mehr zu entscheiden, wohin mit ihr.

»Die Herrschaften schickten nach mir nicht hinauf?« – »Madame la Comtesse sollte sich Zeit lassen, Sie waren heute so müde.« Der Besuch, den sie soeben gehabt, und der vorige, beide Besuche bleiben unerwähnt. Die Wirtin ergänzt: »Man kann sagen, Madame, daß Sie ermüdet waren, als Sie bei uns ankamen; man begreift, daß Sie den Wagen nicht erkennen. Jetzt sehen Sie erholt aus, ich bin zufrieden und bitte nur: schonen Sie sich. Schonen Sie sich um Gottes willen. Ich will Sie auch das nächste Mal selbst zu Bett bringen, die Ehre erbitte ich – von Madame la Comtesse de Trône.«

Der geehrte Gast des Hôtel de Nice sitzt auf den grauen Polstern des Automobils, das angesehene Leute zu ihrer Verfügung halten. In das Fenster spricht Madame Riquois: »À bientôt, sans faute.« Der Wagen gleitet die Höhe des Gartens hinab, auf die Straße. Sie ist wieder erstaunt, daß die Hotelbesitzerin sie zu Bett gebracht hat. Yvonne Vogt war es scheinbar nicht; aber sie kann fragen. Sie wird zu ihr fahren, weiß der Chauffeur es? Gewiß nicht, er bringt sie nach der Bank, vor den Seiteneingang natürlich, der vordere ist geschlossen, da es Abend geworden ist. Von dem Tag fehlt nicht mehr viel. Im Grunde findet sie gleichgültig, was mit dem Rest geschieht.

Es wäre gut gewesen, ja, überaus wäre zu wünschen, daß sie in dem endgültig verlassenen Zimmer weitergeschlafen hätte, behütet von dem Schlag der Stunden: die Uhr versäumt ihn nie. Sie ist verläßlich, sie beruhigt. Weder dies noch das gilt für die Personen, die sie aufsucht, ob Bank oder Bäckerladen. Auch dieser hat inzwischen zugemacht. Genug, sie überläßt die Wahl dem Chauffeur, der übrigens nicht weiß, daß sie schwankt. Komme was will.

Kummervoll versenkte sie das Kinn in ihren alten Spitzenshawl. Unter dem herabgebogenen Hut war von ihrem kleinen blassen Gesicht nicht mehr die Spur. »Frédéric«, dachte sie, »verlangt mehr als wir ertragen, von ihr und mir. Er kann nicht dafür, da er uns beide liebt: mich um ihretwillen – wie ich ihn, weil sie da ist und wartet. Auf mich wartet sie, komme denn, was will.« Hier angelangt bei der Erkenntnis und dem Verzicht, faßte sie den Entschluß, dem ergangenen Ruf zu folgen, faßte ihn das letzte Mal.

Warum mußte sie das Gesicht erheben, unmittelbar vor der Wendung in die große Avenue – de la Victoire heißt sie schon längst, Lydia nennt sie noch immer de la Gare. Dort geschah es. Nahezu erwartet geschah, daß einer da stand, wie sie ihn kannte, ohne Hut, mit erhobenen Brauen, dem schmalen Zug um den hübsch gewesenen Mund. Nach seiner Gewohnheit war er halb um die Ecke zurückgezogen, dennoch sah sie ihn beim Licht der Bogenlampen genauer als in dem dunklen Vorraum eines Bureau, wo nur die Tür sie von Frédéric getrennt hatte. Er erwiderte ihren Blick mit mehrmaligem Schlagen der Wimpern, eine Begrüßung, in Worten: »Da sind Sie. Wir waren verabredet.«

Sie verteidigte sich sogleich, dem Chauffeur bedeutete sie, er möge die entgegengesetzte Richtung nehmen, anstatt abwärts nach der Bank. Ihr Verfolger würde, wie gewöhnlich, das Mittel gefunden haben, vor ihr dort zu sein. Sie berief sich auch darauf, daß sie versprochen habe, zweimal versprochen, ihn im Auge zu behalten, obwohl sie vielmehr versuchte, ihm zu entkommen: die Absicht war nicht zu leugnen. Zwei gedrängte Reihen von Wagen verlangsamten die Fortbewegung. »Pour l'amour de Dieu, dépêchez-vous.« Der Chauffeur sprach zurück: »Bien Madame. Où Madame désire-t-elle aller?« – »Nach dem Bahnhof.« – Hatte sie selbst es gewußt?

Das Ausweichen wird vergeblich sein, die Begegnung wird statthaben, auf ihrer Seite mit vermehrten, aber abschreckenden Kenntnissen der Figur. Das Unglück ist: sie schrecken nicht nur ab, die Figur wird ansehnlicher von ihrer Schande. Inzwischen erreichte der Wagen, quer hindurch, die rue d'Angleterre. Noch eine Versicherung in dem Fenster rückwärts. Niemand, sie war allein, sie beherrschte ihre Atmung. Um auch die Gedanken auszuruhen, interessierte sie sich für die Umgebung.

Die Straße wäre nach ihrer Lage eine wichtige Ader gewesen. Vernachlässigt, zurückgeblieben, ohne beträchtliche Hotels oder Läden, zog sie längst nicht mehr an. Lydia, die seit ihrer neueren Verkörperung niemals den Weg ging, fand alles wieder, wie sie es einst verlassen, in dem Abschnitt ihrer Laufbahn, als man des Nachts hierher kam; vielmehr wurde es schon Morgen. Die Kundschaft der Tanzbar war gemischt, die Gäste der vornehmen Stätten stiegen am Ende ihres täglichen Festes einige Stufen tiefer. »Da sind noch die Stufen.« Über diese Treppe war man in ein unterirdisches Serail gestolpert, selten nüchtern, wenigstens einer landete mit dem Kopf voran.

»Dies war das Haus.« Solange möglich, sah sie danach um. »Ich täusche mich nicht. Der Eingang war niemals blendend, eher das Gegenteil. Um uns hereinzulocken, stellte man vor den Keller keinen goldgeränderten Portier, sondern zwei Apachen, wie sie damals hießen, mit ihrem roten Halstuch als ganze Livree. Heute – keine Erinnerung ist hinterlassen, ich bin die einzige, sich etwas zu denken bei dem verwahrlosten Anblick.« Sie seufzte – über die veränderte Zeit? Über sich, die, verändert mehr als dieser Ort des nichtigen Übermutes, ihn wiederfand und nach ihm umsah. Sie seufzte, weil ein so großes Stück Leben frei von Bedeutung gewesen, und ohne Sinn sie selbst.

Zuletzt, sie wollte es aufgeben, bemerkte sie, seitwärts aus der Mauer vorgestreckt, den Apparat, der wahrscheinlich am späten Abend eine feurige Inschrift hervorbrachte. Noch jetzt, und welche? Sie suchte in ihrem Kopf, indes sie alles mißbilligte: die Fahrt, die sie machte, die Gedanken, an die sie ihre kostbare Zeit verlor. Eines Augenblickes, der vertan sein wird – vielleicht wäre es dieser selbe gewesen, hätte sie den schwierigen Eintritt bei Estelle überwunden gehabt. Nicht zu wissen was folgt, wäre kein Grund, die Straßen entlang zu flüchten vor einem fremden Aufpasser. Welche Macht traut sie ihm wirklich zu? Er hat keine. Ihr versäumter Besuch aber war die erste Bitte, die Frédéric an sie gehabt hat.

In Wahrheit rief sie »Umkehren!« – nur, daß kein Ton folgte, wenn sie ansetzte. Der Wagen fuhr vor; galt wirklich der alte Fahrplan, dann waren es die letzten zwei Minuten. Draußen stand der Zug. »Ça ne rate jamais, quand on veut faire une bêtise«, sagte sie – eilte nicht, aber am Schalter ging ihr der Atem aus. Sie brachte hervor: »Une première Monté-Carle.« Einst hatte sie tausendmal die Worte gebraucht, die alte Übung half der erstickten Brust. Endlich durfte sie sich fallen lassen auf die niedrigen grauen Kissen.

Sie war allein und fühlte Erleichterung, weil es geschehen war. Nichts mehr zu ändern, kein Recht fortan auf Zweifel oder Vorsätze. Der überreizte Geist war abgestellt, solange sie darum nicht wußte. Kaum aber daß man aufseufzt: »Enfin je suis tranquille«, kehrt alles wieder. Erschreckt sah sie um sich: wirklich, sie saß in dem Schnellzug nach Monte Carlo; unfehlbar erreicht ihn, wer einen Fehler machen soll. Er hält nicht einmal in Villefranche. Wenigstens war es so, die Spieler hatten es eilig.

Warum sollte es keine Spieler geben heute wie je? Als sie abtrat, ist die Welt, die ihre war, nicht untergegangen. Sie hat seither gelebt wie nach dem überstandenen Weltuntergang. »Es scheint, daß nächstens andere die Wiederholung kennen sollen. Man nehme ihn leichter, als ich es tat: gesetzt, der Weltuntergang, zweite Probe, ließe soviel noch übrig, daß man betteln kann in einer Bank. Vertugas würde sagen: nein. Er wäre mitgekommen heute. Morgen begleitet er mich weiter.«

Schnellfertige Neuheiten, schon beschloß sie, im Hôtel de Paris ein Appartement zu nehmen, früher blieb es ständig reserviert. »Man wird sich meiner erinnern. Der Besitzer war aus unserer Gesellschaft, obwohl meistens in England und seither tot. Aber Cécil, der maître d'hôtel – Häuser der Art erhalten ihre menschlichen Ruinen. Mache ich selbst diesen Eindruck? Ich glaube es nicht. Une duchesse a toujours trente ans, aux yeux d'un bourgeois. Übrigens genügt meine Stimme.« Darüber ging sie hinweg, mit unterdrückter Beschämung. Was sie hier redete, mißfiel ihr gründlich; sie ging nur hinweg.

Ihre Einfälle, die ihr keine Ehre machten, sie fühlte es wohl, wären an dieser Stelle abgebrochen. Übrig blieb die Frage der Kleidung. Sie sah im voraus das ratlose, aber ironische Lächeln eines jungen Beamten der réception und machte es verschwinden, einfach mit ihrer Anrede, dem Klang, dem Air. »Wohl auch mit meiner Haltung, meinem Gesicht. Er wird schlechthin verlegen, er ruft einen älteren, der den Typ der großen Dame gekannt hat. Die Kleiderfrage ist aufgehoben.« Dermaßen beseitigt, daß Lydia alsbald erwog, ihre Maskerade, so sagte sie, durchzusetzen gegen alle. Weniger stolz, aber leichter schien es, sich morgen neu anzuziehen: das Geld war da. »Sein Geld! Sie sagen mir, es komme von meiner Schwester, kann ich es wissen? Keiner Tatsache bin ich sicher in meiner Geschichte.«

Unvermittelt brach die verhaltene Beschämung laut aus. Nicht, daß einzelne Tropfen sich schmerzlich durchgerungen hätten: die Tränen überschwemmten ihr Gesicht auf einmal, sie behielt nicht Zeit, es unter den Hut zu versenken, erblindete aber vom Weinen. »Nicht später als diesen Morgen habe ich ihm gestanden, meine vergangene Größe wünschte ich mir nicht zurück. Ich sprach die Wahrheit. Echt war die große Frau der leichten Jahre nie gewesen: ihre Überwindung war echt, als ich sie ihm beteuerte; gewiß auch sein Wort, nicht damals, heute sei ich groß. Schrecklich, wie tief ich schon gefallen bin, seit ich von Frédéric ging. Diese Flucht in die sciocchezza – von ihm, bei dem ich endlich nicht albern war. Die Stunde mit ihm. Seine Stunde.«

Neuer Sturz des Wassers aus ihren Augen, die brannten und geschlossen blieben. Der physische Schmerz unterbrach ihre Gedanken. Ihr wurde bewußt, daß sie soeben, hinter dem Schleier ihrer Tränen, etwas Störendes schattenhaft bemerkt hatte. Erkennbar war nichts gewesen, ein Auf- und Niederschwanken im Korridor, vielleicht an der Glasscheibe des Einganges – schon verging das Gesicht. War es das Gesicht, das sie meinte? Dann hatte sie den Zug umsonst erreicht – mit Recht umsonst; ihre Flucht in die Albernheit muß vollends vergeblich werden, damit sie bestraft ist.

Erstarrt saß sie da, aufrecht ohne Lehne; atmete frei, die Krankheit war vergessen. Macht über Lydia besaß nunmehr die Verzweiflung, und sollte sie behalten. Diesen brennenden Lidern waren keine Tränen mehr erlaubt. »Ich habe gewählt. Mit welcher Berechtigung weinen? Von mir sind alle enttäuscht. Frédéric wird später bemerken, daß ich ihn bestohlen habe, wenn es sein Geld ist, und belogen jedenfalls. Ich machte ihm wahre Geständnisse, jetzt sind es die trügerischen einer Unglücklichen, die Liebesszenen vorführt, worauf ihr schwach wird.«

Aber ein unbestochenes Urteil muß nicht bei ihr selbst stehenbleiben. Wie sieht, unerbittlich betrachtet, Estelle aus? »Nicht sie wird enttäuscht sein. Ihr tue ich das größte Unrecht, sie verliert darum die Fassung nicht. Sie ist die Unschuld, die nichts erlebt hat, aber alles kennt, die Freundin eines Comte X, über den sie sich keineswegs täuscht. Monsieur Laplace de Revers ist ihr verständlich. Er regt sie nicht weiter auf, die Schurkereien, die er begeht, kann sie ihm herzählen und noch einige darüber; so auch mir. Ich bin ihr verdächtiger als sie mir, wir wären Freundinnen. Nur mein Verschwinden wird sie stören, sie entnimmt ihm, daß ich mich offen als Abenteurerin bekenne. Nun verabscheut Estelle die offenen Geständnisse. Für mein Verschwinden verachtet sie mich. Anders Madame Riquois.«

Hier erzählt eine Person sich ihre eigene Geschichte, betrachtet sie von außen: solange ist die Handelnde nicht mehr tödlich beteiligt. »Madame Riquois kummervoll, wird Frédéric anhören, noch heute, spätestens morgen, wenn er sich entschlossen haben wird, sie einzuweihen. Wieder eine Illusion weniger, seufzt sie. Er, kein Wort weiter, er schließt den Mund fest, die Winkel verhärten sich, wie bei dem Auftritt des Buchhalters Pigeon, eines franc coquin.«

Um Frédéric und seinen Zorn darzustellen, stieß sie den Gegenstand, der am Boden lag, mit dem Fuß fort. Es ist einfach ihr goldener Beutel, jetzt vergessen und abgerutscht. Um so sicherer wird sie ihn später wieder aufheben, sie weiß es im voraus. »Falsch ist sogar meine Verzweiflung«, spricht sie aus, damit Frédéric es hört, damit das Unabänderliche sein Ohr erreicht. »Wenn ich hier fahre, wenn ich dort am Spieltisch sitze.«

Entsetzlich, wie er es erfahren muß. Je fragloser die Nachrichten eintreffen, tagelang, über sie, ihren Aufenthalt, das Leben, das sie führt, die öffentliche Neugier, die sie herausfordert, um so härter sein Schweigen. Estelle, die ihn behalten will, zeigt ihm in der Zeitung die Notiz über »Kobalt, ihre Bekehrung zur Roulette«. – »Woher hat sie das Geld?« fragt Estelle, da sie es weiß. Das heißt, nicht von der freigebigen Schwester weiß sie. Er schweigt, sie bemerkt selbst, der Geber habe geirrt, als er es einer Toten gab.

Hiergegen endlich empört sich das Gefühl; seines, mit dem Gefühl der einsamen Reisenden; sie sind einig. »Tot? Für ihn, nie – da ich nur in seiner Liebe noch gelebt habe, als für uns alles aus war. Er wird mich lieben, ob ich vergangen wäre. Die unvergängliche Stunde unserer Liebe war schon keine Stunde des Lebens mehr.« Dies hielt sie für endgültig, der Gedanke befreite sie, die Qual dieser Reise war gebrochen.

Mag sein, daß sie wieder einmal die Lippen bewegt, vielleicht gesprochen hatte. Später bemerkte sie es, aber da war das Ziel nahe. Ein Zeuge hinter der Tür hätte sie allenfalls gehört, »ou bien il m'aurait vu remuer les lèvres. Quand même, cela n'apprendrait rien à personne. C'est inconcevable ce qui m'arrive à moi, si insouciante du temps de Fernand.« Dies dachte sie für Fernand, als wäre er zugegen. Gab ihm zu wissen, seine Zeit sei fern, und dessen sei sie froh. Die leichtlebige Liebe von einst, der sie endlos nachgetrauert hatte! Nein, nur getrauert um der Trauer willen. Er hatte sie vergessen. Wäre er heute zufällig zurückgekehrt, von Stund an hätte sie selbst ihn vergessen.

»Was bleibt, ist die Liebe der Sterbenden«, sagte sie versuchsweise. Der Gedanke zu sterben erleichtert wohl, vorausgesetzt, die Prozedur fände nicht gerade jetzt statt, im Zug nach Monte Carlo. Der Tod, ohne daß man bis jetzt an ihn glaubt, ist eine ehrenvolle Handlung, nicht müßig wie Tränen, nicht zynisch wie Geständnisse. Sie blickte hinaus: das graue Schloß von Monaco ragte fern her, verschollen auf ihrem Felsen die unnütze Festung. »Gleich werde ich aussteigen, was dann? Alles geht weiter, unwiderruflich. Ein Zug fährt zurück, ich werde nicht darin sein. Je ne me donnerai pas ce ridicule d'aller contre l'évidence. Geschehen ist geschehen, ich bin zurückgekehrt in meine Vergangenheit. Morgen zu der frühesten Stunde wird Frédéric sich melden lassen. Ich habe gegen ihn keine Verteidigung, für mich kein Recht auf Milde, es sei denn sein Mitleid. Ich werde ihn nicht empfangen.«

So nahe der Ankunft, ja, man hielt, überstürzten sich ihre Gedanken, der Zusammenhang litt. »Der Marchese del Grillo: mit ihm begann die Verwirrung – und die Wiederkehr. Alle Toten melden sich, und ich empfange sie. Marie-Lou, willst du denn aufleben und mich kennen? Ich danke dir. Même Fernand – ah! c'est vous, entrez! Sicher ist, daß der Baccarat-Tisch mich zurückhaben soll, hinten in dem letzten der Säle, wie gewohnt.« Inzwischen betrat sie mit den anderen Spielern wirklich den Aufzug nach der Bank, der ihren Kunden und ihr selbst einen Zeitverlust erspart. Er wartete; niemand kam mehr; sie sah fremde Gesichter.

Über die rückseitige Terrasse drängte die geschlossene Gruppe der Neuen auf einmal in das Casino, Lydia mitten unter ihnen. »Das Publikum, ich mit, verhält sich bescheiden, wie zugelassen. Eine Stätte, historisch würdevoll, nimmt Eintrittsgeld von anständigen Besichtigern, würde man sagen.« Sie ließ die Leute vorangehen – mancher hatte eine schützende Hand auf der rechten Brust. Man beruhigte die ängstliche Gattin, in einer Sprache, die sie für unbekannt hielten: »Keine Sorge, zehntausend habe ich eingesteckt und verlorengegeben, dann ist Schluß.«

»Bescheiden und vorsichtig«, ergänzte Lydia, sie war beschäftigt mit der Kontrolle ihrer Eindrücke. Die réception verlangte Papiere wie je, sie prüfte jetzt umständlicher; der Tourist mit den zehntausend zeigte den Paß eines unendlich fernen neutralen Landes. Was irgendwo fehlte, übersah die Kontrolle, damit sie den Patienten entlassen konnte nach der Halle. Diese, sonst einsam, den ermatteten Glücksuchern bestimmt, viel zu vornehm damals für geräuschvollen Verkehr, nunmehr war sie ein Bazar. Verkaufsstände, Bar, staunende Familien; fehlen nur Anlocker und Musik.

»Ici, les femmes se promenaient deux à deux, elles surveillaient la sortie des gagnants, faciles à faire.« Sie meinte die Frauen von einst – »il en pleuvait« –, die sich manchmal, nicht oft, hier draußen ergingen, um vollständig gesehen zu werden: nur ihre Auswahl, die Vollkommenheit an Wuchs – »was ist aus ihm geworden?« – und ausschweifender Gepflegtheit – »man suche sie, hier und heute!« Sie selbst hatte damit kokettiert, ihnen befreundet zu sein. »Kam es nicht vor, daß wir denselben Freund hatten? Seine Verwendung war verschieden bei ihnen und mir. Einen – diese Dummheit! – waren wir nahe daran gemeinsam zu übernehmen, ich und Yvonne. Sie war mir so anhänglich. Ich liebte sie wirklich sehr.«

Der übermütigen Erinnerung hing sie nach. »An dem Tage bin ich vielleicht am weitesten gegangen. Der Mann ist mir später in der Gesellschaft vorgestellt worden – und hat geschwiegen. Wäre dies das beste, das ich gehabt habe? Ort der Handlung: das Lesezimmer, dort ist die Treppe wieder, je m'y encanaillais à volonté, sur des divans profonds. Zeit: heller Nachmittag. Folgen: keine.« Sie seufzte, aber es war nur wenig Bedauern, mehr Ironie. »Ein folgenloses Leben. Da bin ich nun. Seule de mon état« – immer zu ihrer Belustigung. »Pourtant, en voilà une!«

Eine einzelne Frau betrat von außen her, hoheitsvoll die Halle. Den Empfang überschlug sie, ihr Privileg war gesichert. Kopf im Nacken, das Antlitz weiß wie ein Schneefeld, mit blauen Schatten darin, aber es blieb bleich, umgeben wie es war von dem düsteren Gestrüpp der Locken. Seine Wildheit mußte geplant sein. Was sie bedeutete? Wäre es Aufruhr gewesen! Die Entschlossenheit der Eroberer! Wenn nicht alles täuschte, hatten die Schönheiten von einst zuversichtlich ihren Platz eingenommen; sie mußten sich nicht bunt kleiden, aber sie zogen sich an. Diese majestätische Person war nicht angezogen und kaum bekleidet, womit sie noch nicht abwich von dem Durchschnitt, der vorüberkam, verheiratet oder nicht. Vielleicht daher ihre Unsicherheit und die übertriebene Haltung?

»Interessant, ihr nachzugehen. Keiner anderen will ich in die Spielsäle folgen.« Beim Eingang fragte ein Aufseher: »Die Damen sind zusammen?« Er machte ein Gesicht zwischen Dummheit und Witz. Die poule beschrieb mit ihrer Krieger- oder Pudelperücke eine beträchtliche Drehung, jetzt starrte sie, blind vor Staunen, auf den Mund der Gefährtin, die man ihr zuwies. Sie wartete, daß die Dame antworte. Endlich sprach sie selbst – hochmütig, während ein ärmliches Lächeln sie entschuldigte: »Ich kenne Madame nicht.«

»Ich aber habe die Ehre, Madame zu kennen.« Verbeugung des würdigen Beamten. »Ainsi vous nous revenez, Madame la Comtesse de Trône?« – »C'est une simple coïncidence.« Sie sagte noch: »Edgar, vous m'obligerez de ne pas prononcer mon nom.« Seine wenig erhobene Hand versicherte: »C'est entendu«; sein flüchtiger Blick nach den inneren Räumen: »Ces touristes-là ne valent pas la peine.« Die Fremde stand nicht mehr dazwischen, wo war sie hin? Der Alte, leise, für die Unvergessene, Wiedergekehrte: »Il y a tellement de changé dans cette boîte.« – »Et ailleurs«, ergänzte sie. Ein freundlicher Wink; dieselbe Hand hielt den goldenen Beutel, er ging schon wieder auf, Scheine quollen hervor. Ihr guter Bekannter half, sie hineinzudrängen, sorgfältig schob er den Bügel ins Schloß.

»Vous êtes bien honnête.« Sie drückte sich nach seiner Art aus, das ermutigte ihn. »Si j'osais vous donner un conseil …« Er stockte; genug, sein Ton war durchaus verändert, vertraulich besorgt. Vernehmlich wurde, daß er die große Dame nicht nur erkannt hatte, sie auch beurteilte, die Maskerade, die Krankheit, die geschwärzte Tasche, worin zufällig Geld war. Zu viel coïncidence, es schmerzte.

Sie fragte nicht lange, sie beendete seinen Satz. »Wenn Sie mir einen Rat gäben, wär es, nicht zu spielen.« Gewandt stimmte er bei. Seine vorgeneigten Schultern stimmten bei, aber er war nicht nur glatt von Beruf, sie sah ein ernstes Herz. Auf seiner Stirn erschien eine gute Strenge; nach einem Wagen schicken, damit Madame ruhe, ausruhe im Bett, wohin sie gehört: das ist der Auftrag, den er verlangt, den er mit Überzeugung ausführen wird.

Sie, statt dessen, hat für ihn ihr verhaltenes, klares Lachen, diese Stimme, reizend wie je, nunmehr rührend überdies. »Fürchten Sie nichts, Edgar! Si. Je vais jouer pour voir. Nicht wie damals. Je joue sans jouer, tout en jouant.« Da mußte auch er lächeln, es war ihre Gelegenheit weiterzugehen. Er folgte bis unter die Tür. Leise, dringlich warnte er: »Erinnern Sie sich, Frau Gräfin, schon damals verließen Sie diese Tür mit Fieber. Ich brachte Ihnen Wasser, für das Aspirin.«

»Danke, Edgar.« Ihre unwiderstehliche Stimme – er gab den Weg frei. »Elle est forte, quand même.« Er fand sie tapfer, hier wieder einzutreten.


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