Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Man ist freundlich, man ist gut

»Ich sehe, Madame, daß es besser geht«, hörte sie die Besitzerin sagen und erkannte die Stimme, die am Bett zu ihr gesprochen hatte: damals geheim und traurig. Jetzt war sie weder das eine noch das andere; das ganze Haus hätte der Begrüßung eines neuen Gastes beiwohnen dürfen. War diese Begrüßung nicht doch berechnet? Die Augen der Frau forschten zu sehr, sie verrieten, daß Madame Riquois keineswegs ihren Gast wohlauf fand. Lydia im Gegenteil war mit sich zufrieden, seit sie den Namen wußte. Frédéric hatte ihn nur einmal genannt.

»Madame Riquois«, sagte sie einfach, »ich danke Ihnen, für alles, was Sie an mir getan haben.«

»Es war nur natürlich«, sagte die Wirtin ebenso einfach – als brächte sie jede Kundin persönlich zu Bett. Aber ihr Ausdruck! Er war plötzlich verändert; seit dieser Minute fürchtete sie nicht mehr, die Angekommene durch den Tod oder sonstwie zu verlieren: die Fremde hat gesprochen. »Hatte sie mich noch nicht gehört?« Lydia wußte durchaus, was ihre Stimme vermochte. Wer geglaubt hatte, für das richtige Leben zähle sie nicht, betrachtete sie genauer nach einem Wort von ihr. Auch darum machte sie ihre Worte selten. »Als sie mir zu essen gab, als sie mich entkleidete, habe ich hartnäckig geschwiegen? Nicht mit Absicht, nur aus Müdigkeit.«

»Madame la Comtesse«, sagte die Frau, respektvoll und vertraulich. »Ich bin mit Ihnen sehr zufrieden.« Ihr gutes Gesicht bekam Farbe, es schien rund zu werden. Da trat erst hervor, daß es vorher kummervoll gewesen. Lydia reichte der Besitzerin, die bald vertrieben sein wird, die Hand, aus einfacher Kameradschaft. So erwiderte die Frau es. »Sie haben gut geschlafen«, sagte sie. »So gut, daß ich Sie nicht wecken mochte, als ich mir erlaubte, nach Ihnen zu sehen – obwohl es drei war.«

»Ich war nur kurz wieder eingeschlafen, um drei.« Während sie dies sprach, bedachte Lydia: »Sie nennt die Stunde, und betont sie. Es scheint, daß sie weiß.« Hier wurde dieses alte Gesicht ihr bekannt, kehrte weither zurück und trug nunmehr die Züge einer Schloßverwalterin aus Kindeszeiten. Zehnjährig hatte sie aus ihrem Bett, unter gesenkten Wimpern zugesehen, wie die Alte leis und langsam, endlos langsam die Tür öffnete, ob die Kleine schlafe. Dem Kind hat das Herz geklopft; die unmerkliche Erweiterung des Spaltes ist spannend.

So, heute, diese andere. Jemand sieht nach ihr – wäre es ein letztes Mal? Viele kehren wieder – ob des Abschieds wegen? »Sie sind gut und freundlich.« Lydia drückte Madame Riquois die Hand; noch hielten sie einander. »Um drei war ich verabredet.« Da die Frau es weiß: »Jetzt ist es versäumt. Adieu.«

»Nicht adieu.« Besorgt redete man ihr zu. »Sie kommen wieder. Inzwischen lasse ich Ihr Gepäck holen.« Die Reisende hatte keines, sie kam nicht von der Bahn, hier war nicht ihres Bleibens. Alles bekannt! Auch daß sie im Hotel verkehrt hat, einst, als sie reich war. Großfürst Cyrill machte ihr den Hof. Beide, die Wirtin und die Fremde, fanden es schicklich, das Gepäck zu erwähnen. »Ich bringe es mit«, sprach Lydia. »Falls ich wiederkomme.«

»Aber Sie kommen ja wieder!« Die Frau hatte ihre Hand behalten, jetzt streichelte sie die Hand, damit ihre Worte eindringlicher wären. Tatsächlich empfindet für Lydia dieses Herz, das sie streichelt. – »Monsieur Frédéric Conard erwartet Sie ebensowohl später«, spricht die Frau. Sie kann es nur wissen, wenn Frédéric hier war. Warten wird auch Estelle. »Lieber wäre mir die Ungewißheit über beide.« Aber er ist sogar hier gewesen – um drei. Seinetwegen war die Frau an der Tür. »Man hat nach mir gefragt?«

Hier gab die eine Hand die andere frei. Madame Riquois hatte etwas Neues zu sagen – vermied es solange nur? Jetzt soll sich herausstellen, warum in Wirklichkeit sie getan hat wie die Schloßverwalterin. »Man hat allerdings nach Madame gefragt. Mehrere Personen, nur der eine kannte Ihren vollen Namen. Der andere sprach von Lydia – als ob er ein Recht darauf gehabt hätte. So sah er nicht aus.« Die letzte Bemerkung gab einen Anhalt, wer er sein konnte. Übel genug. Aber der erste, der den vollen Namen weiß, muß anstößiger sein; um ihn noch zu vermeiden, verweilt die Frau bei dem zweiten. »Er hoffte hier mehr zu erfahren, als er wußte.«

»Wer war der eine, der mich kannte? Er schien Ihnen unverdächtig?« – »Gewiß.« Dies kam schnell; dann, um nochmals Zeit zu gewinnen: »Es wäre auch schwer, so viel Verdacht zu erregen wie der andere. Kein Zweifel, daß dieser nur kam, um mich auszuholen, Ihren Aufenthalt, was Sie vorhaben, was in der Banque Commerciale mit Ihnen geschehen sei.« Hier ein prüfender Blick. »Einen Mann wie ihn sollte es nichts angehen. Mir hat er sich nicht genannt.«

»Ich habe keine Ahnung.« Lydia sprach es in dem peinlichen Gefühl, eine Bekanntschaft wie diese setze sie selbst herab, nach der kaum erfahrenen Achtung. »Ein Nervöser«, vermutete sie. »Aber wohlerzogen?« – Die Hotelwirtin lächelte kundig. »Gut gekleidet, wollen Sie sagen. Er war es bis zu einem gewissen Grad, verlor aber den Vorteil infolge seiner Art zu sein.« – »Das heißt?« – »Zu jugendlich. Denn der Mann war nicht jung. Nur die Bewegungen, die Gesichter wollten es scheinen. Il n'y gagnait qu'un certain air débraillé.«

»Sie haben ihn beobachtet.« Lydia sprach es zerstreut. Sie glaubte Schritte zu hören. Wohl der Besucher, auf den es ihr ankam. »Beobachtet habe ich den falschen Jüngling. Ihretwegen, Madame la Comtesse de Trône.« Jetzt betonte Madame Riquois den Namen einer Gräfin Traun – die Unglück gehabt hat, sonst besäße sie alles, um nach wie vor der guten Gesellschaft anzugehören. Leider scheint sie einen unschicklichen Bekannten mitzubringen. – »D'après vous, ce n'est pas un homme de bonne compagnie.« Dringend sprach Lydia: »Der erste interessiert mich mehr.« Die Frau indessen hatte noch etwas auf dem Herzen in Betreff des zweiten, ihr Peinlichen. »Werden Sie glauben, Madame, daß er geschminkt war? Am hellen Tag.«

Auf der Treppe, die leergestanden hatte in dem verödeten Haus, nahten jetzt deutlich Schritte, die Tür war offen geblieben. Die Frau wendete hastig den Kopf um und wieder zurück. »Den Mann, der Sie interessiert, werden Sie sogleich sehen.« Für sich: »Mein Gott, ich habe zu lange gewartet.« Hierauf, mit bereitgehaltenem Arm: »Es ist Léon Jammes.« Aber Lydia sank nicht in den offenen Arm. Sondern ihre Brauen falteten sich; in einem Contralto, der zornig bebte, befahl sie: »Ihn will ich nicht empfangen.« Der Schritt auf der Treppe hielt an.

»Ich weiß, daß Sie ihn nicht mögen.« Madame Riquois flüsterte schuldbewußt. »Noch dazu sieht es aus, als überfiele er Sie; das liegt an meinem Versäumnis, Sie vorzubereiten. Verzeihen Sie mir – und fürchten Sie nichts. Pour un homme de son métier, il est doux et compatissant.« – »Teilnahme, von diesem Herrn?« Das Wort hatte die Fähigkeit, Lydia vollends zu erbittern. »Lassen Sie mich, Madame Riquois. Ich will ihm allein begegnen.« Worauf die Besitzerin schnell abging. Sie hätte es jedenfalls getan, wäre sie noch so neugierig gewesen. Aber den Befehl, dem Manne nicht zu begegnen, nahm sie ganz wörtlich. Sie hat die Treppe vermieden. Der Erwartete ist gleich darauf oben.

Eine gewisse Strecke des langen Korridors liegt zwischen Léon Jammes, du Deuxième Bureau, und der Gräfin Traun. Er macht den Weg allein, sie bleibt am Fleck. Er grüßt schon von fern, seine verhaßte Miene ist diesmal weltmännisch, was ihm nicht hilft bei der Dame. Lydia: »Machen Sie es kurz, ich bin im Fortgehen – meine Sache, wohin. Sagen Sie unter vier Augen, was Sie vor aller Welt zu sagen pflegen. Natürlich bin ich verhaftet.« – Leon Jammes: »Frau Gräfin, ich hätte Sie gebeten, daß Sie mir drunten in den Gesellschaftsräumen die Ehre erweisen, mich anzuhören. Es ist leer dort, aber die Stille hallt wider. Ein kranker Funktionär, zwei ältere Provinzlerinnen könnten uns allenfalls belauschen.«

»Haben wir Geheimnisse?« – »Unvorgesehene. Andere, als Sie meinen.« – »Ich bin nicht verhaftet?« Die Frage überhörte er. »Dann gehen Sie mich nichts an«, sagte sie schroff. Er machte ein Gesicht, als gäbe er ihr recht. »Ich habe andere Funktionen.« – »Ich weiß, Sie kontrollieren die politischen Charaktere. Es scheint, ich besitze einen, und Sie sind für ihn verantwortlich. Ich frage mich, wie lange der Scherz dauern soll.« – »Wollen Sie wissen, wann Sie mich los sein werden?« Er sprach es ernst; erst jetzt erschrak sie. Denn sie fühlte etwas Neues kommen, anstatt der Verhaftung, die sie kannte.

»Machen wir keine Dummheiten«, riet Léon Jammes, der Ton näherte sich seinem gewohnten, amtlichen. Sogleich milderte er den Eindruck, er reichte ihr den Arm – nötigte sie vielmehr, sich führen zu lassen nach einer offenen Tür. Angelangt, begriff sie erst: »Das Zimmer, aus dem ich komme. Ich hatte es endgültig verlassen.« Sie wehrte sich. »Ich habe Ihnen nicht erlaubt, über mich zu verfügen.« – »Natürlich nicht«, sprach er mild und zuverlässig, schon zog er die Tür an sich, sie waren drinnen. Die Uhr auf dem Kamin tat einen Schlag, halb fünf. »Da wäre ich wieder, nach einem Abschied für immer.« Der Gedanke betrübte sie nicht.

Der perlgraue Sessel neben dem Tisch war ihr vertraut. »Habe ich darin nicht geschlafen?« dachte sie. »Hier schlief und träumte ich viel. Ich könnte es wieder. Ihm will ich nicht zuhören.« – Er bat aber um einen Augenblick, bevor sie sich setzte. »Vermissen Sie nichts? Versuchen Sie es hiermit.« Dem perlgrauen Polster entnahm er eine Tasche von geschwärztem Gold. »Ihren Sack verlassen Sie kaum als Fabrikarbeiterin. Sie wollten hierher zurückkehren, übrigens brauchen Sie nur zu bestimmen, wann Sie abreisen. Ich würde doch glauben, jetzt. Gleichviel ob Ihre Heimat vom Feind besetzt ist, Sie ständen unter besonderem Schutz.«

Sie horcht auf. Abreisen. Heimat. Schutz. Der Mann legt seine Rede darauf an, sie zu spannen, sie irrezuführen, bis sie ihm beichtet, was sie selbst nicht weiß. Endlich hob sie ein wenig die Schultern; ihre Lage auf dem weichen Kissen ließ es kaum bemerken, übrigens fielen die Augen ihr zu. Sie dachte: »Heimat. Die Heimat vom Feind besetzt. Dort ist es schon geschehen, anderswo soll man es noch erfahren. Ich, nicht mehr.« Hörbar: »Haben Sie sonst ein Anliegen?« – »Sie haben mich nicht verstanden. Klostergmund, die Stätte Ihrer Kindheit, Sie werden das Haus und Land dennoch wiedersehen.« – »Nein«, sagte sie einfach, fühlte aber keinen Schlaf mehr.

Hier ist ein Name gefallen, nie mehr hätte sie ihn zu hören geglaubt. Der Nachforscher hat weit zurückgefunden. Keine Bewegung zeigen; er könnte in der Richtung weitergehen; bis wohin? »Versuchen Sie nicht, rätselhaft zu scheinen. Cela ne prend pas«, sprach sie schlaff, aber ihre Gleichgültigkeit war gespielt – was er erriet und sogleich beenden wollte. »Ihre Schwester hat mir aus Brüssel geschrieben« – er verstand den Eindruck schlichter Ehrlichkeit zu machen. Sie richtete sich im Sessel auf. »Meine Schwester, Madame de …« Er ergänzte: »Madame la Princesse de Vigne.« – »Schreibt Ihnen?« – »Wenn etwas vorliegt.«

Sie betrachtete ihn. »Diesmal sind Sie ernst. Warum waren Sie es nicht früher?« – Er nickte. »Es ist wahr, daß wir uns lange kennen.« – »Besonders Sie mich. Sie hatten über mich Auskünfte – von meiner eigenen Schwester – die mich haßt …« – »Là, là«, machte er, ihrer Beruhigung wegen. Sie war dabei, sich zu erregen, alle seine Anstalten hatten versagt. »Die mich haßt, die mich entfernen möchte, schon immer; hier sogar sieht man mich zu sehr. Die Gelegenheit ist günstig, ich soll in Klostergmund verschwinden, bald nachher in einem Lager. Sie mag nicht warten, bis auch hier die Lager kommen.« – »Là, là«, machte er. »Vous auriez tort de vous agiter.«

Da sie genötigt war, ihre Atmung zu ordnen, übernahm er die Fortsetzung. »Ihr Urteil ist voreilig.« – »Man ließ mir Zeit zu urteilen«, begann sie dennoch, aber er unterbrach sie. »Bald nach dem Tode des Baron Kowalsky bot die Fürstin Ihnen den Aufenthalt in ihrem Haus an, Sie mußten nur auf gewisse Freundschaften verzichten.« – »Und in Brüssel als arme Verwandte leben? Wenn Sie eine Schwester haben, würden Sie es ihr zumuten?« – »Nein«, sagte er, mit einem geraden Blick, der sie erschütterte. Was ist dies, er tritt auf ihre Seite. »Sie haben mich verfolgt.« Sie sprach erstickt, aber es war nicht der Husten, es waren Tränen.

Er übersah ihre Hilflosigkeit; obwohl ungern, dankte sie es ihm. Er fing an, sich zu erklären. »Sie missverstanden meine Handlung. Als die Polizei sich Ihrer annahm …« Sie fiel ein: »Hatte Madame la Princesse Ihnen eine Botschaft zukommen lassen.« Er beendete: »Meinten beide, Polizei und Prinzessin, daß Sie unrecht täten, sich als Fabrikarbeiterin bloßzustellen. Mit Ihrem Namen ist es eine Herausforderung.« – »Als ob ich mir meinen Namen gegeben hätte. Ich hieß Kobalt. Es war eine gute Zeit. Ich hatte Freunde. Das erste Mal in meinem Leben kannte ich seinen Sinn.« Er atmete laut, nicht sie von ihren bewegten Worten, er, der sie hörte.

»Es war nicht leicht«, brachte er vor. »Sie waren krank, wie außer dem Hospital nur ich noch wußte. Folglich brachte man Sie in das Hospital, und die Fabrik entließ Sie. Hätten Sie vorgezogen, als kontrollierte Aufwieglerin dort weiter zu bestehen?« – »Die Leute liebten mich.« – »Ich weiß. Man hat Sie mitsamt dem trennenden Abstand geliebt.« Sie empörte sich. »Das weiß er – und entzieht mir meine Freunde.« In demselben Augenblick vereinsamte sie ganz. »Ein schönes Geschäft, Sie haben meiner Schwester gehorcht.« Weiter kam sie nicht. Was hätte sie, ihr selbst unerwartet, gesagt? »Wie kann ich im Ernst meine Schwester hassen. Sie aber machen sich mir verhaßt.«

Er verstand, auch was sie ungesprochen ließ. »Heute möchte ich bereuen«, erwiderte er, »daß ich Sie damals zur Verantwortung zog. Aber es rettete Sie, nur mein vorzeitiges Einschreiten vermochte es. Die Kommunistenverfolgungen hatten begonnen. Eine Frau Ihrer Herkunft wäre nicht vergessen worden. Mir verdanken Sie trotz allem, daß Sie seither für harmlos gegolten haben.« – »Wenn Sie nur selbst im Ruf der Harmlosigkeit ständen. Monsieur Laplace de Revers hält Sie für gefährlicher als mich.« – »Es wäre meine Pflicht, ihm gefährlich zu sein.« – »Sie gestehen Ihre Opposition gegen die wirklichen Machthaber.«

Haben die Dinge sich verkehrt? Sie klagt an, er gesteht? Wahrhaftig scheint er hier zugegen, um an ihre Seite zu treten. »Vorläufig«, betonte er, »überschätzen Sie Laplace: wir sind stärker. Ich weiß zuviel und hüte mich vor Ermordung.« – »Wie hüte aber ich mich?« – Er gab zu bedenken: »Die Frau Fürstin ist natürlich einflußreicher heute als vor Ausbruch des Krieges. Ich vermute, ihr Einfluß reicht nach zwei Seiten. Gingen Sie in Ihre alte Heimat, Sie hätten nicht viel zu befürchten. Hier – mehr.« – »Hier, mehr«, wiederholte sie. – Er: »Sie wollen das Wichtigste nicht begriffen haben? Überlegen Sie, was gegen Sie spricht.« – »Daß Sie hier sind, ein Verhaßter bei einer Verfolgten.« Sie spielte es aus.

Aber es war nicht dies. Sie wollte nur, daß das nächste nicht käme. Er wehrte gleichgültig ab. Was vielmehr gesagt werden will: »Sie haben einen Freund. Wahrscheinlich hätten Sie ihn niemals haben dürfen. Heute? Übersehen Sie, daß er Ihr Verderben ist?« Sie war heftig erschrocken. »Frédéric Conard ist nicht bestimmt, mir zu schaden, eher ich ihm. Was wollen Sie wissen? Meine ganze Affäre dient nur seinen Feinden, ihn mürbe zu machen oder ihn zu beseitigen.« Erst als sie zu Ende war, lehnte er ab. »Ihn nenne ich nicht. Eine andere Person Ihrer Affäre. Sie wollen den Menschen nicht kennen; deshalb überwinden Sie sich und ziehen Conard hinein.« Dies sprach er knapp, es konnte ein Verhör sein, er versuchte, ihr Lügen nachzuweisen. Soll sie sich nochmals empören, war aber schon erschüttert gewesen? Derselbe Mensch erscheint unverhofft als ein Mitfühlender; bei der nächsten Wendung ist es ein Spion. Ihm hat sie von Frédéric gesprochen!

»Ich irre mich«, sagte sie. »Ihre wahre Sorge ist der rätselhafte Agent, der hier umgeht. Ja, ich kenne ihn, insofern der Comte X sich auf ihn und mich ausredet. In jedem anderen Fall hätte ich nie von ihm gehört.« – »Diese Aussage wollen Sie aufrechterhalten?« – »Diese Aussage könnte ich aufrechterhalten. Mir gibt er sich wirklich nicht zu erkennen.« – »Ebensowenig bringe ich heraus, wer er ist, ob der Mann, den Sie kannten.« Wieder seine unbezweifelbare Ehrlichkeit. Ihr eigener Ausdruck zeigt, daß sie die Gestalt ihr gegenüber neu prüft. »Nach wie vor mißtraut er mir, dabei will er mich schonen. Andererseits, alles was er zu gestehen vorgibt, ist fraglich.« Er denkt, ihr sichtbar: »Die Verschwörer halten Sie für ihre Feindin. Mit einem, den man kauft, ist sie befreundet.« Unmöglich, weiterzukommen. Er hebt die Arme – aus bloßer Ratlosigkeit; Emphase ist das nicht. Es heißt nur: »Was mache ich aus Ihnen, Madame?« Was er sagt: »Hüten Sie sich vor dem Menschen, und entlarven Sie ihn!«

Gleichviel, der Eindruck, den beide letztens voneinander haben, ist noch der günstigste, wenn es denn verboten ist, einander zu kennen. Er wünscht ihr wirklich zu helfen, obwohl er auch seinen amtlichen Vorteil wie den Auftrag seiner Natur: zu wissen, verfolgt. Sie sagt die Wahrheit: »Ich kenne Ihren Verbrecher nicht« – nur, daß sie fortläßt: »Vielleicht, wenn ich wollte, wenn ich meine Erinnerungen gewähren ließe; wenn ich noch ertrüge, was war, was am Rande meines Tages wieder herdrängt …« Dies hörte er nicht, muß es aber ähnlich verstanden haben. Er erhob sich, sein Besuch war so gut wie fruchtlos verlaufen, obwohl unter Austausch von Kenntnissen.

Im Abgehen wendete er sich nochmals an sie, die über ihr Gesicht schon den Hutrand senkte. »Wenn wir denn nichts wissen, eins kann ich Ihnen eröffnen.« – »Wie? Sie sagten?« Er hatte eine Geste, die auch dies beiseite schob. »Kommt endlich eine Tatsache?« fragte sie. Er flüsterte – warum gerade hierbei, schlimmer war es auch nicht: »Das Geld, das Frédéric Ihnen auszahlte, kommt in Wahrheit von Ihrer Schwester, er weiß es selbst nicht.« – »Danken Sie ihr, falls ich verhindert wäre«, sagte sie. Eine Pause. Inzwischen genoß sie eine der großen Freuden, die ein Leben kennt. »Ich wußte, sie war es.«

Er sprach noch wieder. »Auch die geringen Beträge, die ich Ihnen zuweilen aufdrängte, als Spenden wohltätiger Vereine.« – »Womit ich meine Schuhe bezahlte – nur die Schuhe, mehr nahm ich nicht an. Das Geld kam immer von ihr.« Er hat das nie erblickt, dieses verklärte Elend, den ganzen Stolz einer Liebe, die von Grund her standhält den Wirrsalen des Lebens. Der Mann der politischen Intelligenz war recht ergriffen, er wendete sich zu gehen. Hinter ihm wurde geflüstert: »Deine Schuhe, Marie-Lou. Wie es wohltut!« Ihr kleines blasses Gesicht, sie ließ es ihn nicht mehr sehen. Da er nun glaubte, er werde selbst nicht mehr gesehen, lehnte er sich rückwärts, mit Wendung der Hüfte, weit nach ihr hinüber – es hätte, sähe man es dennoch, elegant gewirkt, sehr männlich überdies, es hätte nicht überrascht, es war so unmittelbar. Wie auch die Miene. Sein Gesicht gab, wie seine Figur, die eingeübte Haltung auf, es wurde menschlich nackt und bloß.

Er fürchtete aber, dies zu zeigen, Mitgefühl, das nicht kränken möchte, und eine machtlose Neigung. Die Tür ist in Reichweite, er streckt die Hand aus. Gleich darauf weiß sie sich allein, sie läßt eine Weile vergehen, dann schlägt die Uhr, und sie spricht: »Auch Léon Jammes. Auch du, Marie-Lou. Man ist freundlich, man ist gut.«


 << zurück weiter >>