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Die Nachwelt

Sie blieb allein. Die Wirtin begleitete den Priester, die Schwester holte frisches Eis, Mado hatte den kleinen Tisch mit dem Kruzifix seitwärts hinausgerollt, sie zögerte hinter der Tür. Sie wußte, wer jetzt ihre Geliebte zu betrachten wünschte, sie störte nicht.

Der älteste Freund kam hervor von irgendwo, Fernand hatte die Szene des Priesters abgewartet, in dem einfachen Gefühl, er passe nicht hinein. Der letzte Freund dachte von sich anders, aber er hatte mit dem Arzt, als er abging, einige Worte gewechselt. Daher versäumte Léon Jammes die Handlung, die für fromm galt, er schritt vor dem Haus mehrmals den Garten schnell ab. Die Antworten, die er nicht gegeben hatte, bedrängten ihn. Einem Militärarzt, der sich beklagt, daß man ihn von der Front zurückhält, damit er einer überflüssigen Sterbenden Eis verordnet – was lehrt man ihn? Die Front sei im voraus verkauft, der Sieg verraten an eine Klasse, das kämpfende Volk alleingelassen, aufgegeben, schändlich überantwortet einem Übermaß von unverdientem Leid.

Das ist mehr, als man über die Lippen bringt. Nicht Léon Jammes. Er hat keine Industriellen, aber sein wundervolles Land sogar in Gedanken immer geschont. Sein Land hat die Entschlüsse schuldiger Minister – nie zu den seinen gemacht, aber sie geschehen lassen unter dem Terror der Klasse, die sich gleichsetzt dem Land; sie kann sagen: der Welt. Das sieht einer, begreift es, höhlt es aus bis in den Grund, der nach Verzweiflung riecht. Die Klasse ist nur verzweifelt, daher ihre angstvollen Untaten. Ihn befällt der Überdruß an dem öffentlichen Schicksal; es ist nicht zu retten, nicht zu loben, übrigens wird es nach uns aufwärtsschreiten, kein Land geht unter: gewiß dieses nie.

Pause. Rückzug aus der großen Geschichte einer Klasse, der nicht zu helfen ist. »Nous sommes payés pour la connaître, d'ailleurs eile tire à sa fin.« Dann aber stellt von selbst ein einzelnes Wesen sich ein, hat gekämpft und überwunden, gelitten und geliebt, alles höchst gewöhnlich. Stirbt, von allem das Ordinärste. Aber man kann sich dem gebrechlichen Rest der Person ergeben, was die große üppige Geschichte selten verdient. Noch weniger erlaubt diese, daß wir zittern, weinen, ewigen Abschied nehmen und in uns ein unsterbliches Begehren wälzen. Das gewährt dem Mann des Deuxième Bureau, allerdings ein besonders wacher Intelligenz-Beamter, die bald verewigte Lydia Traun. Ohne auch nur bemerkt zu haben, daß er hinaufging, findet er sich droben an ihrer schon gewohnten Tür.

Er möchte abreisen wie sie, wäre es ihm zugesprochen wie ihr. Würde er sie wiederfinden? Hat sie ein Ziel, hat sie? Er betrachtet. Sie atmet, obwohl für sein Gefühl abgereist und verewigt. Sie atmet, er betrachtet, bleich wie sie, nur zeigt seine Haut, wenn das Blut sich zurückzieht, bräunliche Unreinheiten. Ihre ist wie eines Kindes. »Ihre ist wie eines Kindes«, sieht Fernand, den sie geliebt hat. Sein halbes Leben hat er sie versäumt, aber nie wieder gutzumachen ist allein der Tod. »Wäre ich ein einziges Mal gekommen, hätte gesprochen, wir wären beim Scheiden nicht Fremde wie jetzt, wären wirklich zugegen, ich für sie, sie für mich.«

Aber er besinnt, daß er in der Tat gekommen ist, an ihrem letzten Tag: den letzten hinterläßt sie ihm, nur ihm. Wenn alle sie vergäßen, in seinem Gedächtnis atmet sie bis zu seinem eigenen Ausseufzen. Damit wird ihre Nachwelt enden. »Mit mir stirbt sie ganz.« Wenn das ihn befriedigen kann. Den anderen Mann, auf der anderen Seite dieses Türrahmens, tröstet vielmehr ihr Fortleben. An seines hätte er nie gedacht. Er zieht es in Betracht – muß darüber noch Erkundigungen einholen –, seit ihren späten, gezählten Atemzügen, ihrem Anblick, dem bloßen Schimmer, der sie inzwischen geworden, das kleine blasse Gesicht auf dem Kissen, das nicht mehr gewechselt werden soll.

Neun Uhr, die erstarkte Sonne wird gefiltert durchgelassen, sie sprenkelt das Bett, ein Streifen umspannt den Kopf des Wesens, das keinen Leib mehr fühlt, es atmet zu dieser Zeit wie unbeteiligt. Der Flecken Licht, der sie ist, und ist froh, als ein leichter Schein zu erlöschen, der Schein und Flecken Lydia denkt gleichwohl; empfindet ohne Schwere, denkt, was nicht immer so einfach gekommen wäre. »Oh! mein Kopf«, bemerkt sie erstaunt, im geringsten nicht angstvoll. Das war sie gestern in der Frühe. Der Tag fing an, vor dem Laden ihrer Freundin Vogt wurde sie aufgehalten von einer Beängstigung des Kopfes, die eine Voraussage war.

Jetzt weiß sie, wie es kommen sollte. Andere sind dafür nicht gemacht, sie meinen, dies sei tragisch, und prägen sich ein, daß sie dabei sind. »Es war aber ein ganz vernünftiger letzter Tag, dies Ende gebührt mir. So habe ich, ein wenig vor der Zeit, eine Nachwelt. Wer mich überlebt, hat noch nicht viel voraus: ich war nie ganz hier. Die beiden Männer in der Tür beweinen mich, sie beginnen endlich.« Hier hoben sich ihre Wimpern – wenig, nicht zu erkennen aus sechs Schritt Entfernung. »Da sind sie wirklich, ich hatte sie nicht nur geträumt. Dann gäbe es auch eine Estelle. Sie hätte einen Frédéric verloren, im Ernst verloren. Oder wird nach mir alles anders, als ich es kannte? Mag sein, ich nehme mit, was ich gewesen.«

Sie hatte den dunklen, ihr selbst verdächtigen Gedanken, wenn sie nicht mehr hinsähe, wäre fortgewischt, ungeschehen die stürmische Liebe einer ihrer letzten Stunden, mitsamt dem Haß, der sie, so gefährlich wie nichtig, einen Tag lang verfolgte. »Abenteuer, schon vergessen, während ich noch atme.« Plötzlich wurde sie gewürgt, das Keuchen war vernehmlich, in der Tür erschrak man. Es verging; es war nur, daß sie gedacht hatte: »Frédéric ist tot, vor mir.« Gleich darauf erinnerte sie sich, daß sterben weniger einfach ist als dasein. »Der Atem entscheidet«, beschloß sie, da sie soeben dem Ersticken entgangen.

Sie sagte, glaubte es deutlich hörbar zu sagen: »Die beiden Mappen.« Inzwischen waren la Soeur Philomène und Madame Riquois einzeln wieder eingetroffen, auch Mado getraute sich aus dem Badezimmer hervor. Die drei Frauen, die beiden Männer umstanden ihr Bett. Niemand begriff sie, worüber sie diesmal erstaunte. Nur ungewisse Mienen, aber sie hatte doch gesprochen. Hier zuerst wurde ihr Ausdruck lieblich feierlich, wie der Tod ihn seinen Neulingen borgt, damit sie schön entschlafen sind. Ihre Meinung war aber: »Niemand versteht. Keine Stimme, kein Atem. Ausgekämpft.« Ihre Augen glaubte sie schließen zu dürfen.

»Tant pis«, sagt eine halblaut. »Elle s'inquiète de l'argent.« Mado, da kehrt sie zurück aus dem Zimmer drüben, trägt in jeder Hand eine gekrönte Mappe, hat aufgepaßt, wo sie versteckt wurden; beinahe weiß sie auch schon, wer nichts bekommen wird: der arme Fernand – der aber von sich absieht. Er will bleich bleiben, will trauern, verloren sein, aufbrechen wie je ins Weite. Auch Madame Riquois erwartet für sich nichts, ungläubig weist sie auf ihre Person, als sie beschenkt, kann heißen gerettet werden soll. Gerettet von zwei Augen, die in einem kleinen blassen Gesicht nach ihr suchen, sie bitten. Dann gehen sie bittend zu Mado. Nun, die bricht in Schluchzen aus, viel rauher, als sie weiß und will; beugt sich über sich selbst, verschwindet gebückt, mit der Mappe, worauf Tränen fallen.

Lydia aber schlief ein. Wenigstens war ihre Erschöpfung wohltätig genug, daß eine Spanne ungesicherter Ruhe folgte, die letzten Arbeiten des Atems warteten solange. Den tiefen Schlaf wird sie nicht mehr kennen, auch den tiefen Atem nicht. Die besten Tage ihres Lebens, hier träumte sie davon ohne zu schlafen, die besten waren die leichtesten gewesen. Hohe Berge ersteigen, ohne vom Atem zu wissen. Lachen, lieben, leben: wenn es glücklich war, hat sie wenig Mühe davon verspürt. Auf das glücklichste war alles geordnet von ihrem Sonnengeflecht, ein Nervensystem der Mitte, das wenige bei sich entdecken, über sie, die hier schlummert, hat es geboten.

Sie sieht das System menschengleich, in Gestalt des Mannes, der sie einst darüber belehrt hat. Ein Fünfziger mit gestutztem weißen Bart, einmal verbauert, einmal ein eleganter Wiener Doktor, Frauenjäger wie die Genies seiner Art. Er kann schrecklich herabgestimmt werden, aus dem Tiefsten ist er heiter. Er war der Mann, der atmen lehrte, in seiner Gewißheit über die Erregungen der körperlichen Mitte. Das Sonnengeflecht beherrscht die Funktionen, samt ihrer höchsten. Es ist das Sonnengeflecht, es bestimmt das Denken, macht es hinfällig oder groß. Sieh, der Doktor besucht sie in ihrer Lufthütte; viele davon standen auf seinem Grundstück am Gardasee, stehen in diesem einsamen Traum wieder da.

Er erscheint, das ist das Wort. Geht gerade auf sie zu, drückt ihr seinen kurzen Zeigefinger vor den Magen, sie biegt sich, es schmerzt. »Sie sehen, Comtesse, daß Sie an eine Person anders denken, als recht wäre. Ihr Atem ist falsch. Gleich werden Sie atmen, ohne es zu bemerken.« Alsbald verschwindet der Doktor, auf demselben Fleck erhebt sich Marie-Lou. »Enfin te voilà«, seufzte die Träumerin, meinte sogar, ihre reglosen Arme streckten sich nach der Schwester. »Du bist gekommen, sei mir nicht böse, ich muß sterben.« Das war nicht mehr aus jener Lufthütte, hier in dem letzten Zimmer wurde es – kaum geflüstert, die Schwester allein verstand es.

Die Schwester war weder zart noch empfindsam im Leben. In dem Traum ihrer Schwester war sie es ebensowenig. »Stirb nicht, wenn du es lassen kannst«, sprach ihre Traumgestalt, »sonst aber stirb anständig, du bist eine Traun. Die letzte Ölung war angemessen. Sie hat mich an unseren Vater erinnert; sein Leben war fehlerhaft, untadelig starb er.« – »Wir nehmen die Förmlichkeiten zu Hilfe«, antwortete die träumende Schwester der anderen, geträumten. »Wir haben es leider nötig, manches wiedergutzumachen, auch du, Marie-Lou.« Antwortete Marie-Lou: »Ich gebe kein Schauspiel, wo ich vielmehr etwas zu verbergen habe. Dahin neigte ma chère soeur. Rappelle-toi la scène de l'Empereur.«

Der Aufforderung bedurfte es nicht, die Szene des Kaisers stand ohne weiteres vor den beschämten Augen der Erinnerung. »Nach allem, was aus mir geworden ist, mich noch immer zu schämen!« dachte die Gegenwärtige angesichts ihres vergangenen Bildes. Kaum sechzehn, sie sollte bei Hof erst eingeführt werden, aber vielleicht unterblieb es, der Ruin drohte wieder einmal, infolge Kavaliersschulden des Vaters, wie er die Seinen glauben ließ. Die wirklichen Gründe des Niederganges waren weiter her und verziehen nicht. Die Idee, den Kaiser zu bitten, kam sogar von der älteren Schwester, sie hoffte auf die Freundin des greisen Herrn, die auch zustimmte. Wie einfach, im Haus der ehemaligen Schauspielerin hätten die beiden Mädchen hinter dem Vorhang gewartet, bis der Herr von ihnen erfuhr. Nur Geduld, er wird unterrichtet.

Die Sechzehnjährige verdarb das Konzept, sie wartete nicht. Sie ertrug nicht die eigene Heimlichkeit, zwei Schritte von ihm, der ihr mehr war als ein höchster Herr. In der Erregung über die wirkliche Nähe der einzigen Figur vergaß sie eigene Tatsachen, den Posten als Botschafter, den ihr Vater verlieren konnte, den Hofball, bei dem sie vielleicht fehlen sollte. Ihr Kopf und ihre Mitte wirbelten von Seligkeit über die Figur, den späten Enkel Maria Theresias, den letzten Herrscher, der noch Karl V. ablöst; aber mit ihm werden alle gehen, die Vergangenen sterben erst mit ihm. Was das Kind hinter dem Vorhang überwältigte, war schon damals eine bildhafte Kenntnis der Vergänglichkeit, die schwindeln macht. Marie-Lou hat zu spät zugegriffen, Lydia ist hinüber, sie stürzt auf ihre Knie. Aus. Das Bild bricht ab, wenn nicht die Szene.

Die Träumerin, aufgescheucht von ihrer eigenen Heftigkeit, keuchte, bis sie wach war. Der Rest war ein aufbewahrtes Wort. Der Kaiser, weder gnädig noch verstimmt, hatte auf sie hinab gesprochen. »Romantisch«, war das aufbewahrte Wort. Die Schwester sagte nachher andere, die dasselbe meinten, nur abgewandelt ins Zornige. Damals zuerst hat Lydia von ihr erfahren, wieviel Anwartschaft sie besitze auf ein verfehltes Leben. Nicht, daß es sie beunruhigt hätte. Was kann man viel verfehlen? Kein Leben, das den Atem hat, genug Atem, um Erfolge wie Mißerfolge zu bestehen, genug Atem für die Handlung des Sterbens, die letzte, nicht mehr unerwünschte. Um sie muß nicht gekämpft werden. Hat dann vorher Kampf geherrscht? »Tout vient à temps pour qui sait attendre«, sagte Lydia, sie glaubte laut zu reden, für Marie-Lou.

Sie redete für niemand, wäre auch nicht zu hören gewesen; als sie es bemerkte, mußte sie manches tun, um wieder einmal das Ersticken abzuwenden. Den Atem ordnen, heißt hier, das erregte Sonnengeflecht abstellen – oh! nicht ganz, als ob sie tot wäre; eine Schlafende nachahmen ist Kunst genug. Sie erreichte wirklich den Zustand des Traumes ohne Schlaf, bis sie die Schwester – wohl nicht wiedersah wie vorher, aber sie ansprechen konnte, ohne daß der Vorhang störte. Zwischen den Schwestern, der schlafenden, der abwesenden, war ein Vorhang – war auch dagewesen, als diesseits die eine vor dem Kaiser kniete, indes drüben die andere sie haßte. »Marie-Lou, hasse mich nicht, weil ich lebte, oder weil ich sterbe. Ich weiß, du haßtest mich nur mit Selbstverleugnung, wir waren doch Schwestern.«

Der Zustimmung sicher, soweit man es sein kann, eine Zustimmung deckt nicht ohne Rest das Angebot, das ein Gefühl betrifft, entschuldigte sie die zweite, in der sie auch selbst war. »Uns trennte, daß ich nicht deinen Ehrgeiz hatte; deine Laufbahn war voll Kampf, in den Wechselfällen hieltest du dich oben, dir erschien ich lau. Dennoch verstand nur ich dich. Nur dein Urteil traf mich. Wir kränkten uns mit unserer Unabänderlichkeit, gleichwohl habe ich dich geliebt, Marie-Lou, am meisten, wenn wir verfeindet waren. Du weißt es. Weißt du es nicht? Nimm mein Wort für was es jetzt noch wert ist. Sogleich werde ich vergangen sein, du allein bist meine Nachwelt, bei der ich fortlebe. Höre, ich hatte so viel Demut wie Stolz. Als du vor der Welt unermeßlich über mir standest, habe ich von dir nur eines angenommen, deine Schuhe.«

Dies gesagt zu haben, es in sich hinein der Schwester gestanden zu haben, beruhigte das kleine blasse Gesicht; der endgültige Friede, die Verklärung, Süßigkeit, der Dank, gelebt zu haben, alles stand darauf, wie vorgetäuscht vom Tod, seiner Neigung zu glätten. Er schenkt aber seiner Freundin nichts, sie soll noch öfter in Not ihren Atem ordnen. Im Haus unter ihr, am Weg zu ihr, sind Geräusche, die sie ihrem schönen, lieblichen Zustand des vorgetäuschten Todes entreißen werden. Aber beinahe wäre sie hier wirklich eingeschlafen, mit dem Wort von den Schuhen. »Ich wußte, das Geld kam von dir, Schuhe waren das einzige, wofür ich dein Geld annahm. Ich zog sie an wie deine getragenen. Ich trug deine Schuhe, Marie-Lou.«


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