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Monolog um drei

Lydia erwachte nochmals. Etwas klang nach, sie erinnerte sich des feinen Tones einer Stutzuhr, ihrer drei Schläge, die sie, wieder eingeschlafen, gehört hatte. Sie sah im Zimmer umher. Ah! auf dem Kamin, neben ihr. Das erste war eine weiße Büste, der leidenschaftlich bewegte Kopf einer Tänzerin, mit Haaren, im Begriff sich aufzulösen, mit Augen, die vergehen. »Thais«, war eingeritzt. Drüben die Uhr zeigte nicht genau drei, sie war ihrem Klingen um Minuten voraus. »Aber gerade erst, daß ich es hörte?« Nein, sie bemerkte, es müsse gewesen sein, als sie das erste Mal erwachte. »Das wäre nur Minuten her? Inzwischen träumte ich, was doch? Es war lang, ausführlich, mir ist, alte Bekannte sah ich, hatte sie nur ganz vergessen.«

Sie war halb aufgerichtet: »Ich weiß wieder. Il Marchese del Grillo«, und ließ sich zurück auf das Kissen sinken. »Er muß mir damals, ohne daß ich es merkte, tiefergegangen sein als manche alten Figuren, die sonst vor mir gespielt haben. Er kehrt wieder – warum heute? Andere, neuere lägen näher, schrecklich nahe sogar. Estelle. Ihr Mann, der mich, aus Angst um sie, beinahe geliebt hätte – und ich ihn, beinahe. Das alte Theaterstück rührt wohl an Ähnlichkeiten, daher mein Traum.«

Die Augen nach der Decke gerichtet, hing sie Klängen und Anklängen nach. Der große Herr treibt mit der Bettlerin diesmal keinen Scherz; grausamer als das, er nimmt sie ernst. Stellt sich an, als glaubte er ihren verwirrten Ansprüchen, zahlt ihr Geld aus. Trüge sie lieber gleich fort, wie der Marchese den armen Teufel, und warum nicht. Ihr Zustand ist Erschöpfung, auch sie wird unterwegs nicht aufwachen. Angenommen, er hätte sie wirklich fortgetragen, kommt sie zu sich, als es zu spät ist, in seinem reichen Haus, voll gemalter panneaux und durchsichtiger Türen: eine lange Flucht von Salons. Ungleich dem Kohlenträger war alles dies und mehr als dies ihr einst vertraut – um so schlimmer.

Das Gefährlichste: nicht Frédéric wird sie lieben, sondern Estelle. Sie ist vorbereitet auf Estelle, als auf das letzte Gesicht beseelter Schönheit. Unsichtbar wäre Estelle vor Reinheit und Feinheit, so wie dem Rüpel das Sehen verging. Er wundert sich, daß sie auch unflätig, beinahe seinesgleichen ist. Was ihn entrückte, waren seine Sinne. Sie allein konnten, als der Spaß vorbei war, an sich zweifeln. Er hat das nie erlebt, er wird sich trösten lassen. Lydia, von wem? Nach Estelle – nach Frédéric – käme für sie nichts. Der Tod mit seinem néant wäre vorzuziehen. Undenkbar ist, Estelle – und Fredéric – zu kennen, nachher aber nochmals allein zu bleiben. Estelle wird ihre Freundin sein, bis die Szene wechselt, da sie immer wechselt. Estelle, die glücklichste der Frauen, Frédéric weiß sie verurteilt, er fürchtet das Unglück, das er selbst über sie bringen soll. Das ist seine ganze Liebe für Lydia.

Bevor sie es denken konnte, hatte Lydia ihr Bett verlassen. »Ich aber, ich soll ihr ankündigen, es sei genug des Glückes, die Szene wechsele. Ich kann nicht, man verlangt von mir mehr als noch menschlich. Ich! enthüllen, das Unglück, das ich kenne, einer künftigen Armen, Kranken, Einsamen – die mir zuerst nicht glauben wird. Nur ich, mir wird endlich aufgehen, wie das Leben war. Ertrage seinen Anblick, wer es kann! Vor ihm habe ich mich, die vielen Jahre, in verstörte Einbildungen gerettet, und erhielt meinen Stolz mit Schweigen. Bis in diese Stunde ist unbekannt, was aus mir hervorbrechen wird, finge ich erst an zu reden! Ich will, um meiner Selbstachtung willen, allein bleiben. Daß ich Estelle nicht sehe!«

Sie mußte ihren Atem ordnen, obwohl sie den anstrengenden Monolog nicht sprach, nur dachte. Der Zorn war es, der sie ungeschickt zu atmen machte. »Die unerwartetste Demütigung, aber auch sie noch wird mir zugemutet! Oh! fort, nur fort von hier« – wobei sie ihre Handtasche suchte, mehr hatte sie nicht. Nun gut, der goldene Sack lag sichtbar da – vielmehr, sichtbar nur ihr, die ihn kannte. Er steckte in einer Falte ihres aufmerksam zusammengelegten Kleides. Es war glatt, wie soeben gebügelt. Es bedeckte, mit ihrem großen Hut, den Polstersessel neben dem Tisch; aber von dem langen Rock war ein Stück absichtlich über den Tisch gezogen, damit es den Beutel schütze.

Sie hatte dies nicht getan, von allen den Verrichtungen keine. Bei ihrer Ankunft war sie schwerlich ihrer fähig gewesen. Aus dem Dunkel der Erschöpfung tauchten Einzelheiten erst jetzt. Der Tisch war gedeckt gewesen! War abgeräumt worden, ohne daß sie darum geläutet hätte: sie sah es schon nicht mehr. Sie hatte gegessen, war auf dem Sessel, demselben, den jetzt ihr geordneter Anzug bedeckte, alsbald eingeschlafen. Jemand mußte sie entkleidet und zu Bett gebracht haben – ah! das Gesicht kehrte wieder, halb verlöscht, wie es ihr erschienen war, als sie, schon auf dem Kopfkissen, ein einziges Mal die Augen öffnete.

Ein mütterliches Gesicht, entsann sie sich, ein besorgtes, das im Alter noch den Kampf kennt; das eine Abgekämpfte versteht. »Mais c'est elle, cette inconnue qui me bordait dans mon lit et qu'à demi réveillée j'entendais dire d'une voix si triste: Dors, mon enfant!« Schlafe Kind! Keine andere war ihre Anrede gewesen. Die erste Gealterte wird von der anderen Ermüdeten noch einmal Kind genannt. Macht der Ruin denn ergeben, wie sonst das Hinsterben? Sanft könnte er machen? Die Besitzerin dieses schönen Hotels wird es verlassen müssen, außer, ihr hülfe ein Frédéric. »Es wird vergeblich sein, nachgerade gelingt nichts mehr, hilf dir selbst, Frédéric.«

Sogleich bereute sie ihr Wort und berichtigte sich. »Gütig sind sie, alle beide. Er – bemüht für eine kummervolle Wirtin, die immer gearbeitet hat, jetzt aber fehlen ihr die Großfürsten. Sie – in ihrer Bedrängnis findet dennoch den Mut der Freundlichkeit, umrandet eigenhändig mein Bett, sagt Kind zu mir und murmelt: Schlafe! Wohl hielt sie mich für bewußtlos und glaubte sich allein. Der Blick, den ich, nur halb erwacht, aufschlug, war verschwommen, er wird dann weißlich, man könnte meinen, er breche. Sie aber riet mir zu leben, da sie annahm, ich hörte nicht. Güte, die nicht bemerkt werden will, wurde mir gespendet. Aber ich?«

Entspannt, recht schlaff saß sie am Tisch, den Kopf in der Hand. Hier fuhr sie auf. »Hartnäckig versenke ich mich in meine Vereinsamung, la première fois qu'on veut bien m'en sortir. Ich bin schon unzugänglich, quelle honte!« sprach sie hörbar, wenn jemand gelauscht hätte; erschrak und brach ab. Die Uhr hatte ein einziges Mal angeschlagen. Sie sah hin: halb vier. »Um drei sollte ich dort sein. Ich habe versprochen. Eine halbe Stunde versäume ich mutwillig – nicht durch Zufall sah ich den Marchese del Grillo wieder. Er und die arme Hotelbesitzerin mußten mich an Estelle erinnern. Zu ihr werde ich, um es nur einzugestehen, ohne Vergnügen gehen. In Wahrheit verlasse ich ungern mein unabänderliches Bereich. Die Vereinsamung macht gerührt, und macht herzlos, man hüte sich.«

Die Badezimmer waren zu ihrer Zeit weniger vollständig gewesen. Natürlich, sie hatte das Hotel gekannt, kannte auch die Wirtin, Madame Riquois, in ihrer einstigen Größe. Die Großfürsten: mit ihnen tanzte man hier. Sie richtete sich her, sie hatte beschlossen, für Frédéric ihre Pflicht zu tun. »Kein Grund, wenigstens keiner, der sich bekennen läßt, seiner Estelle aus dem Wege zu gehen. Wie es zwischen uns gekommen ist, versteht er nicht mehr, daß ich schwanke. Es ist seine Sache, Frédéric verantwortet meinen Schritt. Frédéric weiß über mich Bescheid wie ich über ihn, wahrscheinlich besser. Er behält, vor seiner letzten Abrechnung mit sich selbst, wenn es dabei bleibt, daß er freiwillig fällt – schrecklich zu sagen, am Rande des Selbstmordes behält er seine geschäftliche Klarheit, und wäre sie wahnwitzig. Kein Mann außer ihm würde zart und pünktlich wie er unterschieden haben, wer ich bin nach Herkunft, Art und was von mir zu erwarten.«

Sie rieb Arme und Brust ab, die Flasche Eau de Cologne stand da. Beim Hasten in die Kleider versuchte sie sich für ihre Rolle zu begeistern. »Mein Auftrag ist Krankenpflege. Estelle kennt viele Drohungen, nur nicht die ärgste: mich. Plötzlich geschlagen, heruntergerissen aus ihrer Höhe, kann es sie das Leben kosten. Man erstickt – nicht nur am Blutsturz?« Es sollte keine Frage sein; ihre gedachten Worte erhoben den Ton von selbst, sie mußten nicht fragen wie das tue, ein Blutsturz. Es war der Augenblick, als sie auf sich vergaß; nahm aber das Beispiel, das sie anging. Ohne Übergang stellte sie fest: »Die beiden haben einander verzärtelt, verzogen. Da ist der Comte X: Kein amant de coeur, kein Rotsamtener wie die poule in dem Stück einen hat. Aber Frédéric gewährt ihn der Seinen. Nachteile eines wohlgeordneten Glückes: wer weiß davon.«

Um den Hut aufzusetzen, stand sie wieder vor dem Spiegel und vor Thais, die von Leidenschaft bewegt wird, deren Augen vergehen. »Noch eher hätte ich diese verstanden – oder ermaß an Frauen ihrer Art meine eigene Unzulänglichkeit. Ich war nicht wie Thais, auch wie Estelle nicht. Hielt ich mich einst für groß? Ich war sehr klein. Wenn ich es endlich begreife, muß es spät sein.« Hier schlug die Uhr vier. Der helle Klang schmerzte sie, so nah an ihrem Ohr. »Oh! mais c'est un tintement désespéré. Cette pendule ne me croirait-elle pas quand je parle d'aller voir Estelle?«

Gewiß, sie machte noch Anstrengungen. »Frédéric hat mir Ehrenhaftigkeit zugetraut, er, zu dem ich um Geld kam, bis ich erkannte, daß nichts zu fordern war. Viel mehr noch, er sah einen Ausbruch meiner Krankheit, aber es geschah nachher, daß er mir offen seine Liebe erklärte. Eine andere als für Estelle. Liebe denn ich ihn wie Fernand – der schon längst eine Figur meiner Einbildung war? Den ich seit heute nie mehr erwarten werde? Oh!« Sie hatte laut gestöhnt; wer draußen vorüberging, wäre aufmerksam geworden. Um es vergessen zu machen, warf sie ihren goldenen Beutel auf dem Tisch umher; er sprang auf, Geldscheine quollen heraus, sie setzte sich, um ihn zu schließen.

Nein, sie saß da und starrte in den umgebenden Raum. Bequem, dies Zimmer. Wohltemperiert, auch den Augen angenehm. »Ich muß es verlassen und darf nicht wiederkommen, es sei denn, ich hätte versprochenermaßen vor Estelle mein Dasein entrollt, vor Estelle mein gewohntes manège aufgebaut. C'est comme au Jardin Albert Premier: die Marktleute dürfen bleiben, wenn sie hinstellen, was den Kindern gefällt. Die Leute sind weit gereist. Dunkerque heißt das Boot, das mit den Kindern im Kreis läuft. Der Löwe, rot und wild wie im Bilderbuch, das Pferd, das wiehern möchte, auch der muntere Delphin, jedes dreht sich mit dem Kind darauf. So soll, für Estelle, die erwachsen ist, mein armer Betrieb umgetrieben werden wie lebend und begleitet vom Leierkasten.«

Ihre Schicksale erzählen: deutlich sah sie, daß es verfehlt wäre. »Estelle wird fragen: Wen schickt er mir? Die Frau hat kindisch gelebt? Höflich befremdet wird Estelle sein. Unmöglich erkennt sie in der Umgetriebenen, die ein abgenutztes Karussell dreht, ihr eigenes künftiges Bild. Ich selbst sehe mich noch jetzt nicht in der Beleuchtung; wir bleiben als die wir anfingen. Estelle wird traurig werden, vielleicht weint sie an meiner Brust, weil ich ihr das Leben schlechtmache. Mich jedenfalls mache ich lächerlich.« Hier ein ausgelassenes Lachen, Lydia überraschte sich darauf. »Quelle désinvolture! Mais c'est heureux, il faut en profiter.« Hin, und auch Estelle zum Lachen bringen!

Wirklich verließ sie den Stuhl und bewegte die Füße, nur kehrten sie vor der Tür wieder um. Dabei lachte sie und schüttelte den Kopf. »Kein tiefer Schmerz, die Freude laut. Immer dieselbe, semper eadem, sagt mein Dichter, Baudelaire. Das unsinnige Gelächter meiner großen Zeit, über unanständige Hunde kaum anders als über den Komiker, der sich umbrachte gleich nach meinem Lachkrampf. Econduit, la risée du monde, hielt er meinen Beifall für Hohn und unerträglich.

Ce bonhomme avait raison, nachher habe ich es an mir selbst bewiesen. Jahre und Jahre, wie viele sag ich nicht, imaginäre Überweisungen auf der Bank abholen, beleidigt abziehen als die komische Figur, kostümiert wie 1914, die ich glücklich aus mir gemacht hatte. Es war meine Verteidigung. Hab ich gelitten, in meinen Behausungen, die den Regen einließen? Im Grunde mache ich mich lustig, über die Abenteuer einer Gräfin Traun. Tout est de s'entendre, ma chère Kobalt. Que j'aime ce nom bouffon!«

Auf einmal bekam sie die Haltung des Horchens – auf ein Geräusch hinter der Tür vielleicht, aber aufmerksam war sie eher auf die Bewegungen in ihr selbst. Wenn nicht alles täuscht, verschiebt sich ihre Identität. »Kobalt und die andere sind zwei, eine Traun hat keine Abenteuer. Nur Kobalt. C'est elle, Kobalt, qui se fourre dans toutes ces histoires. Eigentlich hab ich sie satt. Ich will Ruhe haben, aber die Bekannten Kobalts sind stürmisch; Feind oder Freund stellen Ansprüche, sei es der synarque Laplace, den man besser nicht gekannt hätte, oder wer? Oder Frédéric. Ihn mußte ich kennen.«

Sie wiederholte: »Ihn mußte ich kennen, um eines Stück Lebens willen: er rettet es. Aber er strengt an.« Hier zählt sie, was der Geliebte einer Stunde sie kostet. Es ist viel, es wird immer mehr, bis auf ihren Blutverlust, bis auf Léon Jammes. »Wahr ist, dies alles kommt in unserem Roman vor, auch der vollgestopfte Beutel, sogar der Comte X: anders kein Roman. Dagegen gibt es wohltuende Gestalten, die ich weder verabscheuen noch lieben muß, und sie sind hier, fanden in dieses Zimmer, das ich bis jetzt nicht verlassen habe, weil ich sie wiedersehen will. Als ich einschlief, war es Yvonne.« Des Ereignisses entsann sie sich das erste Mal; vor Überraschung blieb sie stehen, auf einem erregten Gang durch das Zimmer. Rührung, Ruhe traten ein. Sie suchte, aber ohne Qual, was um die Zeit ihres Einschlafens vorgefallen war zwischen ihr und Yvonne Vogt; was sie für die alle Gefährtin gesprochen haben mochte; was diese für sie tat.

»Eine gute Handlung beging sie in meinem Traum. Ah! sie gab mir Brot, es war nicht ihre Gewohnheit, da sie mich fürchtet. Sie fürchtet das schlimme Beispiel ihrer einstigen Freundin Kobalt, sie denkt nicht gern an den unbesonnenen Abschnitt ihrer eigenen Existenz. Diesmal hat sie daran gedacht. Nicht der verlorenen Kobalt, der Frau, die ich gewesen, gedachte sie, als sie für mich tat, ich weiß nicht was. Tag des Abschiedes, die Personen kehren wieder. Marquis Frédéric del Grillo war hier, mit seiner Estelle, der ich nicht helfen kann, ich kenne sie erst jetzt, aus dem Theater Metastasio.«

Die Gedanken liefen, liefen bis sie schmerzten. »Oh! mein Kopf. War es denn Yvonne? Ich verwechsele zwei gute Frauen; l'une me donnait du pain, quand l'autre me bordait dans mon lit. Parfaitement, tout arrive, j'ai dormi sous le toit d'une femme de cœur.« Die Frau muß hier sein. Sie wagt nicht einzutreten, aber sie war hinter der Tür, als ein Geräusch entstand, vielleicht ein schüchternes Klopfen. »Madame Riquois!«

Der Name, den Frédéric ausgesprochen hatte, ist wieder da: auch die Frau. Lydia reißt die Tür auf.


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