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Er hatte ihre wichtigen Geschäfte erwähnt. Welche? Indessen war er eingeschlafen. Der Winkel, in den er vor ihr entwichen, erlaubte ihm nur scheinbar zu schlafen, wenn er überdies beachtet werden wollte. Erstaunlich, er bekam, sogar im halbechten Schlaf, ein Gesicht, das sie kannte. Um es nicht länger zu sehen, fragte sie laut: »Sie meinten den Spielgewinn in Ihren beiden Mappen?« Er erwachte mühelos, antwortete sogleich, lehnte ab, mit deutlichen Zeichen verletzter Würde. »Vous ne voudrez pas que je m'occupe des intérêts d'une simple joueuse.« Tatsächlich habe sie den Tag ihren Transaktionen mit einer angesehenen Bank gewidmet. Sie sei im Besitz eines Kapitals gewesen, als sie, der bloßen Unterhaltung wegen, auf dem Tableau der Roulette einige Sätze machte. »Wenn man es Sätze nennen will. Sie wußten gar nicht, Madame, daß Sie auf Rouge Geld stehen hatten und daß ein Vermögen anwuchs, während Sie draußen Milch tranken.«
»Auch richtig«, sagte sie endlich, hatte aber weniger seine Worte überlegt als ihn selbst. Er betonte: »Meine Auffassung ist die richtige, in Anbetracht der großen Gelegenheiten, die nächstens dem Kapital begegnen sollen.«
»Welche?« fragte sie dazwischen, obwohl sie es wußte, nur, um ihn auch hierüber zu hören. Er erklärte ihr, ernste Zeiten, ein Krieg, wenn das Wort fallen solle, verlangten vom Kapital noch mehr Verantwortung als es sonst schon trage. »Die erstaunlichen, einfach bewundernswerten Profite, die dem pflichtbewußten Kapital erlaubt, sogar geboten sind, das bloße Glück im Spiel bietet für sie keine Garantie. Den Vorbedingungen des Anstands und respect humain entspricht es nicht, qu'on se mêle de sauver le pays pour avoir gagné sur rouge.«
Sie sah plötzlich, mit einigem Erschrecken, wie es um ihn stehe. »Il est piqué, le pauvre.« Ohne daran zu denken, deutete sie auch die Bewegung an; aber unter dem Hutrand war es nicht sicher, daß sie den Zeigefinger gegen die Schläfe richtete; vielleicht strich sie eine Locke fort. Er hatte nichts beachtet oder schwieg davon. Vielmehr sprach er wichtig: »Die neue Wendung Ihrer Karriere ergibt ohne weiteres, Madame, daß Sie sich meine Erfahrungen zunutz machen. Meine teuer bezahlten Erfahrungen«, schloß er, eine Lage tiefer und viel eindrucksvoller. Teuer bezahlt waren sie wohl wirklich.
Dennoch hörte sie ihn eine Rolle sprechen. »Sie sind Schauspieler« – sie fragte nicht, sie stellte fest. Er, den Mund schief, schnappte nach Luft. »Wie? Komödiant nennen Sie mich, in eben dem Augenblick, da ich Ihnen einen Blick in mein Geschick öffne.«
»Unverlangt«, warf sie ein. Der Ton war klar, ungerührt, während sie doch begriff, es sogar anschaute wie vorher nie, welch ein elender Mensch er war. Ein armes Bündel geretteter Reste, sie fühlte es durchaus; wer hätte den Sinn dafür gehabt wie sie. Nur durfte er keine Vertraulichkeit suchen, darauf folgte die Zurechtweisung von selbst. »Unverlangt«, wiederholte er traurig. »Warum auch bin ich, bei meiner tiefen Eingeweihtheit in den Erfolg, kein Laplace de Revers geworden.« Er versank in seinem Winkel, er schien gebrochen. Nur hatte er das Unglück, daß auch dies nach Komödie aussah. Der andere, der ihr bei dem neuen Begleiter zu oft einfiel, hatte die gleiche Neigung gehabt.
»Keine Neigung, eher eine physische Eigenschaft, die übertriebene Fähigkeit des Ausdrucks. In der Jugend erscheint sie liebenswürdig; sogar dieser wäre es, wenn ein Gescheiterter noch gefallen könnte. Sie geben nie auf, so wäre auch der erste. Hier der zweite weiß übrigens, daß es einen Vorgänger gibt. Ich habe es ihn erraten lassen; er ist bemüht, das unbekannte Beispiel dennoch zu treffen – träfe es wirklich. Wenn ich ihm erlaubt hätte, seine Geschichte zu erzählen, vermutlich wäre herausgekommen, daß er einstmals mit dem Geld einer Frau auf und davon gegangen ist.«
Unter dem Schatten, der den Zurückgewichenen deckte, war sein Gesicht bleich, und etwas blinkte. »Una furtiva lacrima.« Donizetti, stellte sie fest und wollte die Träne, mit dem übrigen, für gespielt halten – was nicht verhinderte, daß sie nunmehr Mitleid herankommen fühlte, ein ebenso ergreifendes wie unbequemes.
»Und er hat nochmals die Augen geschlossen oder verstellt sich, eigens damit ich nicht wegsehe, sondern die Träne bemerke. Was fange ich mit dem Menschen an? Ihn absetzen; aber er wird schwören, daß er sich von den beiden Mappen nicht trennt; und ist imstand, mir als Warnung einen alten Ungetreuen vorzuhalten. Dem Ungetreuen von einst war mein Geld lieber als ich. Er selbst – verläßt mich nie mehr. Wahrhaftig, wohin mit ihm?« Ihre eigene Frage zeigte ihr, beunruhigend genug, daß Zusammenhänge bestanden: Verantwortungen, wenn es schlimm kam.
Diese Angst: eingefangen von ihrer Vergangenheit! Ob auch nur zum Schein! »Oh! rien qu'un simulacre. Cet homme est mon passé en travesti, qui prétend me rattraper, le jour même où enfin j'avais réussi à le semer. Endlich glaube ich ihn unterwegs gelassen zu haben, schon ist er wieder da, meine Vergangenheit in Verkleidung.« Hier ließ sie sich gehen, gab für den Augenblick alle Vorbehalte dahin und unterstellte, daß sie an diesen Menschen – dessen sie sich schämte, der sie erbarmte, ihre Jahre verschwendet habe bis gestern, bis in ihre vorige Fiebernacht.
Ein Blick, um nachzuprüfen: aber ja, er hat sich neu geschminkt! Es wäre ungeheuerlich, ist aber knabenhaft. Das Einschlafen, das Schminken, solange sie abwesend ist, und als sie hinsieht die Träne, alles bezeugt einen unheimlich erstarrten Übermut, derselbe seit zwanzig Jahren, während der Mensch vom Glück ins Unglück wechselte, unjung wurde, sogar seine Identität nur vergleichsweise erkennen läßt. »Wie lange soll ich schwanken zwischen einer ersten und einer zweiten Erscheinung, die vielleicht dieselbe sind, es bleibt mir überlassen.«
Sie wiederholte für sich: »Wir könnten anders sein. Ach! nichts muß damit gewonnen sein, an Leben, an Zufriedenheit. Hier, die Erscheinungen eins und zwei, gesetzt sie wären dieselbe, was trennt sie? Der Verfall. Um mir nichts zu verschweigen: seiner und meiner. Dieser wäre nicht derselbe, ohne daß auch ich dieselbe bin. Diesen werd ich nicht los, und wenn er es gar nicht wäre. Absetzen – kann ich ihn weder auf der Landstraße, noch am Hafen, wo man bald vorbeikommt. Ist dann das Ziel erreicht, aber ich habe keines, weiß nicht wohin – der kennt das seine nicht besser als ich meines, und wird doch hinkommen wie ich. Das heißt, welche Krankheit hat er – um so bald am Ziel zu sein wie ich?«
Wirklich fragte sie ihn. Die Fahrt, so wenig gesprochen worden war, schien ihr das Recht zu geben. »Welche Krankheit haben Sie?« Er fuhr auf. »Krank? Ich?« Dermaßen erschrocken war er noch nie, im Verlauf dieses unvorgesehenen Tages. »Il ne manquerait plus que cela«, rief er in Lauten, die sie weder jetzt noch früher gehört hatte. Es zeigte sich, daß sie an seine wahre Sorge rührte. »Moi qui me soigne comme une étoile de cinéma un peu mûre. Dire que cela n'en vaut pas la peine et que je n'ai que faire de la santé. Jamais elle ne me rendra ma fougue d'il y a vingt ans!« Was hilft Gesundheit, wenn sie nicht zwanzig Jahre jünger macht.
Während er seinem einstigen Feuer nachklagte in gehobenen Lauten, wurden seine Gebärden wieder einmal übertrieben ausdrucksvoll. Nicht gerade, daß hier seine letzte Jugend in Flammen aufging. Die Furcht vor dem Ende steigert gleichfalls die Natur. Das Gesicht des Menschen bestand inzwischen aus Grimassen. Hager wie es, das Kinn beiseite, noch war, erging es sich in starken, aber flüchtigen Verzerrungen – das gemeine Fleisch scheint überwunden. Einst hätte der betroffene Zuschauer, »besonders eine Frau wie ich«, den Leibhaftigen erblickt. So sah auch der erste aus, war aber ein gequälter Mensch. Er gestand es selbst.
»Ich wäre in allen Stücken richtig, wenn nicht eine alte Schuld mich durch Länder und Zeiten verfolgt hätte. Seit meiner schönsten Jugend bin ich ein Besessener. Sinnlos, als ob ein anderer es täte, kämpfe ich für eine Frau, die durch mich arm wurde. Lang her, sie muß tot sein oder hätte mich vergessen. Ich allein arbeite mich ab, je me démène, je poursuis des idées de plus en plus folles, même dangereuses – damit ich ihr das Geliehene erstatten kann.«
Er brach kurz ab, hielt sogar den Atem an, und erwartete die Wirkung – die ausblieb. Hätte er einfach seine Jugendsünde verraten, die Frau, die er ruiniert hatte, die wahrscheinlich tot war: alles ging noch. Sein Anspruch, als unterläge er um sie, die tot war, Gefahren – welchen denn? Ah! die Geschichte mit der Entführung. Wenn er einem Kidnapping auswich, fürchtete er, es werde, wie schon geschehen, mit einem Mord enden. Aber Léon Jammes überschätzte ihn in jedem Fall.
Dieser Mensch, in seinem Drang stark aufzutragen, wurde falsch. Sie selbst, auf diesem Ausflug voll ungewollter Vertraulichkeiten, hatte ihm, sie fortzusetzen, das Recht gegeben. Er benutzte es und log. Sie kannte, wenn nicht dieses Exemplar, dann seinesgleichen. Die betrügen nicht am liebsten Fremde. Vor ihren Intimsten wollen sie die Wahrheit voraushaben. Sie begehren innig, daß man sie ernst nimmt.
So nahm sie ihn denn ernst. »Sie sind ständig in Gefahr, getötet zu werden – und selbst zu töten. Arbeiter, von Ihnen zu einem politischen Mord aufgefordert, sehen keinen Grund zu schweigen. Sie selbst verheimlichen Ihre ganz persönlichen Gefühle, Sie müßten sich sonst zu Ihrer Vergangenheit bekennen, wollen aber anonym bleiben. Der Zufall arrangiert dennoch Begegnungen, die ein Wiederbeginn sind. Die Frau, die Sie meinen, Ihr Opfer von einst, vermöge einer Anleihe, wie Sie es nennen, sie wäre Ihnen nie in den Weg getreten?«
»Nur ihr Bruder« – er sprach es dumpf, eine abgerungene Erinnerung. Sie dagegen sachlich: »Der Bruder forderte Sie altmodisch zum Zweikampf, oder drohte er mit Anzeige? Spielte dies vielleicht in Amerika? Übergab er Sie seinen befreundeten Gangstern?«
»Es war in Amerika.« Sein Ton und Blick deuteten auf eine Welt von Mitwisserschaft. »Ich war Reporter, hieß Jonathan Swift und befand mich im Gerichtssaal, als er von einer Erbin geschieden wurde.« Hiermit war er bis an die Grenze gegangen, wenn er keine Gewißheit geben, nur Zweifel erregen wollte. Plötzlich wurde er unbefangen. »Sie wissen, daß drüben jeder kontinentale Edelmann wenigstens einmal eine Erbin erobert und verliert.« – »Man hört davon. Da Sie drüben Swift hießen, nennen Sie hier sich Rabelais.« – »Tiens, c'est une idée.« Er schnippte mit den Fingern. »Il y a de quoi garantir mon existence un an de plus.«
Dies und nicht mehr hatte sie erreicht mit ihren halb entblößten Erinnerungen, mit der Warnung, die ihr Auftrag war. Zugegeben hatte er nichts, erwiesen war nur, daß er sich fürchtete, übrig blieb die unverhüllte Frage, warum er seinen Beruf – und welchen? – gerade hier treibe. »Ich reise für eine Versicherungsgesellschaft«, warf er hin, mit Verachtung für seine Aussage. Sie ließ es gelten. »Sie haben da einen gefährlichen Beruf. Au Casino, on a admiré votre œil au beurre noir.« – »Ich wußte, man werde Ihnen davon erzählen. Daher half ich nach, das Auge ist geschminkt, es täuscht einen Faustschlag vor.« – Sie sah: »Piqué, le malheureux.«
So leicht sie konnte, sprach sie: »Weniger bedroht von Stößen wären Sie, zum Beispiel, als politischer Agent, unter der Bedingung, daß Sie nur für die eine Seite arbeiten.« – »Das gelingt mir nun einmal nicht«, erklärte er, sein erstes Wort, das naiv klang. – »Sie haben mir geholfen, das Geld fortzutragen« – hierbei betrachtete sie nachdrücklich seine Hände, die beide Mappen umspannen wollten. Waren dafür weder langfingrig noch breit genug; aber Félicité am Spieltisch bot auch nicht mehr Leidenschaft auf, um die Nägel in ihren Beutel zu krallen.
»À vous voir, on dirait pour le moins mon secrétaire. Mieux que cela, mon homme d'affaires.« Seinen gehetzten, ungläubigen Augenaufschlag erwiderte sie sanft: »Du moment que cela servirait à prolonger votre vie.«
»Sans blague.« Er hielt die Zähne geschlossen. Er glaubte sich verhöhnt und drückte den Beleidigten aus. Er sagte, immer ohne den Mund zu öffnen: »Sie rächen sich, ich weiß nicht, wofür. Sie haben allerdings, um mir zu entgehen, diesen Ausflug gemacht und kehren reich zurück.« – »Dank Ihnen. Dafür will ich Sie belohnen. Sie sind der Mann, der es verstehen wird, mit meinem Geld seine Geschäfte zu machen.«
»Sie kennen mich – seit heute, und dafür gut genug. Sie wissen auch, ob meine Feinde mich treffen werden? Es kann sogleich sein, hier im Wagen kann es geschehen.« Er blieb dabei, sie zu ängstigen. »Die nächste Stunde, sehen Sie, ist immer noch interessanter als der Kampf und die Reue von vielen Jahren. Es wäre beruhigend, überhaupt keine Zukunft zu haben. Plus d'avenir à craindre«, sprach er, diesmal ohne Grimassen, hart und klar, in das Gesicht einer Sterbenden – die wohl erschrak, aber nicht genug für ihn. Sein Ausdruck ging in Enttäuschung über, während sie redete, wie von anderen Leuten.
»Sie haben recht. Verurteilt sein von der Natur, überhebt der leiblichen Sorgen, oder beinahe. Ganz im Grunde bezweifelt man, daß man stirbt, an sich selbst stirbt. Jeder hielte es für natürlicher, gewaltsam beseitigt zu werden. Sie, Monsieur Rabelais, haben keinerlei Krankheit; das ist ein Unglück, insofern Ihnen Zeit genug bleibt, ein Attentat zu befürchten. Warum gerade Sie? Der alte Mönch, dessen Name hier mitspielt, hatte den Scheiterhaufen vor Augen, mal weniger, mal mehr, jedenfalls lange. Nehmen wir dagegen Monsieur Léon Jammes: er kann auf einen tödlichen Zwischenfall, der in die Zeitung käme, schwer rechnen. Er kennt die gesetzte Frist, er ist leberkrank.«
»Warum dieser Polizist? Was meinen Sie?« – »Daß Sie ihn kennen«, erklärte sie sofort. »Man kennt ihn; um so mehr ein Agitator im Dienst des Feindes, mit dem wir seit heute im Krieg sind.« – Er erbleichte, geschminkt wie er war. »Wer sind Sie?« fragte er drohend. »Und Sie?« fragte sie, vielmehr befriedigt. »Meine Zweifel fallen weg, ich habe Sie vorher nie gesehen.« – »Ich, noch weniger Sie.« Dies wieder zwischen den Zähnen, und die Auseinandersetzung geschah Schlag auf Schlag.
»Vos histoires de voleurs! Faites vous assassiner, mais restez l'épave anonyme que vous êtes.« Er blieb hinter ihrer Aufforderung, ein namenloses Wrack zu bleiben, nicht zurück. Sie sollte nur weiter die angestoßene Abenteurerin spielen. Wahrhaftig sprach er: »Je vous prie de poursuivre votre rôle d'aventurière loufoque. Es wird Sie jetzt ins Gefängnis bringen. Vous passerez la guerre en prison.«
»Tout comme l'homme de main synarchiste.«
»Permettez-moi de rire«, sagte er tödlich ernst, mit Zügen furchtbarer Überanstrengung, indessen sie schwer danach rang, ihren Atem zu ordnen. Beide sahen hinaus, jeder auf seiner Seite. Sie dachte: »Was war das? Aber einmal mußte es kommen.«
Er dachte dasselbe und daß es hieran genug sei. Auf seiner Seite beschrieben die Lichter der Baie des Anges ihren schon nahen Bogen. Zwischen seinen Knien rutschten die beiden Mappen herunter. »Am Hafen laß ich halten und gehe meiner Wege.« Er versicherte sich, daß der Chauffeur hinter einer Glaswand das beendete Gespräch kaum begriffen haben könne. Was ihm nicht auffiel: zur gleichen Zeit wußte er unfehlbar, daß er eigene Wege nie mehr gehen, nie mehr die Frau verlassen werde.
Wo sie hinaus- und hinaufsah, stieg ein Waldweg an; sie meinte die Kühlung auf ihrer Wange zu fühlen. Wie gut sie ihn kannte, den Wald von Monboron, voll süßer Düfte, an stillen Verstecken reich, melodisch vom Schluchzen der lieben Vögel. »Damals war es die Laune einer großen Frau, daß ich eines Nachts allein in dem Gehölz verschwand. Scheinwerfer der Kreuzer überraschten den Wald noch nicht. Das Mondlicht behütete ihn. Am frühen Morgen in der Wirtschaft traf ich die verlassenen Begleiter, die mich gesucht hatten. Ich träfe niemand, mich würde niemand suchen, wenn es diesmal Morgen wird oder je wieder.«
Schon hob sie die Hand, hätte wirklich an die Scheibe geklopft. Sie bemerkte aber die beiden Mappen, die ihr einziger Begleiter hatte fallen lassen; darüber versäumte sie, was schon beschlossen war. Auch er hatte beschlossen, sich von dem Geld – und von ihr – zu trennen. Aber er sollte weder den Vortritt noch recht haben! »Was ist viel geschehen? Ein kurzer Ausbruch von Haß, wenn man will; eher, von Empörung gegen ein unaufrichtiges Verhältnis. Nicht einmal das: es ist der einfache Überdruß an einer aufgedrängten Gesellschaft – zuerst nur mir aufgedrängt. Zugegeben, daß ich das Meine tat, ihn festzuhalten, er war ein Gefährte geworden. Was wie Haß ausbrach, war die Bewegung, uns loszureißen. Wir machten sie beide; jetzt ist sie vorüber.«
Die Lichter der Bucht waren mit ihr zurückgetreten hinter die hohen alten Häuser des Hafens. Das sind die Speditionsgeschäfte, die scheinbar von allen Mysterien der Stadt nichts wissen. Sie verladen Frachten. Das Schiff dort vorn, das sich vom Tau bald losmachen soll, nimmt Säcke ein bis zuletzt. Man könnte zusehen, dem Hin und Her der Hafenarbeiter und Seeleute, am besten war es unter den Bogengängen hier seitwärts, wo noch andere sich bei Getränken verspäten. Weiche Luft, etwas dumpfig, wenn man aus dem Freien kommt. Diese aber kommen nicht weither, haben heute keinen ungewöhnlichen Schritt getan. Die kleinen Geschäftsleute der nächsten Straßen kennen kaum die übernächsten.
Die beiden Reisenden regten sich nicht; jeder hätte bemerkt, daß dem anderen zumut war wie ihm. Jetzt geschah wirklich das Klopfen an die Scheibe; aber es war der Chauffeur. Sein Klopfen bat um die Erlaubnis, das Fenster zu öffnen und nach Befehlen zu fragen. Wohin er fahren dürfe? Sie antwortete bestimmt, als wüßte sie es seit der Abfahrt: »Avenue de la Victoire, Banque Commerciale. Sie halten um die Ecke.«
Ihrem Begleiter, nach dem sie den Kopf nicht wendete, gab sie die nötige Erklärung. »Wohin mit den beiden Mappen. Um sie aufzubewahren, bleibt mir zu dieser Stunde allein der Direktor, Monsieur …« Sie suchte den Namen, mußte endlich schließen: »Frédéric.« – »Conard«, ergänzte er. »So spät wollen Sie bei seiner Frau eindringen? Er hat eine Frau, Sie scheinen es nicht zu wissen, obwohl Sie ihr begegnet sind.«
»Nein«, sagte sie. Denn was folgen sollte, wünschte sie nicht zu hören. Er wollte sie glauben machen, daß heute morgen Estelle die Mitschuldige des Comte X gewesen sei. Sie verschloß sich dagegen. Nichts von Entführung, nichts von Gift. Estelle für einen Gedanken halten. Was alles man plötzlich bemerkt, errät, wenn nötig auch erfindet! Die Kraft, diesen Tag zu bestehen, hatte ein Gedanke ihr verliehen: die versprochene, unerfüllte, immer gegenwärtige Pflicht an Estelle. »Ich wäre, sobald ich einträte, das Schicksal einer Person, die während meines Tages ein zärtlich versäumter Schatten geblieben ist. Ein Schatten sie, und ich ein Schicksal, wir sind es elf Uhr abends, wie wir es elf Uhr früh waren. Nicht daran rühren.«
Was es auch gewesen sein mag, vielleicht die Haltung ihrer Schulter verbot dem Begleiter, jetzt und hier von Estelle mehr zu enthüllen. »Übrigens weiß ich mehr. Nicht daran rühren«, dachte sie. »Frédéric lebt in Täuschungen, um meinetwillen beschließt er zu leben, sterben wollte er für sie. Wir sind beide trügerisch, und lieben ihn beide.«
Der Wagen stand. An ihm war es, sie aussteigen zu lassen. Entgegen seiner früheren Beflissenheit zeigte er wenig Eile. Da ihr Wink es befahl, hob er die beiden Mappen vom Boden, versuchte indessen, sie ihr in den Arm zu legen. Sie weigerte sich. »Ich kann das weder tragen noch damit eintreten«, bestimmte sie. »Übrigens kommen Sie mit. Ich will sehen, welchen Eindruck Sie droben machen.«
»Auf wen?« fragte er. »Leider mache ich nicht jederzeit den besten Eindruck. Le Comte X wird droben sein.« Der Ton verlangte, daß sie ihn ansehe; da fand sie ein Gesicht von herausforderndem Zynismus. Dergleichen Gesichter hat er geschnitten, einst, als die leichtsinnige Unschuld, die er war. »Schrecklich, wenn er derselbe wäre.« Einer ahmt sich selbst nach, ohne die Überlegenheit seiner Jugend, gebrochen und arm. »Das nicht, er ist es nicht.« – »Schweigen Sie«, befahl sie ungeduldig; und dem Chauffeur: »Öffnen Sie.«
»À vos ordres, Madame«, sagten beide, der Diener schon mit der Hand am Wagenschlag. Ein Mann, der im Näherkommen mit einer Zeitung winkt, wird gleich zur Stelle sein. Er ist angelangt und schiebt den Diener seiner Herrschaft beiseite. Dieser läßt sich verdrängen. Wer kennt nicht Léon Jammes.