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Das Glück selbst

Stocken der Rede, beiderseits. Erwartung. Er, zurückgelehnt, in einer Haltung, die nach Wiederaufnahme nicht aussah. Sie konnte sich entlassen fühlen, blieb aber sitzen. Sie hatte nötig, ihre gestörte Atmung zu ordnen; übrigens verlangte es sie danach, zu handeln wie er wünschte. Er wünschte, daß sie bleibe. Noch stand bevor, was ihn anging, ihm ernstlich ans Herz ging. Sie könnte ihn zwanzig Jahre kennen; so deutlich ist es ihr.

Er – überlegte wohl, wie er es ihr zu sagen habe, nur daß nebenher und mitten darin sein anderer Gedanke vordrang. Der faßte sie zusammen, alles, was er von ihrer Vielfalt nunmehr selbst erfahren hatte. Sie war nicht einfach entsetzt vom Leben, ihrem beendeten Leben, das für einen Tag aufsteht und nochmals abläuft. Sondern sie wehrte sich, haßte, liebte, brachte tragische Opfer – aus Stolz, der bei ihr gleichkommt einem sittlichen Zartsinn. »Wann gab es das? Es kommt nicht wieder.« Sie erging sich im Leichtsinn bis zum Zynismus; ihn fordert sie heraus, sich hat sie aufgegeben. Sie stirbt und hat Kraft – »mehr als Estelle«, dachte er inständig, ihm war sogar, er habe laut gesprochen.

Hierauf vermutete er, wenn nicht Estelle davorstände, könnte er die Fremde lieben. Zugegeben war es nicht. Erregte Stunde, Gefahr und Verwirrung, da ist sie eingetreten, als die Heldin der Handlung. Estelle scheint verdrängt – »obwohl es um unsere Zukunft geht. Aber das kann nicht sein«, behauptete Frédéric, während er doch deutlich begann, sich als einen anderen zu fühlen. Dahin, was er gewesen, und kommt nicht wieder.

Von ihr, kein Zeichen, wenn nicht dennoch das Veilchenblau der Augen sich belebt hatte. Er nahm es für die ersehnte Aufforderung, plötzlich fragte er: »Wer sind Sie?« Keine Überraschung, nur dieser schnelle Blick. Vorerst zerdrückte sie die Zigarette, dann: »Man nennt mich Kobalt. Ich bin von Geburt eine Gräfin Traun.«

Er nickte, denn was war anders zu erwarten. »Sie sind verarmt, aber haben mächtige Verwandte. Man möchte Sie zurückholen, und Sie weigern sich. Man hält Sie knapp, Sie arbeiten lieber, als daß Sie nachgäben. Diesmal ist eine beträchtliche Überweisung eingegangen. Jemand muß Ihre verschärfte Lage dorthin berichtet haben. Man antwortet mit der Überweisung.«

»Aus Brüssel? Die Princesse de Vigne?« – »Ihre Schwester«, bestätigte er, im Ton des genau Unterrichteten. »Das Geld liegt hier bei mir, ich werde es Ihnen auszahlen.« Warum sagte sie nicht nein? Warum fürchtete er ihr Nein? Weil er es fürchtete, schwieg sie. »Das alles ist Fiktion«, dachte sie heimlich, so voll Glück, daß die Augen ihr veilchenblaues Licht verbreiteten über das kleine blasse Gesicht. »Was davon wahr ist, er hat es dennoch erfunden. Er errät es aus Liebe.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Frédéric, Sie sind gut und sprechen wahr. Jetzt lassen wir, was nicht zu ändern, und beschäftigen uns mit meiner Aufgabe. Dafür brauche ich weder Schwester noch Geld.«

»Doch«, sagte er. »Eins wie das andere, ich weiß nicht, welches mehr. Denken Sie an Estelle, ihre Leichtgläubigkeit, Neugier, ihren kindlichen Snobismus.« – »Ein Wort zuviel.« Sie verriet nicht, welches, ob Snobismus oder kindlich. Ihm lag nicht daran, es zu wissen. Sie fühlte: »Mir gilt, mehr als seiner Estelle, was er sogleich verlangen wird.« Er verlangte aber, wie sie es voraussah: »Sie müssen sie wiedersehen. Sie müssen in ihrer Nähe bleiben.«

Und in seiner. Sie atmete leicht und stark. Ein heiteres Lachen, bevor sie sprach. »Gut. Vergessen wir, daß sie den Auftrag hat, mich zu töten. Sie ist zu klug, es zu tun – hat auch ein einfältiges Herz«, setzte sie um seinetwillen hinzu. »Sie nehmen meinen Vorschlag an«, bestimmte er. »Ist es so sicher?« – sie widersprach nicht, sie bedauerte vielmehr ihre Zweifel und seine, die er so bald nicht zugab. »Sie wird den Comte X entlassen«, bestimmte er. »Dies ist der Tag der Entlassungen.«

»Soweit in Ordnung«, sagte sie. »Aber kann ich meinen Verfolger entlassen? Sie haben vergessen, der ältliche junge Mann, der mich zu kennen vorgibt, von dem ich nichts weiß oder zu viel weiß.« – »Ich habe nicht vergessen«, sagte er, gereizt und traurig, obwohl er nur meinte, über den unbedeutenden Punkt hinwegzugehen. Sie begriff aber: »In diesem Ton beseitigt er nicht die Gestalt, die ihn selbst verfolgt, wie mich. Die Sache ist: der Agent mit der Vergangenheit muß nicht erst morden. Genug, daß er ein Mann ist; der Mann, der dir, Frédéric, im Wege steht, der Rival, den du fürchtest, von mir befürchtest.«

Sie dachte es glückstrahlend. Ihr fiel nicht ein: »Ich werde versprechen, Estelle zu retten, werde sie aber vernichten. Früher als er selbst wird sie erkennen, daß er mich liebt.« Die Frage blieb aus: »Was wird aus ihr?« Darum auch die andere: »Und aus ihm? Aus mir?« Sie hatte vergessen, daß sie ohne Zukunft war. Man ist davon durchdrungen – in den stillen Stunden; aber diese war keine. Sie war mit Gefahr und Verlangen dermaßen geladen, sie war, wie sie nun war, eine Jugend wert. Hat ihre Jugend die Stunde versäumt? Holt Lydia nach?

»Mein Gott«, dachte sie. »Ich liebe ihn. Ich liebe ihn über meine Natur hinaus«; sie war dennoch nicht für immer darauf beschränkt, einen Fernand zu lieben. Fernand, dessen letzte Kundgebung … Sie beendete nicht. »Und dieser, mit seiner ersten.« Der Schluß ihrer Gedanken: »Sein Geld muß ich nehmen, weil es für Estelle ist, und weil ich ihm gehorchen will.« Worauf sie allem, was er noch sagte, zustimmte.

Er machte ihr klar, das Geld sei nicht gleichgültig, um Estelle zu gewinnen – »eine Frau, die einer anderen kein mißlungenes Kleid nachsieht.« Hinzugefügt hätte er, dies aber zärtlich: »Um so weniger Ihre Maskerade, Lydia.« Er ließ es fort. Sie sagte folgsam: »Ich hoffe, sie hat meine Schuhe beachtet.« – »Sie werden mit einem Koffer voll teurer Anschaffungen einziehen«, sprach er nur noch flüchtig. Das Wichtigste folgte.

»Vor allem muß sie erraten können, woher das Geld kommt.« – »Aus Brüssel, wollen Sie sagen? Estelle weiß es so gut wie wir. Sie kennt meine Familie von jeher.« – »Wie wichtig, daß sie Ihre Familie kennt«, sagte er mit einem Ausdruck, unbewußt glich er ihrem; beide lächelten glücklich. Sie fand ihn veränderlich und naiv. Weder das eine noch das andere hätte er, nach seinem Beruf und seinen Jahren, sein dürfen. Er wurde es allein vermöge der Liebe, seiner nicht vertrauenswürdigen Liebe. Von der schon verlassenen Estelle war sie unterwegs zu Lydia – die sie empfing. Jung, rücksichtslos wie eine noch Unerfahrene empfing und gab sie: gleichviel, ob eine andere Frau dies überlebte, gleichviel ob sie selbst. Für sie folgt kein nächster Tag, die Ewigkeit hat eine Stunde.

Gehorsam fragte sie: »Wie fange ich es an?« – »Was?« Da sah sie, daß er, diese Minute wenigstens, alle Zusammenhänge verloren hatte. Estelle bewahren mit Hilfe Lydias? Er sieht nur Lydia, sie will er behalten. Natürlich besinnt er sich. Was jetzt folgte, hielt sie für einen nachträglichen Vorwand. »Sie müssen die Ärmste darauf vorbereiten, daß ich fallen werde.«

Er hatte es gesprochen. Sie hörte es klingen, von den wenigen Worten verriet jedes die Fraglichkeit des Mannes. Er war der letzte, der die Geopferte bedauern durfte. Gerade ihr war verboten, Estelle vorzubereiten auf seinen Tod – den er in Wahrheit nicht mehr wollte – »seit er mich liebt«, sprach sie für sich, unhörbar, aber mochte er sie belauschen. Geständnisse wogen nichts mehr, seit alle nur ein Ziel hatten. Beide bewiesen einander ihre Liebe, da sie gemeinsam verrieten, da sie logen auf Verabredung.

»Eine verwöhnte Frau. Liebe, Wohlstand, Sicherheit, alles auf einmal verlieren.« Sie nahm das Bild in die Hand, sie wollte prüfen, wie jetzt das Glück und die Unschuld aussähen, nachdem die Unschuld entlarvt, das Ende des Glückes beschlossen war. Das Gesicht, in das sie wieder blickte, erwies sich unfähig, sie zu überraschen, es war weit entfernt, sie zu rühren. Sie begann eine Anrede, im Alt, verführerische Klänge. »Chérie, c'est la débâcle, il n'y a pas à dire. Inutile de vous désespérer pour l'irréparable. Welche Frau soll heute keinen geliebten Mann verlieren, wird ihn morgen nicht verloren haben?«

Über den Rahmen spähte sie nach Frédéric, ob er sie richtig finde. Kein Zeichen, daß er den Worten folgte; er hatte sich bezaubern lassen von der Stimme. Sie sprach: »Die ökonomischen Wechselfälle, meine liebe Freundin, kennen Sie – bei anderen; auch meine Familie hat Sie mit einem Beispiel versehen. Denken Sie nur an den silbernen Topf, den Pfau, der heute abbrach. Wie, wenn ich Ihnen von meinen eigenen Varianten erzählte?«

Ihre Augen fragten den Mann, indessen sie das Bild noch hielt, aber es senkte. Diesmal hatte er verstanden, er nickte. Die beiden Blicke verließen einander nicht mehr. »Mein Leben ist in Widersprüche geteilt, noch mehr in wechselnde Personen.« Sie wollte ihn überreden, daß sie nicht schlecht sei, obwohl sie Estelle verriet, nicht gut, obwohl sie ihn liebte; daß sie mit Fernand nur sich selbst betrogen habe, der Erwartete sei niemals der Rechte gewesen, in aller Wirrsal ihrer Irrtümer erwartete sie von jeher nur Frédéric. Was aber schwierig zu erklären ist, man fühlt die Wahrheiten, ohne selbst daran zu glauben. Sie verzichtete, sie sprach: »Ich war schwach.«

»Schwach?« wiederholte er, mit einer – oh! kaum sichtbaren Bewegung nach der Tür, wo sie eingetreten war; aber sie verstand ihn. Er erinnerte sich: »Wie lange her, hat sie auf der Schwelle gestanden, verkannt und gering; die verdächtigen Umstände machten aus ihr eine Feindin. Ich mußte sie einlassen, weil mir befohlen war, den Gefahren zu öffnen. Welch ein Vorgang! Ich habe sie gleich erkannt, sie hat mich erschreckt, entzückt, empört und angezogen. Ich weiß nicht, ob ich sie liebe, will nichts wissen, um so schlimmer. Mit ihr, an ihr, habe ich in dieser Stunde, dieser bitteren, triumphierenden, schon zuviel erlebt. Am besten, Estelle, wir sähen uns nicht wieder.«

Es war so gut, als hörte sie ihn gestehen. Er fürchtete, sich hörbar auszuliefern, aber er schwelgte stumm in der Lust seiner Hingabe – die ein Verrat war, sein erster, und ihn den Anstand seiner Existenz kostete. »Mein eigener Anstand«, so sah sie, »war billiger zu verlieren, ich wußte mich vornehm genug, um mir einen Fernand zu erlauben, mitsamt den Folgen.« – »Von meinen Verwandten schlug ich Geld aus«, sagte sie plötzlich; aber waren Verwandte überhaupt im Spiel? »Wer bin ich?« sprach sie, damit ein Wort von ihr echt und ohne Zweifel sei.

Wer aber war der Mann? Gleichgültig, zuletzt, für ihn und sie, da sie aufeinander schwerlich verzichten. Dennoch, hier betrachtet sie ihn, aufmerksam, tief ernst. Einen Bildrahmen, der sie störte, hat sie fortgelegt, das Bild nach unten. Sie überzeugt sich, daß der groß gewachsene, wohlgestaltete Mann von Grund auf treu und ehrlich wäre. »Aber er hat Phantasie. Was ich aus ihm machen werde, sein Gesicht zeigt es noch unbewußt, aber schon mit Reue. Fürchte dich nicht, mich zu lieben; es wird kurz dauern, niemand büßt dafür, weder Frédéric noch Lydia.« Einen dritten Namen unterdrückte sie.

In derselben Minute erfolgte ein neuer Anfall von Erstickung. Sie schien ihn mit Gleichgültigkeit zu erleiden, während sie mit all ihrer Kraft kämpfte um die nächste Minute. Er sah nicht wieder zu. Diesmal schnellte er vom Sitz, stürzte ihr entgegen, umarmte ihre gesenkten Schultern, stützte ihren Rücken, hielt mit seinen inständigen Händen dieses abnehmende Leben fest, damit es dauere, ihm bleibe, ihn mache wie sie ihn wollte, gewissenlos, verräterisch bis zum Verbrechen.

Vor allem lügt er, der Mann mit einem Rekord von lückenloser Ehrlichkeit. Er hat Tränen in den Augen – sie auch, aber vom Ersticken –; sogleich benutzt er seine Tränen unredlich. Er versichert ihr, daß er zittert für ihr Wohlergehen – im Interesse seiner armen Frau, der nur sie allein helfen kann. »Sie dürfen uns nicht verlassen, begleiten Sie mich zu ihr, Sie erhalten die Pflege, die Sie brauchen, ihr aber machen Sie Mut für die Wahrheit, der sie noch ausweicht.«

»Sie kann nicht einmal ahnen, was ihr droht.« Sie selbst wußte nicht, woher sie ihre Stimme nahm. Soeben noch stieg etwas Schweres, Dunkles in ihr auf, das Ende, wie sie meinte, da sie nichts mehr sah: über das Gesicht ihres Geliebten fielen Schatten. Ihn sehen, nur dafür zwang sie die Natur, erhielt sich bei Bewußtsein, holte aus der Umarmung des Nichts ihre Sinne zurück. Er muß durchaus mit ihr erlebt haben, seine Arme pressen sie nunmehr fest genug, daß sie aufhört, vom Sitz zu gleiten, sie wird nicht mehr zu Boden fallen. Sie ist für kein empfangenes Glück jemals so dankbar gewesen.

Er flüstert an ihrem Ohr, was ihr bestimmt war seit ihrem Eintritt, dem ersten Laut ihrer Stimme. Sie muß nicht deutlich verstehen, wenn seine Lippen zittern. Es ist, in einigen armen schwachen Worten, die Erklärung einer Liebe, die solange ihr Geständnis gemacht hat in brutalen Tatsachen, auf Tod und Leben. Sie ist erfüllt nunmehr. Lydia lächelt und vergeht. Das Glück steht nicht bevor, es verspricht nicht: dies ist schon das Glück, mehr wäre unfaßbar, wäre vergebens. Darum dürfen ihr wirklich die Sinne vergehen, sie wehrt sich nicht, ihr wäre wohl, dahinzuschwinden für lange, für wie lange. Sie lächelt selig.

»Sie erwachen. Oh! kommen Sie«, hörte sie ihn sagen. »Zwei Minuten, und Ihr kleines blasses Gesicht ist erblüht. Sie sind glücklich.« – »Wie Sie«, war ihre Antwort und kam so leicht wie seine nächste. »Glücklich zu sein trotz allem!« Worauf sie klar und schön zu vernehmen war: »Wir sind es, seitdem wir zusammen leiden, fürchten und Unrecht tun. Uns blieb nichts übrig als …« Die Stimme gesenkt: »Ein wenig Glück.« Er fiel ein: »Eine Menge. Mehr. Das ganze.« In seine Augen, seinen Mund sprach sie, nahe, aber tonlos: »Dies ist das Glück selbst. Seltsam, das Glück.«


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