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»Rouge gagne«, hörte sie sagen, noch bevor sie wieder da war. Dichtes Gedränge, man sah nichts. »Encore Rouge« – eine zweite, unsichtbare Person, diese schnob erregt. Ungewöhnliches ging vor. Auf Rot lag ein unermeßlicher Haufen Geld. Jemand hatte, wer weiß seit wann, seinen Einsatz stehengelassen. »À quoi bon s'obstiner, je me mettrai du parti de la banque« – dieser dritte sprach dumpf. »Trop tard«, sagte mit einem filet de voix die Greisin Félicité. Sie hatte richtig gehandelt – lange nicht blondiert wie sie war, ein schwarzer runder Rücken, das friedliche Gesicht über ihrem schmutzigen Rechenbuch, die roten Nägel fest eingegraben in das schadhafte Leder ihrer schwarzen Tasche, hatte sie wie immer recht behalten.
Sie bereute nicht, daß sie unterlassen hatte, Schwarz zu spielen, solange Rot kam. »Dreiundzwanzigmal«, antwortete sie auf die Frage einer Vorübergehenden, deren Stimme sie sehr wohl erkannte – aus alten Zeiten, aber die ließ sie dahingestellt. Sie schwieg auch über die Wiedergeburt einer ancienne grande dame, die plötzlich Glück hat. Beschlossene Tatsachen mit Worten nicht anzutasten, hielt sie für eine Bedingung des Wohlseins.
»Dreiundzwanzigmal«, wiederholte die bekannte Stimme der Vorübergehenden, die aber Fuß zu fassen versuchte im Gedränge. »Faites place à Madame«, sagte Félicité über ihre Schulter; eine merkwürdige Autorität äußerte dies dünne, klare Rinnsal von Tönen, man machte Platz. »Pas possible«, antwortete jemand zerstreut einem anderen. Dieser, auch nicht weiter ergriffen, bestätigte: »Mais oui. Tout ça lui revient.« – »Elle a l'air de ne pas s'en douter.« Die Dame, die gemeint war, empfing einen neugierigen Blick. Weder ihn noch die Worte bezog sie auf sich.
Sie selbst blieb noch über Félicité geneigt. Ganz leise fragte sie: »Wer macht ein Vermögen auf Rot? Hoffentlich Sie, Madame?« Worauf die Alte vor Überraschung ihr lockeres Gebiß öffnete, aber der Vorsicht wegen schloß sie es wieder. In ihr Rechenbuch hinein murmelte sie: »Ich spiele nicht auf reinen Zufall hin. Rot kommt in Wirklichkeit nicht dreiundzwanzigmal.«
Zuerst hörte es sich widersinnig an, bis man bedachte, daß jeder Mensch vor sich selbst, genau wie Félicité, gegen die Tatsachen recht behält. Geirrt haben die Tatsachen. Félicité bereut nichts, weder daß sie auf Schwarz nicht verloren, noch daß sie versäumt hat, unrechte Gewinne mit Rot zu machen. So behält sie Sicherheit und gutes Gewissen.
Ihre zufällige Gefährtin ist um so unruhiger. Sie sieht umher, nach ihrem zudringlichen Reisebegleiter, dem sie verboten hat, ihrem Spiel zu folgen. Nach ihrem Abgang kann er es fortgesetzt haben. »Serait-ce lui le gagnant? Mais où est-il?« Noch hat er Zeit, seinen Reichtum einzuheimsen. Seit ihrem Wiederauftreten – hat sie es übereilt? Nein, sondern die Entscheidungen sind nun einmal unmeßbar kurz – genug, geschehen ist inzwischen nur, daß die Schaufel des Croupier das Tableau von Einsätzen reinigt.
Sie tut es gründlich. Die gewinnende Ziffer ist unbesetzt. Rot trägt eine einzelne Marke, deutlich abgesondert von dem Haufen, der den Rand überflutet. Eine Hand wirft zu der einzelnen Marke eine zweite – immer deutlich abgesondert. Dann verdoppelt sie mit sicherem Schwung das unberechenbare Vermögen: ein Anblick, den alle genießen. Gefühle, die aufwärts bis zur Ekstase gehen, abwärts, wer weiß wohin, schwingen mit, sie begleiten jeden Wurf der geübten Hand; denn beileibe daß es mit dem ersten getan wäre. Wieviel?
Wieviel wirft sie auf den ohnedies ungemessenen Gewinn? Dasselbe nochmals, wie jeder weiß, aber die Phantasie versteht es anders. Rund um den Tisch die Spieler auf ihren Stühlen oder zwischenhineingedrängt, erleben in einem dreiundzwanzigmal verdoppelten Einsatz, den sie nicht mehr zählen können, das Glück selbst. Fühlten sie darum Neid oder Bewunderung, es bleibt das Glück, frei von Drohung, Wechsel, Strafe: die himmlische Endlosigkeit des Glückes, gerade den Verhärteten läßt sie, flüchtig doch, träumen.
Waren hier nur Verhärtete, und diesen Augenblick träumen sie? Um den sehr langen, besonders breiten Tisch brütete tiefes Schweigen, ob selig oder finster. »À qui, tout ça?« war das einzige Geflüster. Merkwürdig, nicht nur daß fast niemand wußte, wer es war, der dreiundzwanzigmal standhielt und gewann. Sondern die allenfalls Unterrichteten hielten damit zurück, weil das Glück nicht rätselhaft genug sein kann. Die Abwesenheit seines Besitzers vermehrte den Haufen Spielmarken auf Rot um eine höhere Bedeutung. Diesen Augenblick war er mehr als sein Geldwert. Solange die Hand des Croupier immer noch hinzuwarf, machten die Spieler, ein seltenes Vorkommnis, Bekanntschaft mit dem Glück selbst. Niemand hat es; beobachtet wird es mit sich allein.
Jeder auf seine Art. Nicht jeder träumt besonnen. Besorgt wird, daß die Träume eines unerfahrenen Verlierers, der besser nicht hier wäre, unter Umständen abweichen werden, mit dem Erfolg einer sichtbaren Zerrüttung. Das kommt vor, wenn einer seine Gefühle nie freigibt, sie daher nicht kennt. Hier nun war der Tourist mit den vorher geopferten zehntausend Francs. Seit er sie allerdings verloren hatte, glaubte er fest, sie seien unentbehrlich für seinen Laden zu Hause – übrigens ein ungewisses Zuhause. Sein Paß ist unendlich weit her. Jedenfalls, nur an der verspielten Summe lag es nicht, auch nicht an der Menge des Geldes auf Rot, für deren Gewinner der Zerrüttete sich plötzlich gehalten haben muß. Wie bessere Spieler eine fragwürdige Minute lang das Glück mit Augen sahen, so dieser Unselige den Ruin – und die Rettung. Dagegen vermag man nichts. Er war wachsbleich; auf seiner Schulter die Gattin, hochrot.
Sie keuchte: »So nimm es dir!« Dahinsteht, was sie meinte. Als sie ansetzte, um ihre kurzen Worte zu sprechen, hat sie mit einer Wahrscheinlichkeit, die der Gewißheit nahekommt, an die einzelne, soeben verdoppelte Marke gedacht, diese hatte ihr Mann gesetzt. Zweiundzwanzigmal mußte Rot gewinnen, bis er es wagte, mit dem Glück zu gehen. Indessen, ihr »So nimm es dir« war kaum heraus, da brach ihr Keuchen ab, sie versteinte und war weiß. Die Gatten tauschten die Farbe aus, der Mann hatte purpurne Backen. Weder er noch sie haben je begriffen, was geschah.
Er warf sich, entmenscht konnte man den Anblick nennen, oder mindestens eignete er sich für eine Variéténummer, nicht für diese ernsten Hallen – mit ganzem Leibe warf er sich über den Tisch; seine kurzen Arme und gekrallten Hände hieben in den hohen Haufen, wie um ihn zu vernichten, obwohl er ihn sich aneignen wollte. Nicht doch, unter seinen zitternden Griffen zerfloß, was er nicht halten konnte, weil es zuviel war, mitsamt dem Geringen, das er hielt und fahrenließ in seiner Angst nach mehr.
Zuletzt benutzte er die leeren Hände für seine Selbsterhaltung: hinten war ihm die Stütze abhanden gekommen. Getrennt von seinem Stuhl, zappelte er mit den Beinen im Leeren. Kein Gedanke, seine Lage zu berichtigen: schon fühlte er zwei scharfe Schläge, auf jeder Hand einen, und schrie auf.
Monsieur Gaston hatte die Kante seiner Schaufel benutzt. Alsbald ließ er es genug sein. Korrekt bis zur Höflichkeit ermahnte er den ausgeschweiften Kunden, sich gutwillig zurückzuziehen. »Vous vous êtes mépris, Monsieur. Veuillez vous retirer.« Ihm war es gleich, ob der Tourist sich belehrt fand oder protestierte. Übrigens begann der Mann sein Recht anzurufen, aber das mußte er wohl, solange er, allerseits begutachtet, auf dem Tisch lag und nicht herunterkonnte.
»Ceci est à Madame«, sprach Monsieur Gaston und ordnete mit der Schaufel den zerflossenen Haufen. Trotz der Ungeheuerlichkeit des Falles handelte und sprach er beherrscht. Ja, die Worte hob er deutlicher hervor, trennte sie noch schärfer als sonst bei seinen geweihten Formeln. Sein Gesicht war geradeaus gerichtet, es suchte keine Spielerin, die er von Amts wegen weder kennt noch besonders bemerkt hat. Sie gewinnt, soviel weiß er.
Nun blieb es nicht aus, daß ihm widersprochen wurde – von Unberechtigten; wer kannte Madame gleich ihm. Man widersprach zum Schein oder aus Freude am Zwischenfall und Aufruhr. Dieser drohte ernstlich, als auch Gutgläubige sich auf die Seite des benachteiligten Paares schlugen. Den Croupier nannten sie einen drôle de bonhomme. »Madame qu'il dit, mais où est-elle? La Banque ne paie donc pas?« Unhaltbar dies alles, soll auch nur nach Sekunden zählen. Inzwischen hat der Croupier stumme Winke erteilt, wie ein versuchter Überfall sie erfordert.
Inzwischen hatte die Frau des Verzweifelten ihren Mann auf seine kurzen Beine gestellt. Er war stimmlos; sie selbst verteidigte seinen Anspruch, in einem Französisch nicht besser als der Anspruch. Was ihr fehlte, ersetzte sie mit Schelten, das zum Beispiel deutsch sein konnte; aber der Paß ist weit her. Hier drang bei den freiwillig Mitwirkenden die Ironie durch. »La voilà trouvée. C'est cette dame aryenne.« Genug, und schon zuviel. Monsieur Gaston befragte seine Armbanduhr. Zwei eingebüßte Minuten, zum Schaden der Bank.
»C'est à Madame la Comtesse que j'envoie l'argent«, sprach er fest. Seine unfehlbare Schaufel erfaßte den Haufen ohne Rest, um ihn fortzuschieben in der gedachten Richtung: er hatte niemals hingeblickt. Hiermit war zugegeben, daß er dennoch die Gewinnerin sah, aber noch mehr: er sah ihr an, daß sie geistig abwesend sei oder im Irrtum über den Vorgang. Er bemerkte, daß sie, ohne sein Eingreifen, ihren Gewinn stehenlassen werde, bis er verloren sei. Monsieur Gaston wünschte dies nicht.
Niemals, nicht einmal sich selbst, hätte er gestanden, daß er es eigenmächtig verhinderte. Immer würde er behauptet haben, sogar mit Recht, daß sie bei seinem ersten »Ceci est à Madame« den Mund öffnete; vielleicht verlor ihre Weisung sich in dem Geräusch des eingetretenen Zwischenfalles. Was er unbedingt wegläßt: ihre Lippen können sich aus bloßem Erstaunen bewegt haben. Nachher, als er verkündete, daß er ihr das Geld »schicke«, hatte sie überhaupt kein Zeichen gegeben. Übrigens erwartete er keines, sondern »schickte«.
Monsieur Gaston fühlte hier eine Genugtuung, unerklärlich ihm selbst. Irgend jemand wird gewinnen, warum Madame? Oder gefiel er sich in seiner Macht über die Spieler? Er müßte denn verjüngt sein. Nach zwanzigjähriger Laufbahn sind die Spieler ihm unermeßlich gleichgültig. Kein énergumène wie der Ausgelassene, der soeben auf dem Tisch zappelte, kann den Weisen belustigen, viel weniger erregen. Warum wohl sein nächtliches Ekarté? Es ist der Gipfel der Zwecklosigkeit, seine echteste Geste.
Dennoch hing er an dem Wunsch, Madame möge ihren Gewinn nehmen – es war viel, nur er wußte wieviel – und nicht wiederkommen. Seine so plötzlich empfangene Teilnahme und Ergebenheit für Madame kannte keine liebere Aussicht, als ihr nie mehr zu begegnen. Dies ohne Bitterkeit – nicht erst zu reden von den Geldscheinen, die sie ihm für seine Hilfe zugesteckt – wunderbar geschickt zugesteckt hatte. Er dankte für nichts, verlangte nichts, riet ihr sogar das Hiersein ab. Madame hatte einen besonders reinen Freund gefunden.
Dies war der genaue Augenblick, als Toren den Croupier mit den angeklebten Haaren, dem verlebten Gesicht für einen Zyniker ohnegleichen hielten. Wenn der Gewinner sich nicht meldete, dies gaben die Wissenden weiter, dann verfügte der undurchsichtige Mann der Schaufel über eine Person, die das herrenlose Geld entgegenzunehmen hatte; beteiligt war sie mit zwanzig Prozent, zufolge den genau Unterrichteten. Auch die Fassung war vertreten, daß tatsächlich dem arischen Touristen sein rechtmäßiges Eigentum mit einem Gewaltstreich entrissen und fortgeschaufelt worden sei. »Wie oft darf er sich das erlauben?«
Die Frage erstarb, denn die Hauspolizei war zugegen: der Zyniker hatte auch dafür gesorgt. Gerade machte die Frau des Touristen sich auf nach dem unteren Ende des Tisches, wo er furchtbar umdrängt und am nächsten dem Ausgang ist. Sie wollte, endlich ganz von ihrem Recht überzeugt, die Enteignerin ihres Besitzes tätlich angreifen, das stand auf ihrem Gesicht und ihrer erhobenen Faust. Sie kam so weit nicht.
Ein Herr im Gesellschaftsanzug, schon damit dem Durchschnitt überlegen, fing sie ab. Das Zurückweichen aller Unbeteiligten, soeben stark interessiert, jetzt unbeteiligt, tat das beste, die Frau des Touristen zu belehren. Sie erschlaffte, bekam feuchte Augen, verarmte sichtlich. »Elle a tort de se dégonfler«, fanden ihre Stützen, die keine mehr waren, sondern ihr die ertappte Schwindlerin ansahen: gerade die hätte nicht so schnell aufgeben dürfen.
Ihre Feindin, eine andere angenommen als die gemeinte, hätte triumphieren können. Die Glückliche wie sie war, hatte nicht erfaßt, daß feindliche Handlungen, sogar Gefühle, bei ihr vorausgesetzt wurden. Es hätte sie vollends überwältigt. Hilflos war sie schon gegen den zugeschaufelten Haufen – woher er sie heimsuche, was mit ihm anzufangen. Davor saß Félicité, hielt sich möglichst beiseite und zeigte ihre offenen, leeren Hände.
»Wie denn? Das ist doch nicht mein?« wollte die Glückliche wissen. »Ne faites pas l'enfant«, sprach Félicité über ihre Schulter. »Mais encore?« wurde hinter ihr nochmals gefragt. Félicité faltete und erhob die Hände; sie schwebten nunmehr über ihrem Rechenbuch, das mit unantastbarem Geld bedeckt war, wenn auch nur obenauf: für das Innere existierte kein solches Geld. »Ich möchte das da nicht haben«, schwur sie und flüchtete ihre Hände aufwärts bis an ihr Kinderhütchen.
»Warum ich?« wurde gefragt. »Das unwahrscheinliche Glück soll ich nehmen und nicht begreifen?« Antwort: »Rufen Sie einen Beamten und lassen Ihren Kram zur Wechselkasse tragen. Sie würden mich verpflichten, wenn es schnell sein könnte.« – »Ich hatte doch auf Rot nichts mehr stehen?« wurde nunmehr ohne Umschreibung, deutlich gefragt. Für eine Spielerin von bäuerlicher Abstammung, obwohl unregelmäßigem Wandel, war es Zeit, die Geduld zu verlieren. »Wenn Sie selbst es nicht wissen, wer dann? Die Polizei, die schon anwesend ist? Débrouillez-vous!«
Ein gründlicher Unsinn dies alles. Die alte Spielerin, die ihn verachtete, verwirrte ihn absichtlich noch mehr. Die einzige hier, die Herkunft eines dreiundzwanzigmal verdoppelten Einsatzes zu kennen, war Félicité. Sie verschwieg es aus Rache, aber ihre Rache war ohne Haß. Nicht an der Gewinnerin mit ihrer unvergessenen Stimme rächte sie sich – rächte überhaupt nicht sich, nur das Glück: das beglaubigte an dem falschen, an dem Zufall ihr Rechenbuch.
Ein Wunsch beherrschte Félicité: befreit werden von dem Geld, das, ohne ihre Person anzugehen, sie dennoch überwältigte, den Platz wegnahm, Handtasche und Buch unzugänglich machte, denn sie durfte das Geld nicht anrühren; das Geld aber zwang sie, ihre Pflichten zu vernachlässigen. Eine Verzweiflung, sonst nie an ihr wahrgenommen, brach aus. Ihr filet de voix wurde schrill, es konnte erschrecken, wenn auch schwerlich den Croupier, Monsieur Gaston, den sie anredete. »Qu'est-ce que je vous ai fait. Sie sehen doch, ich ertrinke in Ihrem schmutzigen Geld. Faites emporter tout ça, weg damit von meinem Platz, wenn niemand es haben will. Puisque personne n'en veut«, sagte sie zweimal.
»Rien ne va plus«, war die einzige Antwort. Monsieur Gaston sprach den geweihten Satz um eine Achtelminute zu früh; er hoffte das Gezeter der Greisin um alle Wirkung zu bringen, was ihm nicht durchaus gelang. Eine Anzahl Spieler vernachlässigte erst jetzt den Vorteil der Bank und ihren eigenen; anstatt zu setzen, hatten sie nur Augen für den wiederaufgelebten Fall dieses Geldes, das gewonnen auf unerklärtem Wege, vergeblich angefordert von einem Touristen, nunmehr des tatsächlichen Besitzers zu ermangeln schien: niemand bekannte sich zu dem Geld.
»Einfacher wäre gewesen, es dem Arier zu lassen«, wurde festgestellt, von einigen Zeugen des Verhörs, das nebenan im Café vorgenommen wurde. Der Chefdetektiv des Hauses erlebte eine Überraschung an dem Touristen und seiner Dame. Gleichviel wie sie angefangen haben mochte, bald verwandelte sich die strenge Befragung in eine harmlose, einfach weil der Fremde sich plötzlich naiv gab wie ein verspäteter Knabe. Seine Frau war nur noch fraulich, an die erhobene Faust hätte niemand geglaubt. Die Hauspolizei war schlechthin entwaffnet. Gäste wie diese werden weder photographiert noch ausgewiesen. Die Frage war nur, wer von beiden, der Detektiv im Gesellschaftsanzug oder sein neuer Freund, den anderen zum Aperitif einlädt.
Sollte das reisende Paar in seiner Unschuld – besonders die Gattin – sich eingebildet haben, sie könnten auf die herzliche Art zuletzt dennoch in den Besitz ihres falschen Gewinnes kommen, dies war eine Unterschätzung, nicht nur des einzelnen Angestellten, sondern der übrigen Menschenarten, ja, der Welt insgesamt. Soviel ist denkbar, daß irgend jemand aus dem Publikum laut eingetreten wäre für das Recht des sympathischen Paares. Erreicht wäre ein kurzes Aufsehen mit einbegriffenem Zeitverlust, mehr nicht; aber Monsieur Gaston fürchtete es. Er hatte genug von dem Zwischenfall, der ihm keine Ehre machte und sich abspielte vor den Augen der Hauspolizei.
Die Zusammenhänge sind nicht offenkundig. Jedenfalls wählte diesen Augenblick ein Unbekannter, der das Gedränge um Félicité durchbrochen hatte, und handelte. Mit einer Schaufel fegte er alles Geld in einen Korb. Dergleichen wäre sonst kaum von Belang. Gewiß, sie bedeuten viel Geld, die Haufen von Spielmarken; auseinandergefallen werden sie immer mehr, zeitweilig schätzt man sie auf zwei Millionen, schließlich auf vier, obwohl andere dagegen wetten. Aber hier läuft nun einmal das Geld der Phantasie um.
Das ist es nicht, weshalb anstatt Eifers diesmal Staunen eintritt. Spannend sind die Personen, die sich mit diesem Geld zu schaffen machen: der Herr, der fegt, die nicht alltägliche Dame, die ihm zusieht. Der Entschlossene ist nur er, mit Bewegungen von jugendlicher Spannkraft, auch hastig kann man sagen. Fürchtet er, unterbrochen zu werden? Das erscheint ausgeschlossen, hinter ihm, ein Diener der Bank bewacht die Tätigkeit des Herrn. Sie stände eher dem Diener zu, aber der Herr, übrigens doch schon älter, nimmt es mit dem Gelde der Dame genau, er schaufelt selbst.
Die Dame sieht zu. Ist sie einverstanden? Der Herr war vorher nie bei ihr erblickt. Wie, wenn sie gar nicht mit ihm verabredet wäre: so sieht sie aus, dermaßen unbeteiligt. Eine Person, die früher hätte auffallen müssen, nur ihre trefflich gespielte Zurückhaltung täuscht über sie. So viel echte Gleichgültigkeit ist schwer glaubhaft, angesichts eines Vermögens, das für sie in den Korb rollt. Ein alter Hut fällt ihr über das halbe Gesicht, sonst wäre leichter fertig zu werden mit dem Rätsel, das sie sein will.
»Man sollte Lärm schlagen«, wird wohl geflüstert. Aber die Bank hat entschieden. Auch der Krieg, von dem hier nicht gesprochen wird, gegen den der Platz geschützt scheint, der Krieg, da er in den Köpfen dennoch umgeht, tut das Seine hinzu. Was hier gespielt wird, reicht weiter, als man wohl meint: weshalb die Hauptfiguren des Komplotts einander nicht kennen wollen. »Der Croupier, selbst eingeweiht, kennt sie zu gut. À bon entendeur salut.«
Félicité, die aus ironischen Lidern zusieht, begreift ohne Worte, was mit den Menschen vorgeht. Gewöhnlich ist es Unsinn. Dem selbstsichersten Geschäftsmann sieht sie die Verwirrung an. Weltkundig allemal, unterläßt er es hier, sich zu beaufsichtigen; er murmelt Andeutungen, als bezöge das geschaufelte Geld sich auf die Weltpolitik. Eine alte Spielerin muß den Finger in die Schläfe bohren, um dem Kahlkopf zu zeigen, welch ein anfälliges Kind er ist.
Aber ihr eigenes, durch und durch gefälteltes Gesicht verliert auf einmal die Überlegenheit, ja, die Ordnung. Außer sich vor Entsetzen verkündet sie, daß ihr Rechenbuch fort ist. Die praktische Bäuerin hat keine Erklärung. Der Herr, der die Schaufel führt, muß zugeben, daß er es wahrscheinlich in den Korb gefegt habe. Er spricht erst infolge eines Winkes der Dame, die dabeisteht. Angenommen, sie sei in Gedanken verloren gewesen, findet sie doch alsbald das Richtige, hält in eigener Hand das ausgegrabene Rechenbuch, überreicht das unersetzliche Wertstück seiner Besitzerin – auf eine Art, wie nennt sie der Zuschauer? Meisterhaft.
Der Zuschauer kann nur sagen: das ist Takt, ein wunderbar ausgerichtetes Benehmen wie auf der Bühne. Sollten diese alle in Wirklichkeit Schauspieler sein? Niemand wird bemerken, daß hier eine unweise Frau mit stiller Geste der Weiseren sich unterordnet – zum Abschied, denn der Korb ist voll.
Das war das, jetzt zur Wechselkasse. Es geschieht unter Vorantritt des Dieners, der für jeden möglichen Fall sich des Korbes bemächtigt hat. Ein Versuch, ihn mit Gewalt zu rauben, wird schwerlich stattfinden; es ist Spielgeld, nur die eine Stelle gibt dafür wirkliches. Zugegen ist die Polizei; unter ihren Augen darf der baren Verwirklichung des Glückes beigewohnt werden. Eher wird gerade die Öffentlichkeit der Szene im Sinn der Bank sein. Sie verliert heute viel Geld, aber das Schauspiel wenigstens ist einträglich. Es wird wahrgenommen, bezeugt und weitergetragen. Es wird zehntausend Gespräche beleben, und wie viele Träume?
Technisch war es ein beträchtlicher Vorgang, als die Marken gezählt und ausgerechnet wurden, von dem gewandten Beamten, der als erster daran war, von dem besonders agilen, der nach ihm kam und die Aufgabe wiederholte. Der dritte übte selbst nicht aus, er kontrollierte. Die Strenge seines bleichen, schönen Gesichtes genügte, damit die Säulen aufgehäufter Marken geradestanden, die Ziffern auf dem Papier genau stimmten. Dies getan, erteilte er den endgültigen Wink.
Aus Hintergründen, die besser im Dunkeln blieben, fanden die Pakete geordneter Banknoten vollzählig den Weg bis unter seine Hände, und diese freuten sich, sie der Freundin des Institutes auszuhändigen. Allseits war deutlich, daß Geben froher als Nehmen macht. Vorher nur Autorität und Strenge, war der vorgesetzte Beamte beim Auszahlen ein geschmeichelter Menschenfreund. Man sah ihn unendlich schön werden, seine Bewegungen besagten: »So pflege ich euch, vertraut mir heute und immer!«
Sein wohllautender Glückwunsch, seine letzte Verbeugung, dann stand Kobalt da. Sie konnte nicht anders als Kobalt sagen, zu der Einsiedlerin, die von ihrem verlorenen Vermögen besessen gewesen, nicht anders als von einem Spiel. Als sie sich aber befreit weiß, derart daß sie ihr Geld nicht mehr wiedererkennen würde, in demselben Augenblick lenkt ein Spiel es wirklich vor sie hin, sie soll es forttragen. Wie denn? Mit ihren beiden Händen, die es nicht fassen, dem alten goldenen Beutel, der schon überläuft?
Sie ließ die nachgiebige Hutkrempe herabfallen, das Publikum ihrer bewunderten Abenteuer durfte an ihren Tränen so wenig teilhaben wie an ihren Gedanken. Wer sieht denn das, oder erfährt es mehr als einmal, die Vergeblichkeit des Glückes – das sie, nun es endlich eintraf, nicht mehr empfangen mochte. Was sie sah, war das Ende, in voller Gestalt das Ende. Es hatte sie unter allen Formen Leibes und der Seele lange begleitet: das war noch nichts. Ein Blutsturz war noch nichts.
Hier liegt es vor ihr und will genommen werden wie es ist, gezählt, gepackt, geschnürt. Das Ende bemüht sich auszusehen wie das Glück.