Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dialog am Boden

Der Keller hatte für die Prozession die richtigen Maße, nicht breit, dafür lang; schwer abzusehen, wann eine Pavane an ihr Ziel kommt. Man nehme als Ende nur den weiten Bogen der offenen Mauer, dahinter erst die Tanzfläche beginnt. Das Orchester ist vorgeschoben bis unter die Wölbung, deren Anstrich grüne Sonnen auf Goldgrund zeigt. Diesseits im Winkel ist ein leerer Tisch aufbewahrt, aber bis zu ihm war weit. Kaum daß Lydia, wie niemand sie nannte, des Dirigenten ansichtig wurde, obwohl gerade er sie erwartete.

Das hätte sie anderenfalls an seinem gespannten Gesicht bemerkt. Ein älteres Künstlergesicht, sie wird es wiedererkennen. Er wünschte natürlich festzustellen, wie die Pavane sich ausnahm. Das Schwein ohne Groll war dieser Noten ungewohnt, er selbst, mit äußerster Geistesgegenwart, hatte sie hervorgeholt und improvisiert. Von fern suchte er unter einem großen Hut ein kleines blasses Gesicht.

Léon Jammes, außerhalb des Reigens, ließ kein Auge von seinen Schützlingen. Alle waren es; nur soviel fragte er, wer auf dem Polizeirevier die Nacht beschließen wird. »Tout ce beau monde fut conduit au dépôt«, meldet dann die Zeitung; noch aber waren sie schön und führten einen edlen Tanz auf. Kobalt, die das Gelichter anführen mußte, tat ihm leid als dem Praktiker. Persönlich gerührt, soweit seine Zeit es erlaubte, war er von ihrem Glück: ein einmaliges, spätes, sie selbst verachtet es, weiß aber, daß Erfolg und Ruhm bedankt sein müssen, man ordne sich unter.

Inzwischen behielt der Umsichtige immer gegenwärtig, daß Kobalt bestohlen werden konnte – wie je, trotz der Unabkömmlichkeit des ersten Angeklagten X. Von ihm wußte man es genau; was aber stand, beispielsweise, zu erwarten von seinem alten Krapotnikoff, meinte Léon Jammes. Ein unerwarteter Stoß in die Augen des Chauffeurs, und fort war der Junge, vielleicht mit einem der glitzernden Mädchen, das hierhergehörte und die Irrwege des Kellers kannte. In der menschlichen Enge, bei der herrschenden Feierlichkeit konnte all und jede Überraschung gelingen. Leslie ist scheinbar vernünftig geworden, das beweist nichts gegen eine wirklich verführerische Gelegenheit.

Ein wenig lenkte dennoch der andere ihn ab, der gestürzte, abgerollte Comte X, am Boden unter den Füßen eines feindlichen Jünglings, der ihn nicht losließ, »Berthe ma jolie«, sagte er, »halte ihn. Der Präsident hat ihn zum Tode verurteilt.« Die Freundin trat, das Opfer wimmerte. »Was hab ich Ihnen getan, Madame. Sie werden es bereuen. Ihren Dummkopf stelle ich an die Mauer.« – »Oder ich Sie. Das wünscht sich Präsident Laplace. Die Bewegung kann nur Idealisten brauchen wie mich. Geschäftsmann ist er schon selbst.« Als der Jüngling dies gesprochen hatte, brach unter seinen Füßen ein Gekicher an, unheimlich zu vernehmen, noch mehr für einen Betrunkenen mit verminderter Kontrolle seiner Eindrücke. Das Erschrecken des Jünglings, Maurin hieß er, nahm zu, je länger der andere, eigentlich Lehideux, kicherte. Er hörte nicht auf. Einmal schien er den Namen des Präsidenten zu stammeln, aber es mißlang. Die Freundin schlug vor: »Laß ihn laufen. Er hat bei uns den Verstand verloren.«

Maurin bückte sich unter den Tisch, der nur ein Ständer mit winziger Platte war. Lehideux wurde geschüttelt vom Kichern, er schrie nicht mehr, wenn man ihn trat, dies empfanden sie als das schlimmste Zeichen. »Sollte es wahr sein?« fragte Berthe, perplex. Ihm wurde es leichter, an plötzlichen Wahnsinn zu glauben, er hatte das Gefühl für Gerechtigkeit – die unfehlbar ihren Augenblick ergreift. Der furchtbare Vorgang, der eine Jugend erschütterte, vollzog sich, dies war der Eindruck, unterirdisch. Droben auf der Welt schritt feierlich die Pavane.

Der faschistische, schon weniger betrunkene Jüngling wendete den Kopf hin: er träumte nicht, die Musik, unbeirrbar schön, trug auserwählte Menschen dahin, keine alltäglichen: auserwählt glückliche, offenbar nach Haltung und Gesicht. Die Frau an der Spitze bedeutet das Ideal selbst, noch unfaßbar, auch grundlos mag sein, aber man verehrt und folgt, wenn es das Gesicht der vornehmen Träume und ihr stolzer Gang ist. Mitlaufen dagegen, wo Diebe die Führung haben – auch Mörder, Lehideux ist beides, wer ihn anstellt ist Laplace –: mitgehangen werden ergäbe wenig Lohn für eine hochherzige Jugend. Maurin empört sich, während, nicht mehr unerwartet, sein trügerischer Glaube zusammenbricht. Es erleichtert ihn, die Füße wegzunehmen, Lehideux freizugeben. Was weiter aus ihm wird, bekümmert den Jüngling nicht mehr.

Er hatte sich für das Kriechen im Schutz der Tische und Stühle entschieden. Von der Mitte, wo der Hauptteil der Bevölkerung sich bewegte, sah man keinen Attentäter kriechen, er konnte sich getrost versprechen, daß er dennoch handeln werde. Das hielt auch Léon Jammes, der ihn natürlich sichtete, für ausgemacht. Indessen erlaubte er dem Geschlagenen, die entfernten Hintergründe aufzusuchen, die leere Tanzfläche, vielleicht die Küche, auch die Lavabos, jeden Platz, der Sicherheit bietet bis zum nächsten Anschlag.

Der junge Maurin und seine mütterliche Freundin wären hier bald uneins geworden – nicht wegen des abziehenden Gestörten, ihn hatten sie, dank ihrem Pernod, nicht ernstgenommen. Aber dem Jüngling fiel es ein, sich für Kobalt zu begeistern. Er nannte sie Madame de Trône, auf einmal kannte er nichts so Anheimelndes wie den historischen Adel des alten Europa. »In welchem Kaff steht ihre Burg?« fragte Berthe. Er konnte es nicht sagen. »Mais peu importe son patelin. Im ganzen Europa sind sie eine große Erinnerung. Veux-tu que je te dise? La noblesse du 4 août n'a pas brûlé des livres. Elle en avait écrit.« Er meinte den Adel von 1789, der gegen seine eigenen Vorrechte stimmte. Vielleicht erinnerte sie sich.

Dies hätte sie ihm hingehen lassen. Ihr mißfiel, daß er, umgerückt mit seinem Stuhl, kein Auge von der prominenten Frau wandte. Der Aufzug war am Ziel, er teilte sich, der Gegenstand der Huldigung wurde von Kopf bis Fuß sichtbar. »Avoue qu'elle est ridicule«, verlangte Berthe. Er verbesserte: »Elle veut bien l'être. Den Unterschied muß man fühlen. Sie läßt sich zu der Menge herab, sie genehmigt die Begriffe der Gemeinen und geht auf ihren Geschmack ein. Sie ist demütig. Begründeter Hochmut gelangt, ohne daß er sich aufgäbe, zur Demut.«

Die Gute sah seine Brust bewegt, seine Augen voll Tränen. »Ihr kleines blasses Gesicht«, stammelte er. – »Du bist berauscht.« – »Nicht mehr vom Alkohol.« – »Von deinen Ideen. Mehr ist es nicht. Tu n'aimerais pas coucher avec elle.« – »Ce n'est pas ça«, erklärte er. »Cette femme est la seule pour laquelle je consens à mourir.« Das war nun wirklich eine Zumutung an die bewährte Freundin: sterben wollen für eine andere. Er begriff es, er streichelte ihre Hand, die vom Erschrecken zuckte. Trostreich sprach er: »Essaie seulement de discerner les mobiles d'un fait aussi étrange.« – »Tu ne serais pas maboul?« schlug sie vor. Er verlangte, daß sie ihn verstände, sie nannte ihn übergeschnappt. Aber sie wußte wohl: es arbeitete in seiner Seele. Gerade dafür liebte sie ihn.

Auch für sie wird er sterben. Nach allen Katastrophen, wenn sein Land sich aufrichtet, wird derselbe Jüngling ein Kämpfer der Widerstandsbewegung sein. In Briançon, Basses-Alpes, genau: bei dem Obelisken des siegreichen Napoleon am höchsten Punkt der Straße nach Italien, gibt er dereinst sein törichtes, aber reines Leben. Er wird geehrt werden von ihr, die ihn kannte, von manchen, die sich seiner nur erinnern aus dem Cochon sans rancune, und von ungeahntem Volk. Hier und heute empfängt ihre öffentliche Weihe die Frau dort vorn, empfängt sie für weniger oder für mehr, wer sagt es.

Die Pavane verstummt, sie ist aus.


 << zurück weiter >>