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Wittekind, Anfang Juli 1868.
Hochverehrte Frau Geheimrätin,
auch wenn ich das entliehene Buch »Das entliehene Buch«, Briefe über Musik an meine Freundin, von Louis Ehlert. 2. Aufl. Berlin 1868. nicht zurückzuschicken hätte, würden Sie doch heute einen Brief von mir bekommen haben. Denn allzusehr hat mich dieser letzte Sonntag verpflichtet, ein Tag von solcher Anmut und Sonne, daß die Erinnerung an ihn das Beste ist, was ich aus Leipzig mit in mein einsames Bad gebracht habe. Wenn Sie aber einmal, ich weiß nicht durch welchen Genius geleitet, mir Ihre auszeichnende Teilnahme geschenkt haben, so müssen Sie auch geduldig die Folgen tragen, deren erste dieser heutige Brief sein mag.
Vorgestern mittag bin ich in dem anmaßlichen Badedorf, das sich Wittekind nennt, eingetroffen; es regnete stark, und die Fahnen, die man zum Brunnenfeste aufgesteckt hatte, hingen schlaff und schmutzig herab. Mein Wirt, ein unzweideutiger Gauner mit blauer undurchsichtiger Brille, kam mir entgegen und führte mich in das vor 6 Tagen gemietete Logis, das bis auf ein völlig verschimmeltes Sofa öde war wie ein Gefängnis. Alsbald wurde mir auch deutlich, daß derselbe Wirt für zwei Häuser voller Gäste, also vielleicht für 20-40 Personen, nur Ein Dienstmädchen im Sold habe. Die nächste Stunde brachte mir schon einen Besuch, aber einen so unangenehmen, daß ich ihn nur durch energische Höflichkeit von mir abschütteln konnte. Kurz die ganze Atmosphäre, in die ich trat, war frostig, regnerisch und verdrießlich.
Gestern habe ich etwas die Natur und die Menschheit des Ortes rekognosziert. Bei Tisch wurde mir das Glück zuteil, in der Nähe eines taubstummen Herrn und einiger wunderbar geformten Frauengestalten zu sitzen. Die Gegend scheint nicht übel; aber vor Regen und Feuchtigkeit kann man keinen Schritt vorwärtsgehen und sehen. Volkmann hat mich besucht und mir die hiesigen Bäder verordnet, im übrigen eine Operation in nahe Aussicht gestellt. – »Operation in nahe Aussicht«. Nietzsche hatte sich als Soldat infolge eines unglücklichen Sprunges auf sein Pferd eine innere Verletzung zugezogen, deren Heilung nur langsam fortschritt; er konsultierte am 25. Juni 1868 den berühmten Chirurgen Volkmann in Halle, der ihm riet, seine Verletzung in Bad Wittekind bei Halle auszuheilen. Schließlich mußte er sich auch noch einem operativen Eingriff unterziehen. Vgl. Biogr. I S. 268 ff.
Wie danke ich Ihnen, daß Sie mir das Buch Ehlerts mitgaben, ein Buch, das ich am ersten Abend, bei kläglicher Beleuchtung, auf dem Schimmelsofa las und mit Vergnügen und innerer Erwärmung las. Böse Menschen könnten sagen, daß das Buch aufgeregt und schlecht geschrieben sei. Aber das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen; im Grunde ist es Musik, die zufällig nicht mit Noten, sondern mit Worten geschrieben ist. Ein Maler muß die peinlichste Empfindung bei diesem Bildertrödel haben, der ohne jede Methode zusammengeschleppt ist. Aber ich habe leider Neigung für das Pariser Feuilleton, für Heines Reisebilder usw. und esse ein Ragout lieber als einen Rinderbraten. Was hat es mich für Mühe gekostet, ein wissenschaftliches Gesicht zu machen, um nüchterne Gedankenfolgen mit der nötigen Dezenz und alla breve niederzuschreiben. Davon weiß Ihr Herr Gemahl auch ein Lied zu singen (nicht nach der Melodie »Ach lieber Franz, noch« usw., »Nicht nach der Melodie ›Ach lieber Franz‹ ...«, ein Lied, das Ritschl in heiterer Laune in Erinnerung an seine Jugend gern sang. der sich sehr über den völligen Mangel an »Stil« gewundert hat. Schließlich ging es mir wie dem Seemann, der auf dem Lande sich unsicherer fühlt als im bewegten Schiff. Vielleicht finde ich aber einmal einen philologischen Stoff, der sich musikalisch behandeln läßt, und dann werde ich stammeln wie ein Säugling und Bilder häufen wie ein Barbar, der vor einem antiken Venuskopfe einschläft, und trotz der »blühenden Eile« »Blühende Eile«, eine Wendung aus dem Buche von Ehlert.der Darstellung – recht haben.
Und recht hat Ehlert fast allerwärts. Aber vielen Menschen ist die Wahrheit in dieser Harlekinjacke unkenntlich. Uns nicht, die wir kein Blatt dieses Lebens für so ernst halten, in das wir nicht den Scherz als flüchtige Arabeske hineinzeichnen dürften. Und welcher Gott darf sich wundern, wenn wir uns gelegentlich wie Satyrn gebärden und ein Leben parodieren, das immer so ernst und pathetisch blickt und den Kothurn am Fuße trägt?
Daß es mir doch nicht gelingt, meine Neigung zum Mißklang vor Ihnen zu bergen! Nicht wahr, Sie haben davon schon eine erschreckliche Probe? Hier haben Sie die zweite. Die Pferdefüße Wagners und Schopenhauers lassen sich schlecht verstecken. Doch ich werde mich bessern. Und wenn Sie mir wieder einmal etwas zu spielen erlauben sollten, so werde ich meine Erinnerung an den schönen Sonntag in Töne formen, und Sie sollen hören, wie Sie es heute lesen, wie hoch diese Erinnerung gilt einem schlechten Musikanten usw.
Friedrich Nietzsche.