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Naumburg, 2. Oktober 1879.
Gestern vormittag lief meine Karte an Sie, lieber Freund, ab, und drei Stunden später hatte ich wieder neue Beweise Ihrer unermüdlichen Güte für mich in den Händen. Könnte ich nur nun auch Ihren Wünschen entsprechen! »Doch Gedanken stehn zu fern«, wie Tieck singt. Tieck: »Liebe denkt in süßen Tönen, denn Gedanken stehn zu fern.« Sie glauben nicht, wie getreu ich bis jetzt das Programm der Gedankenlosigkeit durchgeführt; und ich habe Gründe, hier treu zu sein, denn »hinter dem Gedanken steht der Teufel« »hinter dem Gedanken steht der Teufel«, Variation des spanischen Sprichworts Detras de la cruz está el diablo.eines wütenden Schmerzanfalls. Das Manuskript, welches Sie von St. Moriz aus bekamen, ist so teuer und schwer erkauft, daß vielleicht um diesen Preis niemand es geschrieben haben würde, der es hätte vermeiden können. Mir graut jetzt öfter beim Lesen, namentlich der längeren Abschnitte, der häßlichen Erinnerung halber. – Alles ist, wenige Zeilen ausgenommen, unterwegs erdacht und in 6 kleine Hefte mit Bleistift skizziert worden: das Umschreiben bekam mir fast jedesmal übel. Gegen 20 längere Gedankenketten, leider recht wesentliche, mußte ich schlüpfen lassen, weil ich nie Zeit genug fand, sie aus dem schrecklichsten Bleistiftgekritzel herauszuziehen: so wie es mir schon vorigen Sommer gegangen ist. Hinterher verliere ich den Zusammenhang der Gedanken aus dem Gedächtnis: ich habe eben die Minuten und Viertelstunden der »Energie des Gehirns«, von der Sie sprechen, zusammenzustehlen, einem leidenden Gehirne abzustehlen. Einstweilen scheint es mir, als ob ich nie wieder es tun werde. Ich lese Ihre Abschrift, und es wird mir so schwer, mich selber zu verstehen – so müde ist mein Kopf.
Das Sorrentiner Manuskript »Das Sorrentiner Manuskript«, Gast hatte die Vermutung ausgesprochen, dieses Manuskript müsse noch manches enthalten, das in »Der Wanderer und sein Schatten« aufgenommen werden könne, und hatte sich zum Entziffern desselben erboten; die betreffenden Stellen sind jetzt in Bd. XI der Gesamtausgabe enthalten. hat der Teufel geholt; mein Umzug und endgiltiges Verlassen Basels hat in manchen Dingen sehr gründlich aufgeräumt – mir eine Wohltat, denn solche alte Manuskripte sehen mich wie Schuldner an.
Lieber Freund, über Luther bin ich nach längerer Zeit außerstande, in ehrlicher Weise etwas Verehrendes zu sagen: die Nachwirkung einer mächtigen Materialsammlung über ihn, auf die mich Jakob Burckhardt aufmerksam machte. Ich meine Janssen, »Geschichte des deutschen Volkes« Band II, in diesem Jahre erst erschienen (ich besitze es). Hier redet einmal nicht die verfälschte protestantische Geschichtskonstruktion, an welche wir zu glauben angelernt worden sind. Augenblicklich scheint es mir nichts mehr als Sache des nationalen Geschmacks in Norden und Süden, daß wir Luther als Menschen dem Ignaz Loyola vorziehen! Die gräßliche hochmütige gallig-neidische Schimpfteufelei Luthers, dem gar nicht wohl wurde, wenn er nicht vor Wut auf jemanden speien konnte, hat mich zu sehr angeekelt. Gewiß haben Sie recht mit der »Förderung der europäischen Demokratisierung« durch Luther, aber gewiß war dieser rasende Bauern feind (der sie wie tolle Hunde totschlagen hieß und eigens den Fürsten zurief, jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmelreich erwerben) einer der unfreiwilligsten Förderer derselben. – Übrigens sind Sie in der billigeren Stimmung gegen ihn. Geben Sie mir Zeit! – Für die anderen Hindeutungen auf Lücken meiner Gedankenreihen sage ich Ihnen ebenso Dank, nur einen ganz ohnmächtigen Dank! Ach, hier denke ich eben wieder an meine »Wünsche der Wünsche«. Nein, ich dachte mir neulich den Freund Gast nicht als eigentlichen Schriftsteller, es gibt so viele Arten von dem inneren Zustande und Gesund- und Reifwerden Zeugnis abzulegen. Zunächst für Sie den Künstler! Hinter Äschylus kam ein Sophokles! Deutlicher möchte ichs nicht sagen, was ich hoffe. – Und um einmal auch über Sie als Kopf und Herz ein aufrichtiges Wort zu sagen: welchen Vorsprung haben Sie vor mir, die Jahre abgerechnet und was die Jahre mit sich bringen! Aufrichtig nochmals, ich halte Sie für besser und für begabter als ich bin und folglich auch für verpflichteter. – In Ihrem Lebensalter trieb ich mit größtem Eifer Untersuchungen über die Entstehung eines Lexikons »Entstehung eines Lexikons«, das des Suidas aus Hesychius Milesius, Demetrius Magnes u. a. des 11. Jahrhunderts post Chr. und über die Quellen des Laertius Diogenes und hatte keinen Begriff von mir, als ob ich ein Recht hätte, eigne allgemeine Gedanken zu haben und gar vorzutragen. Noch jetzt überfällt mich das Gefühl der kläglichsten Neulingschaft; mein Alleinsein, mein Kranksein hat mich etwas an die »Unverschämtheit« meiner Schriftstellerei gewöhnt. Aber andere müssen alles besser machen, mein Leben sowohl als mein Denken. – Antworten Sie nicht hierauf.
In wahrhaft treuer Liebe
Ihr
auf Sie hoffender Freund N.