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94. An Erwin Rohde.

Genua, 24. März 1881.

So läuft nun das Leben dahin und davon, und die besten Freunde hören und sehen nichts voneinander! Ja das Kunststück ist nicht gering: zu leben und nicht mißmutig zu werden! Wie oft bin ich in dem Zustande, wo ich gerne bei meinem alten, rüstigen, blühenden, tapferen Freunde Rohde eine Anleihe machen möchte, wo ich eine »Transfusion« von Kraft, nicht von Lammblut, sondern von Löwenblut, recht vonnöten hätte, – aber da steckt er in Tübingen, in Büchern und im Ehestande, für mich in allen Beziehungen unerreichbar. Ach, Freund, so muß ich denn fort und fort vom »eignen Fette« leben: oder, wie jeder weiß, der dies einmal recht versucht hat, vom eignen Blute trinken! Da gilt es sowohl den Durst nach sich selber nicht verlieren, als auch sich nicht auszutrinken.

Im ganzen bin ich aber erstaunt, um es Dir zu gestehen, – wieviel Quellen der Mensch in sich fließen lassen kann. Selbst einer, wie ich, der nicht zu den Reichsten gehört. Ich glaube, wenn ich alle die Eigenschaften besäße, die Du vor mir voraus hast, ich würde übermütig und unausstehlich. Schon jetzt gibt es Augenblicke, wo ich auf den Höhen über Genua mit Blicken und Empfindungen herumwandele, wie sie von eben hier aus vielleicht einmal der selige Kolumbus auf das Meer und auf alle Zukunft hinausgesandt hat.

Nun, mit diesen Augenblicken des Mutes und vielleicht sogar der Narrheit muß ich mein Lebensschiff wieder ins Gleichgewicht zu bringen suchen. Denn Du glaubst nicht, wieviel Tage und wieviel Stunden selbst an erträglichen Tagen – überstanden werden müssen, um nicht mehr zu sagen. Soweit man mit »Weisheit« der Lebenspraxis einen schwierigen Zustand der Gesundheit erleichtern und mildern kann, tue ich wahrscheinlich alles, was man in meinem Falle tun kann – ich bin darin weder gedanken- noch erfindungslos –, aber ich wünsche niemandem das Los, an welches ich anfange mich zu gewöhnen, weil ich anfange zu begreifen, daß ich ihm gewachsen bin.

Aber Du, mein teurer, lieber Freund, bist nicht in einer solchen Klemme, wo man sich dünn machen muß, um gerade sich durchzuwinden; Overbeck ist es auch nicht, Ihr tut Eure schöne Arbeit, und ohne viel davon zu sprechen, vielleicht ohne viel daran zu denken, habt Ihr alles Gute vom Mittage des Lebens – und ein wenig Schweiß dazu, wie ich vermute. Wie gerne hörte ich ein Wort von Deinen Plänen, von großen Plänen – denn mit einem solchen Kopfe und Herzen, wie Du hast, trägt man hinter all der täglichen und vielleicht kleinen Arbeit, irgend etwas Umfängliches und sehr-Großes mit sich herum – wie sehr würdest Du mich erquicken, wenn Du mich solcher Mitteilungen nicht für unwürdig hieltest! Solche Freunde, wie Du, müssen mir helfen, den Glauben an mich in mir selber aufrechtzuerhalten; und das tust Du, wenn Du mich für Deine besten Ziele und Hoffnungen zum Vertrauten behältst. – Wenn sich unter diesen Worten die Bitte um einen Brief verbergen sollte, nun ja! liebster Freund, ich hätte gerne etwas recht, recht Persönliches von Dir wieder einmal in Händen – damit ich nicht immer nur den vergangenen Freund Rohde im Herzen empfinde, sondern auch den gegenwärtigen und – was mehr ist – den werdenden und wollenden: ja den werdenden! den wollenden!

Von Herzen der Deine.

Sage Deiner lieben Frau ein Wort zu meinen Gunsten: sie soll nicht böse sein, daß ich sie immer noch nicht kenne: irgendwann einmal mache ich alles gut.

Adr.: Genova (Italia),
poste restante


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