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Nizza, 24. November 1887.
Lieber Freund,
ich genieße diesen Morgen eine große Wohltat: zum ersten Male steht ein »Feuergötze« in meinem Zimmer: ein kleiner Ofen – ich bekenne, daß ich um ihn herum bereits einige heidnische Sprünge gemacht habe. Die Zeit bis heute war eine blaufingrige Fröstelei, bei der auch meine Philosophie nicht auf den besten Füßen stand. Es ist schlecht erträglich, wenn man im eignen Zimmer den eiskalten Anhauch des Todes spürt, – wenn man sich nicht auf sein Zimmer wie auf seine Burg zurückziehen kann, sondern nur wie in sein Gefängnis zurückgezogen wird –. Der Regen floß stromweise die letzten zehn Tage: man hat berechnet, daß auf einen Quadratmeter 208 Liter Wasser gefallen sind. Der Oktober war der kälteste, den ich bisher erlebte, der November der regenreichste. Nizza ist noch ziemlich leer; doch sind wir 25 Personen bei Tische, freundliche und wohlwollende Menschlein, gegen die nichts einzuwenden ist.
Inzwischen hat nur Overbeck geschrieben, voll Freude über den »Hymnus« »Hymnus« ist Nietzsches Komposition »Hymnus an das Leben« wozu Gast die Chorbegleitung für Orchester ausgearbeitet hatte. und seine »schöne, ungemein eindringliche und würdevolle Weise«; (»mir kommt Deine jetzige Musik außerordentlich einfach vor«). Er hebt den »prachtvollen, wiederum so sprechenden Akzent auf dem ersten ›Pein‹« heraus und »die mir fast noch mehr ins Herz klingende Beschwichtigung der Schlußtakte«. – Freund Krug (der mich übrigens bittet, den Justizrat in Regierungsrat »umzuwerten« –) spricht von »tiefer Rührung bis zu Tränen«. »Ich hoffe bestimmt, daß der Chor hier aufgeführt wird ... Die Instrumentation ist vortrefflich, soweit ich beurteilen kann. Sie zeigt eine angenehme Steigerung und Abwechselung bei weiser Mäßigung, wie z. B. auf S. 8, wo die Worte ›und in der Glut des Kampfes‹ durch das Tremolo der Bratschen und die Tenorposaune mit nachfolgender p-Fanfare der Trompete nur leise gedeutet werden. Schön wird sich auch S. 6 und 10 die zart herabsteigende Flöte ausnehmen« usw., usw. –
– Daß Gluck zu seinen ersten Anhängern Rousseau gehabt hat, gibt zu denken: mir wenigstens ist alles, was dieser Mensch geschätzt hat, ein wenig fragezeichenwürdig; insgleichen alle, die ihn geschätzt haben (– es ist eine ganze Familie Rousseau, dahin gehört auch Schiller, zum Teil Kant; in Frankreich George Sand, sogar Sainte-Beuve; in England die Eliot usw.). Jedermann, der »die moralische Würde« nötig gehabt hat, faute de mieux, hat zu den Verehrern Rousseaus gehört, bis auf unsern Liebling Dühring hinab, der den Geschmack hat, sich in seiner Selbstbiographie geradezu als Rousseau des neunzehnten Jahrhunderts zu präsentieren. (Bemerken Sie, wie jemand sich zu Voltaire und Rousseau verhält: es macht den tiefsten Unterschied, ob er zum ersten Ja sagt oder zum zweiten. Die Feinde Voltaires (z. B. Victor Hugo, alle Romantiker, selbst die letzten Raffinierten der Romantik, wie die Gebrüder Goncourt) sind allesamt gnädig gegen den maskierten Pöbelmann Rousseau – ich argwöhne, daß auf dem Grunde der Romantik selbst etwas von pöbelhaftem Ressentiment zu finden ist ...) Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche canaille; aber ich bin der Meinung Galianis:
»un monstre gai vaut mieux
qu'un sentimental ennuyeux«.
»un monstre gai ...«, der Vers ist nicht von Galiani, sondern von Voltaire selbst. Er wird von Nietzsche auch in der Umwertung zitiert, Taschenausgabe Bd. IX S. 31 und 71.
Voltaire ist nur auf dem Boden einer vornehmen Kultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann ... –
Sehen Sie, welche warmen Gefühle, welche »Toleranz« bereits mein Ofen in mich überzuströmen beginnt ... Bitte, lieber Freund, halten Sie sich diese Aufgabe gegenwärtig, Sie kommen nicht um dieselbe herum: Sie müssen in rebus musicis et musicantibus die strengeren Prinzipien wieder zu Ehren bringen, durch Tat und Wort, und die Deutschen zu dem Paradoxon verführen, das nur heute paradox ist: daß die strengeren Prinzipien und die heitere Musik zusammengehören ...
Treulich und dankbar
Ihr Freund N.