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73. An Erwin Rohde.

Rosenlauibad, 28. August 1877.

Lieber, lieber Freund,

wie soll ich es nur nennen – immer wenn ich an Dich denke, überkommt mich eine Rührung; und als mir neulich jemand schrieb: »Rohdens junge Frau ein höchst liebliches Wesen, dem die edle Seele aus allen Zügen hervorleuchtet«, da habe ich sogar Tränen vergossen, ich weiß gar keinen haltbaren Grund dafür anzugeben. Wir wollen einmal die Psychologen fragen; die bringen am Ende heraus, es sei der Neid, daß ich Dir Dein Glück nicht gönne, oder der Ärger darüber, daß mir jemand meinen Freund entführt habe und nun Gott weiß wo in der Welt, am Rhein oder in Paris, verborgen halte und ihn gar nicht wieder herausgeben wolle! Als ich neulich meinen »Hymnus an die Einsamkeit« »Hymnus an die Einsamkeit«, die Aufzeichnungen darüber sind verloren gegangen. im Geiste mir vorsang, war es mir plötzlich, als ob Du meine Musik gar nicht möchtest und durchaus ein Lied auf die Zweisamkeit verlangtest: am Abend darauf spielte ich auch eins, so gut ich es verstand, und es gelang mir: so daß alle Englein mit Vergnügen hatten zuhören können, die menschlichen Englein zumal. Aber es war in einer finstern Stube, und niemand hörte es: so muß ich Glück und Tränen und alles in mich verschlucken.

Soll ich Dir von mir erzählen? Nie ich immer, schon zwei Stunden bevor die Sonne in die Berge kommt, unterwegs bin, und dann namentlich in den langen Schatten des Nachmittags und Abends? Wie ich mir vielerlei ausgedacht habe und mir so reich vorkomme, nachdem dies Jahr mir endlich einmal erlaubt hat, die alte Moosschicht täglichen Lehr- und Denk zwanges einmal abzuheben? So wie ich hier lebe, ertrage ich es selbst mit allen Schmerzen, die mir freilich auch auf die Höhe gefolgt sind, – aber dazwischen gibt es so viele glückliche Erhebungen des Gedankens und der Empfindung.

Ganz neuerdings erst erlebte ich durch den »Entfesselten Prometheus« »Der entfesselte Prometheus«, von Siegfried Lipiner, Leipzig, Breitkopf & Härtel 1876. einen wahren Weihetag. Wenn der Dichter nicht ein veritables »Genie« ist, so weiß ich nicht mehr, was eins ist: alles ist wunderbar, und mir ist, als ob ich meinem erhöhten und verhimmlischten Selbst darin begegnete. Ich beuge mich tief vor einem, der so etwas in sich erleben und herausstellen kann.

In drei Tagen gehe ich nach Basel zurück. Meine Schwester ist dort bereits mit Einrichten tüchtig beschäftigt.

Der treue Musiker P. Gast zieht in meine Behausung und will die Dienste eines hilfreichen Schreiber-Freundes übernehmen.

Mir graut etwas vor diesem Winter; es muß anders werden. Jemand, der täglich nur wenig Zeit für seine Hauptsachen und fast alle Zeit und Kraft für Pflichten auszugeben hat, die andre so gut besorgen können wie er – ein solcher ist nicht harmonisch, mit sich im Zwiespalt, – er wird endlich krank. Wenn ich Wirkung auf die Jugend habe, so verdanke ich sie meinen Schriften, und diese meinen abgestohlenen Stunden, ja den durch Krankheit eroberten Interimszeiten zwischen Beruf und Beruf. – Nun, es wird anders: si male nunc, non olim sic erit. »si male nunc, non olim sic erit«, Horaz Od. II 7, 17f. vgl. zu S. 59. Inzwischen möge das Glück meiner Freunde wachsen und blühen: es tut mir immer herzlich wohl, an Dich zu denken, mein geliebter Freund (ich sehe Dich eben an einem rosenumgrenzten See und einen schönen weißen Schwan auf Dich zuschwimmen).

In brüderlicher Liebe
Dein F.


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