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72. An Freiherrn von Gersdorff.

Basel, 13. Dezember 1875.

Gestern, mein geliebter Freund, kam Dein Brief und heute morgen, recht am Beginn einer schweren Arbeitswoche, Deine Bücher: »Deine Bücher«, Gersdorff hatte Nietzsche das dreibändige Werk von Otto Böhtlingk: »Indische Sprüche« geschenkt. da soll man schon guten Mutes bleiben, wenn man so teilnehmende, liebevolle Freunde hat! Wirklich, ich bewundere den schönen Instinkt Deiner Freundschaft – der Ausdruck klingt Dir hoffentlich nicht zu tierisch –, daß Du gerade auf diese indischen Sprüche verfallen mußtest, während ich mit einer Art von wachsendem Durst mich gerade in den zwei letzten Monaten nach Indien umsah. Ich entlieh von dem Freunde Schmeitzners, Herrn Widemann, die englische Übersetzung der Sutta Nipäta, etwas aus den heiligen Büchern der Buddhaisten; und eins der festen Schlußworte einer Sutta habe ich schon in Hausgebrauch genommen: »so wandle ich einsam wie das Rhinozeros«. »so wandle ich einsam wie das Rhinozeros« vgl. »Morgenröthe« Aph. 469. Die Überzeugung von dem Unwerte des Lebens und dem Truge aller Ziele drängt sich mir oft so stark auf, zumal wenn ich krank zu Bette liege, daß ich verlange, davon etwas mehr zu hören, aber nicht verquickt mit den jüdisch-christlichen Redensarten: gegen die ich mir irgendwann einen Ekel angegessen habe, so daß ich mich vor Ungerechtigkeit in acht zu nehmen habe. Wie es nun mit dem Leben steht, magst Du auch aus beiliegendem Briefe des unsäglich leidenden Freundes Nohde ersehen; man soll sein Herz nicht an dasselbe hängen, das ist klar, und doch worin kann man es aushalten, wenn man wirklich nichts mehr will! Ich meine, das Erkennen-Wollen bleibe als letzte Region des Lebens-Willens übrig, als ein Zwischenbereich zwischen Wollen und Nichtmehrwollen, ein Stück Purgatorium, soweit wir auf das Leben unbefriedigt und verachtend zurückblicken, und ein Stück Nirwana, insofern die Seele dadurch dem Zustande reinen Anschauens nahe kommt. Ich übe mich darin, die Hast des Erkennen-Wollens zu verlernen; daran leiden ja die Gelehrten alle, und darüber entgeht ihnen die herrliche Beruhigung aller gewonnenen Einsicht. Nur bin ich immer noch etwas zu straff zwischen die verschiedenen Anforderungen meines Amtes eingespannt, als daß ich nicht allzuoft, wider Willen, in jene Hast geraten müßte: allmählich will ich mir schon alles zurechtrücken. Dann wird auch die Gesundheit beständiger werden; die ich nicht eher erlange, bis ich sie auch verdiene, bis ich den Zustand meiner Seele gefunden habe, der der mir gleichsam verheißene ist, der Gesundheitszustand derselben, wo sie nur noch den einen Trieb, das Erkennen-Wollen, übrigbehalten hat und sonst von Trieben und Begehrungen frei geworden ist. Ein einfacher Haushalt, ein ganz geregelter Tageslauf, keine aufreizende Ehrsucht oder Geselligkeitssucht, das Zusammenleben mit meiner Schwester (wodurch alles um mich herum so ganz Nietzschisch ist und sonderbar beruhigt wird), das Bewußtsein, ganz ausgezeichnete liebevolle Freunde zu haben, der Besitz von 40 guten Büchern aus allen Zeiten und Völkern (und von noch mehreren nicht gerade schlechten), das unwandelbare Glück, in Schopenhauer und Wagner Erzieher, in den Griechen die täglichen Objekte meiner Arbeit gefunden zu haben, der Glaube, daß es mir an guten Schülern von jetzt an nicht mehr fehlen wird – das macht jetzt mein Leben. Leider kommt die chronische Quälerei hinzu, die mich alle zwei Wochen fast zwei ganze Tage, mitunter noch länger packt – nun, das soll einmal ein Ende haben.

Später einmal, wenn Du Dein Haus sicher und wohlbedacht gegründet hast, wirst Du auch auf mich als einen länger weilenden Feriengast rechnen können; ich erquicke mich öfter mit der Vergegenwärtigung Deines späteren Lebens und denke, daß ich Dir auch noch einmal in Deinen Söhnen nützen kann. Wir haben nun, alter treuer Freund Gersdorff, ein gutes Stück Jugend, Erfahrung, Erziehung, Neigung, Haß, Bestrebung, Hoffnung miteinander bis jetzt gemein gehabt, wir wissen, daß wir uns von Herzen freuen, auch nur beieinander zu sitzen, ich glaube, wir brauchen uns nichts zu versprechen und geloben, weil wir einen recht guten Glauben zueinander haben. Du hilfst mir, wo Du kannst, das weiß ich aus Erfahrung; und ich denke bei allem, was mich freut: »wie wird sich Gersdorff dabei freuen!« Denn, um Dir dies zu sagen, Du hast die herrliche Fähigkeit zur Mitfreude; ich meine, sie ist selbst seltener und edler als die des Mitleidens.

Nun lebe wohl und gehe in Dein neues Lebensjahr hinüber als der, welcher Du im alten warst, ich weiß Dir sonst nichts zu wünschen. Als solcher hast Du Deine Freunde erworben; und wenn es noch gescheute Weiber gibt – dann wirst Du nicht mehr lange

»einsam wandeln wie das Rhinozeros«.

Treugesinnt der Deine
Friedrich Nietzsche.

Herzliche Grüße und Glückwünsche meiner Schwester. Meine Empfehlungen an Deinen verehrten Vater. Ich schickte Dir Rütimeyers Programm, »Rütimeyers Programm«: »Über Pliocen und Eisperioden auf beiden Seiten der Alpen«, Universitätsprogr. Basel 1875. 56 S. hoffentlich kam es an.


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