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143. An Paul Deussen.

Nizza (France), Pension de Genève,
3. Januar 1888.

Lieber Freund,

das Jahr hat begonnen, ich schreibe eben zum ersten Male seine drei Achten: was kann ich zu seinen Ehren Besseres tun, als meinem alten Freunde Deussen einen Neujahrsbrief zu schreiben? Zumal derselbe in diesem Falle auch zugleich ein Geburtstagsbrief sein wird.

Wie alt man schon ist? Wie jung man noch werden wird? ...

Ich habe einen so hohen Begriff von Deiner tätigen und tapferen Existenz, daß es wenig Sinn hat, besondre Wünsche auszudrücken. Wer einen eigenen Willen in die Dinge zu legen hat, über den werden die Dinge nicht Herr; zuletzt arrangieren sich die Zufälle noch nach unsern eigentlichsten Bedürfnissen. Ich erstaune oft, wie wenig die äußerste Ungunst des Schicksals über einen Willen vermag. Oder vielmehr: ich sage mir, wie sehr der Wille selbst Schicksal sein muß, daß er immer wieder auch gegen das Schicksal Recht bekommt, ὑπὲρ μόρον

Seltsam, daß gerade jetzt mir meine ältesten Freunde wieder in die Nähe gekommen sind (außer Dir zum Beispiel auch Karl von Gersdorff, von dem ich jüngst einen herrlichen Brief hatte). Nämlich zu gleicher Zeit, wo ich meiner radikalen Vereinsamung mir bewußt werde und wo ich, schmerzhaft und ungeduldig, eine menschliche Beziehung nach der andern von mir ablöse, ablösen muß. Im Grunde macht jetzt alles Epoche bei mir; mein ganzes Bisher bröckelt von mir ab; und wenn ich zusammenrechne, was ich in den letzten zwei Jahren überhaupt getan habe, so erscheint es mir jetzt immer als ein und dieselbe Arbeit: mich von meiner Vergangenheit zu isolieren, die Nabelschnur zwischen mir und ihr zu lösen. Ich habe so viel erlebt, gewollt und, vielleicht, erreicht, daß eine Art Gewalt not tut, um wieder fern und los davon zu werden. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war ungeheuer; daß dies ungefähr auch aus der Ferne bemerkbar ist, erschließe ich aus den regulären epithetis ornantibus, mit denen man mich seitens der deutschen Kritik behandelt (»exzentrisch«, »pathologisch«, »psychiatrisch«, et hoc genus omne). Diese Herren, die keinen Begriff von meinem Zentrum, von der großen Leidenschaft haben, in deren Diensten ich lebe, werden schwerlich einen Blick dafür haben, wo ich bisher außerhalb meines Zentrums gewesen bin, wo ich wirklich »exzentrisch« war. Aber was liegt daran, daß man sich über mich und an mir vergreift! Schlimmer wäre es, wenn mans nicht täte (– es würde mich mißtrauisch gegen mich selber machen).

Jetzt begehre ich für eine Reihe Jahre nur eins: Stille, Vergessenheit, die Indulgenz der Sonne und des Herbstes für etwas, das reif werden will, für die nachträgliche Sanktion und Rechtfertigung meines ganzen Seins (eines sonst aus hundert Gründen ewig problematischen Seins!)

Für alles, was Du Deinerseits vorhast, habe ich, wie Du weißt, eine tiefe Sympathie. Auch gehört es zu den wesentlichsten Förderungen meiner Vorurteilslosigkeit (meines »übereuropäischen Auges«), daß Dein Sein und Wirken mich immer wieder an die einzige große Parallele erinnert, die es zu unsrer europäischen Philosophie gibt. Hier in Frankreich herrscht in betreff dieser indischen Entwicklung noch immer die alte vollkommene Unwissenheit: so daß z. B. die Anhänger A. Comtes ganz naiv Gesetze für eine historisch- notwendige Entwicklung und Folge der philosophischen Hauptdifferenzen konstruieren, bei denen die Inder gar nicht in Betracht kommen, – Gesetze, denen die indische Entwicklung widerspricht. Aber das weiß Msr. de Roberty »Msr. de Roberty«, »L'ancienne et la nouvelle philosophie; essai sur les lois générales du développement de la philosophie. Paris 1887.« nicht ( l'ancienne et la nouvelle philosophie, 1887).

Gib mir irgendwann einmal wieder ein Lebenszeichen, alter Freund; inzwischen empfehle ich, gesetzt, daß Du Lust und Zeit hast, Dich mit mir zu unterhalten, Dir etwas von meiner Immoralisten-Literatur zu Gemüte zu führen (besonders »Die fröhliche Wissenschaft« und die »Morgenröte«, wohlverstanden in den neuen Ausgaben: – auch gibt es da dies und jenes zu lachen).

Deiner lieben Frau, welche mir mit ihrer kleinen tapfern und treuen Art sehr gut im Gedächtnis geblieben ist, meinen ergebensten Gruß und Glückwunsch.

Von Herzen
Dein Nietzsche.

Mein Wunsch, den Winter einmal wieder an einer gelehrten Stätte Deutschlands zu verleben mit der Nachbarschaft guter Freunde und Bücher (ein Wunsch, der in Hinsicht auf die Ernährungsbedürfnisse meines Geistes sich bisweilen zum Hunger und zur Tortur steigert), ist bisher immer an der force majeure (oder mineure –) meiner Gesundheit gescheitert. Aber »einst wird kommen der Tag« »einst wird kommen der Tag«, Homer, Il. VI 448 f. σεται ἦμαρ, ὅτ' ἄν ποτ' ὀλώλη 'Ίλιος ἵρη, ϰαὶ Πρίαμος ϰαὶλαὸς ἐυμμελίω Πρίάμοιο. – – –


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